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24

In den großen Städten geht man von der Ansicht aus, es gebe in kleinen Städten aber auch ganz und gar nichts von großen Ereignissen. Das ist eine verfehlte und kränkende Ansicht, denn es gibt da wahrhaftig Bankerott, Betrug, Mord und Skandal gerade so gut wie in der großen Welt. Allerdings schickt die Zeitung des Ortes keine Extrablätter darüber aus; aber jede Neuigkeit verbreitet sich sicher und rasch von den Brunnen her und dringt bis in das engste Kämmerlein. War in der ganzen Küstenstadt wohl noch irgendein Mensch vorhanden, der in der Frühe des nächsten Morgens noch nichts von dem Postraub gewußt hätte? Höchstens konnten es vielleicht Grütze-Olsens sein, denn das waren Leute, die lange liegen blieben und häufig im Bett frühstückten.

Und so wenig den Kleinstädten die aufregenden Ereignisse fehlen, ebensowenig fehlt es ihnen an Abwechslung darin. Kleinstädter haben die nötige Abwechslung in den Ereignissen vollauf. Sollten sie vielleicht darauf angewiesen sein, mit einem Postraub zu leben und zu sterben? Dann hätte diese Neuigkeit nicht so rasch aufgehört, eine berühmte Sache zu sein. Der Doktor erhielt sie noch am längsten am Leben, denn sie ließ ihn gewissermaßen dem vernichteten Postmeister gegenüber als Sieger dastehen, aber es dauerte nicht lange, bis es den Leuten überdrüssig wurde, sie zu erörtern.

Was war das Ende davon? Es gab überhaupt kein Ende, es kam gar kein Zug in die Sache. Der alte oder junge Mann, der Englisch sprach und vielleicht eine Maske trug, aber jedenfalls keinen Regenschirm hatte, dieser wahrscheinliche Verbrecher war nicht zu finden. Es wurde an das englische Schiff telegraphiert, allein das hatte in Norwegen bereits geladen und war auf dem Weg nach irgendeinem heimatlichen Hafen. Auch dorthin wurde telegraphiert, und als das Schiff ankam, ward auch eine Art Verhör abgehalten, aber das führte zu nichts. Natürlich kam es an den Tag, daß Adolf Adolf war, ein Schmiedsohn, norwegischer Matrose; aber er war in England verheiratet und dort ansässig, so war er auf einer englischen Schute von der englischen Flagge vollständig geschützt. Außerdem war sein Kapitän ein frommer Mann.

Auch der zweite Steuermann entpuppte sich als Norweger, Sohn eines Postmeisters in einer näher bezeichneten kleinen Stadt, unverheiratet, mit ausgezeichnetem Leumund über vorzügliches Betragen, auf ihm ruhte kein Verdacht – der Vater hätte betreffendenfalls in dem Fremden auf dem Gange doch auch seinen Sohn erkennen müssen, was er ja aber nicht getan hatte. Außerdem war es bei ihm dieselbe Sache mit der englischen Flagge, und daß die englische Flagge keinen Tag, ja keinen Augenblick einen Verbrecher geschützt hätte, das wußte alle Welt. Der zweite Steuermann und Adolf waren also zurzeit im englischen Dienst bei einem frommen englischen Kapitän, und von Auslieferung konnte keine Rede sein.

Warum hatten diese zwei Männer nicht ihre Eltern besucht, wenn doch die Ladung ihres Schiffes in ihrer Heimatstadt gelöscht wurde? Ja seht, das war eine von den zarteren Fragen, die ihnen vorgelegt wurden, aber sie wußten auch darauf eine ganz befriedigende Antwort zu geben: sie wollten sich Vater, Mutter und Geschwistern nicht mit leeren Händen vorstellen, und es war ihnen noch nicht gelungen, etwas Ordentliches von ihrer Heuer zurückzulegen. Das war der Grund. Aber Gott sei sein Zeuge – gab der zweite Steuermann an – er sei manchen Abend an Land gewesen und habe sein Vaterhaus umkreist, habe zu den Fenstern hinaufgeschaut und gezittert, wenn er eine Tür habe gehen hören, und die Hände gefaltet, wenn der Schatten seiner Mutter auf die Vorhänge gefallen sei. Das war ergreifend, das Gericht selbst war gerührt, und das will etwas heißen, wenn ein Gericht gerührt ist.

Von dem Matrosen Adolf kam eine eigentümliche Sache an den Tag: Als er und seine Sachen untersucht wurden, stellte es sich heraus, daß er über den ganzen Körper mit liederlichen Zeichnungen tätowiert war. Die Zeichnungen waren auffallend unanständig, und auf die Frage, wo das gemacht worden sei, antwortete er: In Japan. Diese Zeichnungen schadeten Adolf in den Augen des Untersuchungsrichters ganz ungemein, konnten ihn aber nicht des Postraubes überführen. Der zweite Steuermann war ohne Tätowierung und ganz schön und rein am Körper, so daß er viel besser aus der Sache hervorging; ja, das kam beiden Verdächtigen zugute.

So verlief nun also die Sache mit dem Postraub im Sande, und der Dieb oder die Diebe hatten auch nicht so besonders viel in die Finger gekriegt: Sieben- bis achttausend Kronen in Wertsendungen. Wenn sich mehrere in diese Beute teilten, kam auf jeden nicht sehr viel, und man konnte sich versucht fühlen, zu sagen, es sei ihnen gegönnt!

Die Sache war nun nicht mehr sehr wichtig, der Polizei-Carlsen zeigte keinen großen Eifer in den Nachforschungen, was ihm auch gar nicht zu verdenken war, da sein Neffe und damit auch er selbst Ungelegenheiten davon gehabt hätte. Aber auch der Vorgesetzte des Polizei-Carlsen legte wenig Wert darauf, in dieser Sache bis aufs Äußerste zu gehen; es wäre eine Dummheit gewesen, um einer Kleinigkeit willen mit England Händel anzufangen, und außerdem war es der allgemeine Wunsch der Stadt, den Schmied Carlsen zu schonen, der bessere Kinder verdient hatte, als ihm zuteil geworden waren.

Aber nun der Postmeister? Er hatte sich das Ereignis so zu Herzen genommen, daß er nicht mehr zu kennen war: eine gebeugte und gebrochene Gestalt mit irren Augen und einem beständig mummelnden Munde. Der ehrgeizige Mann konnte den Schaden und die Schande, die ihn in seinem Beruf getroffen hatten, nicht überwinden, über etwas anderes brauchte er sich ja nicht zu grämen, da sein Sohn nichts Böses getan hatte. Der Postmeister war der Gegenstand allgemeinen Mitleids. Er hatte ja wohl während seines ganzen Aufenthaltes in der Stadt vernünftige Leute mit seiner ewigen Frömmigkeit und seinem metaphysischen Geschwätz auf allen Straßen und Gassen zum Sterben gelangweilt, aber jetzt, da ihn das Schicksal geschlagen hatte, erinnerte man sich mehr der Tugenden als der Laster dieser heimgesuchten Seele. Hatte nicht er die Zeichnung zu dem großen Schulhaus gemacht, zu diesem Säulenhaus, das die Reisenden schon von der See aus sahen und darum bis an ihr Lebensende nicht vergaßen? Jetzt saß er da mit umnachtetem Verstand und war weniger denn ein Kind.

Er ist selig und verwirrt und tot, sagte der Doktor. Es ist mir schon in der letzten Zeit aufgefallen, er hatte so einen stechenden Blick, er war morsch geworden, und es brauchte nur noch eines kleinen Anstoßes, um ihn zu zerbrechen. Der Glaube hat ihn zu Fall gebracht.

Im Gegensatz zu allen anderen fiel es dem Doktor schwer, den Postraub zu vergessen, er ließ den Verdacht nicht fallen, das Geld sei auf dem englischen Schiff davongefahren. Was hätte den lokalkundigen zweiten Steuermann hindern sollen, sich in sein Vaterhaus zu schleichen und die Wertsendungen zu stehlen? Nachkommenschaft! pflegte der Postmeister zu sagen. Ach, ein Nachkomme, der zu allem fähig war! Der Nachkomme Adolf war von derselben Sorte, die entsetzlichen Zeichnungen auf seinem Körper legten Zeugnis ab von seinem Charakter. Wahrhaftig, die beiden Väter konnten sich ihrer Nachkommen freuen!

Der Doktor konnte es wirklich nicht lassen, ein wenig zu frohlocken. Noch niemals hatte er die sandigen Gassen der Stadt mit weniger Überwindung durchschritten als jetzt, und noch nie war ihm die Richtigkeit seiner Lebensanschauungen so klar bestätigt worden. Zu dem frommen und gläubigen Wrack, dem Postmeister, ging er sehr oft, betrachtete ihn eine Weile und verließ ihn dann wieder; er konnte keine Anzeichen feststellen, daß seinem Patienten Licht und Klarheit wiederkehrten, und schloß daraus auf dauernde Finsternis bei ihm. Waren es nicht die Menschengedanken, mit denen dieser Kindermund großzutun pflegte? Daß die Menschengedanken niemals aufhörten, daß die Menschengedanken ein Licht seien, das niemals erlösche? Nun, für ihn selbst waren sie jetzt jedenfalls erloschen und hatten nur einen schwarzen Docht zurückgelassen. Solche schwache Köpfe sollten sich nie darauf einlassen, auf eigene Faust nachzugrübeln, die sollten Kirchen und Schulhäuser zeichnen und ihrem Katechismus treu bleiben.

Der Doktor hatte ja gerade keinen Grund, sich zu überheben und närrisch zu freuen, er empfand aber auf seine Art eine gewisse Befriedigung. Sein Materialismus behielt recht, der Zufall, daß der Postmeister zum Blödsinnigen geworden war, stärkte die Stellung des Doktors unter den Menschen; es war ja, als ob er das Unglück richtig vorausgesagt hätte, niemand kam ihm gleich an Autorität, seine Behauptungen mußten zu Recht bestehen bleiben. Wenn er nun also vom Postmeister behauptete, daß der Glaube ihn zu Fall gebracht habe, so konnte ihn der eine und der andere fragen: Der Glaube? Dann erwiderte der Doktor: Jawohl, der Aberglaube. Und das mußte bestehen bleiben.

Aber eine richtige Herzensfreude hatte der Doktor jetzt so wenig als vorher, das Leben war und blieb ein Elend, eine Gemeinheit. Wenn er nicht von Zeit zu Zeit den Genuß gehabt hätte, einen Menschen zu ärgern, so wäre es nicht auszuhalten gewesen. Meint man zum Beispiel, es hätte ihm Nutzen gebracht, den Kaufmann zu wechseln? Er hatte ja seine vieljährige Verbindung mit Konsul Johnsen aufgegeben und war zu Konsul Davidsen übergegangen, und wohlgemerkt, das war nicht geschehen, um Davidsen zu schaden, sondern im Gegenteil, um seinem kleinen Kramladen aufzuhelfen. Und was wurde daraus? Es wurde weiter gar nicht anerkannt, auch Davidsen schickte eine Rechnung. Sie waren doch alle gleich, Davidsen war nur ein neuer Konsul. Und überdies war Konsul Davidsen nicht einmal ein Mann, mit dem sich der Doktor ordentlich unterhalten konnte, er gab ja keine Antwort, sondern staunte nur, die Schlafmütze, und fand sich lächelnd darein, ordentlich verhöhnt zu werden.

Da war der Doppelkonsul doch besser, obgleich auch er nur ein Kaufmann und Schiffreeder war.

Man munkelte, es müsse köstlich zugegangen sein, als der Doktor kam und dem Doppelkonsul zum Danebrog Glück wünschte. Er hatte zu diesem Besuch den Apotheker mitgenommen, und beide waren sehr untertänig gewesen. Sie waren durch den Laden ins Konsulat gegangen, was sonst nicht ihre Gewohnheit war, hatten durch einen von den Ladenjünglingen ihre Besuchskarten hineingeschickt, dann Hut, Stock und Galoschen abgelegt und sich Haar und Bart mit einem Taschenkamm zurechtgemacht. Beide Herren hatten Handschuhe an.

Der Konsul trat ihnen etwas verwundert mit den Karten in der Hand an der Tür entgegen und fragte scherzend, ob sie Audienz haben wollten? Bejahend verbeugten sie sich. Na ja, dann bitte! sagte der Konsul und nahm die Sache immer noch leicht.

Aber als sie im Kontor angelangt waren und immer noch mit derselben Feierlichkeit ihren Glückwunsch aussprachen, da fing der Konsul wohl selbst an, es in Ordnung zu finden, daß sie so zeremoniell auftraten, dies war vielleicht die Art, auf welche ein Glückwunsch zur Ritterschaft vorgebracht werden mußte, was wußte er! Er wehrte sich allerdings ein wenig und sagte: Na ja, das ist doch nun nicht der Mühe wert, um so formell zu sein! Aber die beiden Besucher waren standhaft und ließen sich nicht zu einem leichteren Tone verleiten.

Der Konsul bot den Herren Zigarren an, und sie erhoben sich und nahmen mit tiefer Verbeugung jeder eine Zigarre, steckten sie aber nicht an. Der Konsul wollte sich nun wohlwollend zeigen und fing von dem Postraub an, der sich eben erst ereignet hatte. Die Herren verbeugten sich zu allem, was er sagte, und legten großes Gewicht auf seine Worte. Noch ging alles gut, Konsul Johnsen war ausgesucht höflich, als der größte Mann der Stadt durfte er dem guten Ton nicht fremd gegenüberstehen. Einer von den Ladenjünglingen trat herein und legte die Post in die eigenen Hände des Konsuls, und der legte sie auf das Pult, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Der Erste Ladendiener Berntsen trat ein und fragte etwas, und der Konsul erwiderte über die Achsel weg: Später, ich bin jetzt beschäftigt!

Unterdessen saßen die beiden Herren mäuschenstill, es war, als ob sie auf einen noch feineren Ton warteten. Aber da nichts mehr zu kommen schien, fuhr wohl der Teufel in den Doktor, er wollte sich selbst auf eine handfestere Weise eine Befriedigung verschaffen. Darum wendete er sich nun an den Apotheker und sagte einige Worte; aus Hochachtung vor dem Ritter sprach er leise, aber er sagte: Wir hätten wohl eigentlich auch unsere Schuhe draußen ausziehen sollen.

Da begriff der Konsul; innerlich schnitt er vielleicht eine Grimasse, aber seinem Gesicht war nichts anzusehen, als er dem Doktor antwortete: Sie fürchteten wohl, Sie hätten keine heilen Strümpfe an?

Na, hatte Konsul Johnsen keine Schneid? Sein Hieb saß, der Doktor war einen Augenblick geschlagen, dann lächelte er und sagte: Vielleicht, das kann wohl sein. Aber gleich darauf ging sein Pulver los, und er sagte: Ich habe übrigens meine Strümpfe und alles, was ich sonst aus Ihrem Laden bezogen habe, bezahlt!

So? erwiderte der Konsul in zweifelndem Ton.

Ich kann die Quittungen vorlegen.

So? erwidert der Konsul, und da der Doktor schweigt, fährt er fort: Ich weiß nicht, wo Sie hinauswollen.

Ich will nirgends hinaus, antwortete der Doktor. Das ist alles.

Hier hätte der Konsul haltmachen und nicht weitergehen sollen; aber er war wohl gekränkt, daß er auf solche Weise zum Narren gehalten worden war, und so konnte er es nicht lassen, ein wenig überlegen zu tun: Von Ihren und anderer Leute kleinen Einkäufen im Laden draußen weiß ich wirklich recht wenig, das besorgt Berntsen. Ich sitze hier innen im Kontor und habe etwas größere Entscheidungen zu treffen.

O, das bezweifle ich durchaus nicht, gibt nun auch der Apotheker zu, er wird feig und möchte gerne vermitteln.

Aber der Doktor grinst nur kühl: Selbstverständlich! sagt er. Wir sind groß, wir sitzen hier und disponieren sage und schreibe, über ein kleines Frachtschiff, wir stehen nicht selbst hinter dem Ladentisch und verkaufen Schmierseife und Fingerhüte. Da der Doktor hier die Luft durch die Zähne einzieht, macht es den Eindruck, als friere er – oder vielleicht noch mehr den, als sei er rasend.

Der Konsul erwidert: Es ist genau so, wie Sie sich das denken, in die Kleinigkeiten mische ich mich nicht ein.

Ach, wie groß sind wir! ruft der Doktor. Herrgott, wie groß sind wir. Sie und ich!

Der Apotheker greift ein: Nein, so war es nicht gemeint. Entschuldigen Sie, daß ich die Sache so ansehe; was fällt Ihnen denn ein, Herr Doktor?

Der Doktor steht auf: Nein, wissen Sie was. Sie Apothekerseele, Herr ...

Still! Die Sache ist die, Herr Konsul, wir wollten heute herkommen, um – wir meinten, der Doktor und ich, wir als gute Bekannte, dürften uns schon einen kleinen Scherz erlauben mit – es ist uns natürlich nicht eingefallen, Sie persönlich lächerlich machen zu wollen, wir wollten nur ein wenig spaßen mit dem Orden, mit der Ritterschaft, die wohl weder Sie noch wir sehr hoch anschlagen. Wir haben uns vielleicht etwas verkehrt benommen, aber wir setzten voraus, wir dürften schon kommen und Ihnen wie uns ein wenig Spaß machen.

Darin haben Sie sich auch nicht getäuscht, erwidert der Konsul. Wie Sie sahen, bin ich ja auch vom ersten Augenblick an auf den Scherz eingegangen.

Daß Sie etwas so Selbstverständliches noch lange erklären mögen! Ich bin erstaunt, Herr Apotheker! ruft der Doktor. Kommen Sie, wir gehen! Adieu!

Der Apotheker stand nun allerdings auf, aber er ließ den Doktor gehen und fing von neuem an, dem Konsul Erklärungen zu geben, und gebrauchte dabei äußerst höfliche Worte. Er hoffe, daß es keine Mißstimmung zwischen guten alten Bekannten geben werde, der Doktor gehe zu weit, das habe doch keinen Sinn, die Schuhe auszuziehen, und ein großes Dampfschiff von einem Hafen in den andern zu dirigieren, von Genesien den einen Tag, nach Zürich den andern – das gehe doch beinahe über Menschenverstand –

Zürich ist nun eigentlich kein Seehafen, sagt der Konsul und lächelt nachsichtig.

Na, dann nicht. Ich verstehe leider nicht viel vom Seewesen, ich weiß nur, daß ich aus Zürich Pillen bekomme. Aber was ich sagen wollte. Jedenfalls ist es eine Riesenarbeit, hier zu sitzen und der Direktor von Schiffen auf dem Ozean zu sein und zugleich das größte kaufmännische Geschäft der Stadt zu leiten. Dafür hätten der Doktor und ich eigentlich wohl die Schuhe draußen ausziehen dürfen, das sage ich gerade heraus, aber wenn ich Sie recht kenne, so wäre Ihnen das nicht angenehm gewesen. Der Doktor kann ja schon im voraus vieles verkehrt gemacht haben, und ich möchte den Herrn Konsul bitten, es uns beiden nicht nachzutragen.

Das habe ich längst vergessen, reden Sie doch nicht so, das sollte mir gerade fehlen, dem Doktor etwas übel zu nehmen, ich habe wirklich anderes zu tun, erwiderte der gutmütige Konsul Johnsen. Da machen Sie sich keine Gedanken darüber!

Was schließlich den Orden betrifft, so sind Sie ja der erste Ritter, den die Stadt aufzuweisen hat, und es ist gewiß niemand da, der Ihnen die wohlverdiente Ehre mißgönnt. Es ist wohl die Anerkennung dafür, daß Sie das mit dem Wrack vor zwanzig Jahren so gut gemacht haben?

Lächelnd sagt der Konsul: Nun, es ist seither noch die eine und die andere Kleinigkeit dazugekommen.

Natürlich. Eine ganze Menge wichtiger Dinge, nicht zum mindesten Ihre wertvollen Berichte. Nun wird wohl auch die andere Regierung nachfolgen – war es nicht Bolivia?

Wieso? Ich bin nicht Konsul für Bolivia.

Verzeihen Sie.

Entweder Olsen oder Heiberg muß Konsul für Bolivia sein.

Aber sind Sie denn nicht Doppel–

–Konsul? Doch, antwortet Konsul Johnsen und lacht laut über die Verlegenheit des andern. Ja, das versteht sich, Doppelkonsul, hahaha! Aber es muß wirklich einer von den andern sein, der Doppelkonsul von Bolivia ist, hahaha!

Ach, ich habe ja Holland gemeint, sagt der Apotheker ganz geknickt. Ich bin sehr unglücklich. Auf jeden Fall ist Ihr Ritterkreuz eine Ehre, nicht allein für Sie, sondern auch für die ganze Stadt, wir alle sind dadurch geehrt. Die holländische Regierung wird nun wohl auch nicht mehr lange zaudern, Ihre Verdienste anzuerkennen.

Wieso? Nein, dazu liegt gar kein Grund vor. Wollen Sie nicht Ihre Zigarre anstecken, ehe Sie gehen? Na, wie Sie wollen!

Die werden sich jetzt ordentlich schämen! denkt der Konsul vielleicht von den eben weggegangenen Herren. Und er denkt gewiß auch, daß bei diesem ganzen dummen Besuch der Doktor jedenfalls nicht auf seine Kosten gekommen sei. Die Herren selbst dachten vielleicht etwas ganz anderes, Gott weiß, der Apotheker ging vielleicht aus der Tür und grinste inwendig, und als er nachher dem Doktor von seiner »Sortie« aus dem Doppelkonsulat berichtete, grinsten vielleicht beide Herren gemeinsam. O, dieses Dirigieren der Schiffe auf allen Weltmeeren – es war ja eine bekannte Sache, daß Konsul Johnsen dazu gar nicht befähigt war und daß über das Frachtschiff Fia meist durch den Sohn Scheldrup disponiert wurde.

Der Doktor schien trotzdem nicht befriedigt zu sein. Er sagte: Bei Lichte betrachtet hat er den Hohn gar nicht begriffen. Wahrscheinlich sitzt er in diesem Augenblick zu Hause und versucht, wie ihm der Danebrog steht.

Der Apotheker meint, er habe doch begriffen.

Begriffen? Was begreift denn der! Haben Sie Riesenarbeit gesagt?

Ja, ich sagte Riesenarbeit.

Und Bolivia und Zürich? Und er hat Sie nicht hinausgeworfen?

Die Weisheit kommt ihm hinterher. Er merkt es zum Schluß doch noch.

Keine Spur. Nein, das war ein verunglückter Einfall von uns.

Der Doktor geht zu Grütze-Olsens. Er geht oft zu ihnen, in der letzten Zeit beinahe jeden Tag, er hat dort etwas zu besorgen. Der Schwiegersohn des Hauses, der Kunstmaler, war mit Frau und Kind zu einem Sommerbesuch angekommen. Dem Kinde fehlte nichts, aber die junge Mutter war ängstlich wie alle jungen Mütter und verlangte einen Arzt.

Der Doktor hatte nichts dagegen, in Grütze-Olsens Haus zu kommen, er verdiente extra gut dabei und hatte angefangen, der Sache Geschmack abzugewinnen. Hier war nicht alles gar so vornehm und abgemessen, aber es war auch nichts zugemessen, alles war Breite und Überfluß, es war etwas protzig und verschwenderisch. Einzelne Damenhandschuhe trieben sich schon im Vorplatz herum, teuere Regenschirme standen mit geknicktem Stock da. In den Zimmern herrschte keine Unordnung, aber alles sprach von etwas zu viel Geld, die Bilderrahmen, die Teppiche, die Möbelbezüge. Die Vorhänge hingen bis auf den Boden herunter und breiteten sich da noch aus. Nein, hier herrschte keine Knauserei, aber die Art der Einrichtung lenkte die Gedanken unwillkürlich auf selfmade, auf neuerworbenes Geld.

Ach was! dachte wohl der Doktor und trank den teuren Wein und rauchte die guten Zigarren. Hier herrschte jedenfalls gute Gesinnung und Gastfreundschaft, und dazu der redlichste Wille, ihn anzuerkennen. Er hatte ein weiches Plätzchen in der Sofaecke, und alles hing an seinem Munde. Was tat's, wenn das Geld neuerworben war! Geld ist Geld, eine Million ist nicht schlimmer als ein Tausend. Und da saß der Doktor. Er war ja nicht der Mann, der sich imponieren ließ, aber er sah in dieser Umgebung doch etwas kahl aus, sein gestärktes Vorhemd knarrte etwas aufreizend auf seiner Brust, und die Manschetten mußte er mit den kleinen Fingern zurückhalten, sonst rutschten sie ihm vor auf die Knöchel.

Nein, dem Kinde fehlt auch heute nichts, sagt er. Sie bekommt nur noch ein paar Zähne mehr, um ihrer schönen Mutter auch darin zu gleichen.

Die junge Frau sagt mit tiefem Erröten: Nun, das ist ja gut. Wir haben uns wieder so um sie gesorgt. Das komischste dabei aber ist, daß nicht ich am ängstlichsten gewesen bin.

Konsul Olsen fragt: Wer war denn am ängstlichsten?

Du, Vater! Das mußt du doch zugeben.

Der Konsul entschuldigt sich: Ich war nicht ängstlich, aber ich sah nicht ein, warum das Kind Schmerzen haben sollte, wenn doch zu helfen war. Sie ist nach mir genannt, Herr Doktor.

Das erklärt viel! sagt der Doktor.

Hier war der Doktor ein anderer Mann, er hatte nicht nötig, immer auf der Hut zu sein und Nadelstiche auszuteilen, hier hatte man die nötige Hochachtung vor ihm, auch ohne das. Hier trat er freundlich und herablassend auf, er machte sich's sozusagen bequem. Im Bewußtsein, daß er der Überlegene war, vertiefte er die Kluft zwischen sich und diesen Menschen nicht noch mehr. Hier im Hause herrschte außerdem gute Laune, es schmeckte zur Abwechslung nicht armselig. Der Doktor war in dieser Beziehung von zu Hause her nicht verwöhnt, hier war Lachen und Gesundheit, und natürlich war hier auch einige kindische Vornehmheit.

Fortwährend gingen Leute aus und ein. Außer dem Schwiegersohn mit seiner Familie hatten sie auch noch Besuch von dem andern Kunstmaler, dem Tüncherssohn; o sie hatten ihn mitgenommen, er war allerdings nicht in die Familie eingeheiratet wie sein Kollege, aber auch er war willkommen und bewohnte ein Mansardenzimmer mit Teppichen und mit Vorhängen, die bis auf den Fußboden herunterhingen.

Und nun wollte dieser Tüncher das Bildnis des Doktors malen.

Was wollen Sie denn damit? fragte der Doktor aufrichtig. Ich kann es nicht kaufen, und ein anderer wird es Ihnen auch nicht abkaufen.

Ich will Sie um Ihres Gesichtes willen malen, antwortete der Maler. Auf Lohn wird nicht gesehen! fügte er munter hinzu. Dieser Tüncherssohn war gar nicht so übel, er konnte zuweilen recht schlagfertig sein, er war leicht entzündlich und immer verliebt, hatte auch ein ehrliches Gesicht, aber seine Hände waren groß und ungeschlacht, der Doktor betrachtete diese Hände mit Widerwillen.

Ja, malen Sie nur! sagte der Doktor und tat gleichgültig.

Danke! Aber ich will Sie in Ihrem Studierzimmer malen, umgeben von Arzneikolben und dicken Büchern, versunken in Ihre Wissenschaft.

Der Doktor zuckte sichtlich zusammen. Das war einmal ein merkwürdiger Künstler, welches Verständnis für einen Gelehrten und dessen Tätigkeit! Der Doktor war augenscheinlich gerührt, eine schwache Röte stieg ihm in die Wangen, und er trank sein Glas aus, um das zu verbergen.

Ja, hier in Grütze-Olsens Haus ging es ihm gut!

Ursprünglich hatte er da gar nicht so viel erwartet. Er hatte dieses Haus adeln wollen, wie er schon andere Häuser geadelt hatte, Henriksens von der Werft, Heibergs, Davidsens Kramladen, Johnsens am Landungsplatz, jetzt fühlte er sich hier wohl, solange es währte. Er hatte außerdem noch einen andern Gedanken: Er konnte Konsul Olsens wegen Johnsens am Landungsplatz geradezu eine Weile auf die Seite setzen – bitte, versuchen Sie einmal, wie das schmeckt! Er wollte gerne ein gewisses Gleichgewicht in die Dinge bringen, eine gleichstarke Macht jenseits der Grenzscheide herstellen. Er konnte die Stadt regieren mit Uneinigkeit, mit zwei Kampfhähnen.

Das hätte sehr schön gehen können, allein alles strandete an der Gutmütigkeit und Trägheit der Familie Olsen. Nein, die Familie Olsen war nicht lernbegierig und hatte keinen Verstand für Ränke und Kniffe. Sie verstanden sich auf gutes Essen und Geld und die eines Großhändlers würdigen Möbel: aber sie hatten keine Kultur, keine illustrierten Zeitschriften und keine von der Tochter des Hauses gemalten Teller. Die Familie Olsen klebte an der Erde.

Johnsen am Landungsplatz ist Ritter geworden, sagt der Doktor. Jetzt sind Sie an der Reihe.

Grütze-Olsen schüttelt wieder wehmütig den Kopf und sagt: Dazu ist keine Aussicht.

Das ist gar nicht unerreichbar. Es gehört nur ein wenig Arbeit dazu.

Grütze-Olsen schüttelt noch einmal wehmütig den Kopf und erwidert: Ich bin Konsularagent für ein Land ohne Orden.

So. Aber jetzt hören Sie einmal, Herr Konsul: Jedenfalls könnten Sie ein Landhaus haben.

Ein Landhaus? O ja, allerdings!

Nicht war? Warum soll hier nur einer ein Landhaus haben? Und warum soll gerade er es haben? Sie sind sicherlich ein reicherer Mann als er.

Grütze-Olsen schüttelt lächelnd den Kopf: Na, übertreiben Sie nicht!

Also ein Landhaus. Und dann fahren Sie mit zwei Pferden hinaus.

Mit zwei Pferden? Nein!

Das können Sie sich doch leisten!

Ja, allerdings, erwidert der Konsul und wirft sich in die Brust. Aber zwei Pferde. – Nein, entschuldigen Sie – ich kann nicht einmal mit einem Pferde fahren.

Dazu nehmen Sie sich doch einen Kutscher! Sie sind doch ein Mann, der weiß, was sich gehört. Einen Kutscher mit blanken Knöpfen und einer goldenen Borte um die Mütze.

Nein, nein, nein, da müßte der Kutscher ja selbst lachen, daß es ihn schüttelt, erklärt Grütze-Olsen. Und ich mag nicht drinsitzen hinter zwei Pferden.

Der Doktor schlägt vor: Dann sitze ich die ersten Male drin, das heißt, Frau Olsen und ich. Nicht wahr, Frau Olsen?

Frau Olsen ruft ganz überwältigt: Ich? Nein Gott bewahre mich! Die Frau Doktor kann – die Frau Doktor kann selbst –

Es war durchaus nichts zu machen.


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