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Der Rechtsanwalt Fredriksen dachte indes jetzt wohl am allerwenigsten daran, Oliver und sein Haus zu beunruhigen, er hatte ganz andere Dinge zu erledigen. In diesen Tagen wurde der Stadt eine schwere Prüfung auferlegt, eine so unerhörte Erschütterung beigebracht, daß es war, als ob die Welt stille stünde. Was war seinerzeit der Postraub dagegen gewesen? Das Dampfschiff Fia war untergegangen! Was bedeuteten alle möglichen anderen Dinge, wenn das Dampfschiff Fia nicht versichert gewesen war und nun vielleicht den Doppelkonsul Johnsen in Ruin und Untergang mit hineinzog?
Nichts anderes bedeutete mehr etwas.
Auch früher schon waren mehrere ernste Ereignisse in der Stadt zu verzeichnen gewesen: der alte Schulvorsteher war nun tot, der die vielen Sprachen der ganzen Welt kannte und die letzte Generation in den Grammatiken und den notwendigen Kenntnissen unterrichtet hatte, er war jetzt tot und seine Gelehrsamkeit mit ihm begraben. Auch eine andere Sache war am Brunnen tüchtig besprochen worden: die Frau des Doktors jammerte nun schon seit zwei Monaten darüber, daß sie guter Hoffnung war; es war das erstemal bei ihr, ach du lieber Gott, wie sie es verabscheute, wie sie sich davor fürchtete und wie schlecht ihr war – für dieses Unglück gab es keine Hilfe, und war es nicht auch ganz gerecht? – Da, eines schönen Tages war die Frau Doktor plötzlich nicht mehr guter Hoffnung. Was? schrien die Weiber am Brunnen; sie pumpten kein Wasser mehr und gingen auch nicht mit ihren Eimern fort, sondern blieben unentwegt da. Hatte die Person sich über ihr Inneres getäuscht und war sie gar nicht –? Unsinn! Weit entfernt! Aber so ungleich verteilte es unser Herrgott bei den Frauen, manche mußten Jahr um Jahr Mutter werden, andere waren fürs ganze Leben davon befreit. So war es, wenn man einen Doktor zum Mann hatte, er hatte die Gelehrsamkeit, er konnte tun, was er wollte, das war keine Kunst –
Es fehlte also nicht an aufregenden Ereignissen.
Aber dann rollte eines Morgens der Donner über den Brunnen hin; das war die Nachricht von dem Untergang der Fia. Diese Nachricht kam von Scheldrup Johnsen in Neu-Orleans, das Telegramm war drei Tage alt, es meldete kurz und bündig, nannte Ort und Zeit und ging davon aus, daß die Versicherung in Ordnung sei. Aber die Versicherung war nicht in Ordnung. Und da schlug der Blitz am Brunnen ein.
In der kleinen Küstenstadt, die von nichts als von ihren Schiffen lebte, verstand jedes Weib, was eine solche Versicherung zu bedeuten hatte, sollte da der Doppelkonsul es nicht gewußt haben? Waren es nicht gerade die großen Sachen, die der Konsul selbst unter den Händen hatte, Berntsen dagegen lag es ob, dem Kramladen und dem Modehandel vorzustehen. Es kam zu einem Zusammenstoß zwischen dem Konsul und seinem Ersten Ladendiener; der Konsul meinte, er habe Berntsen den Auftrag gegeben, die Versicherung zu erneuern, und Berntsen hatte auch ganz richtig die Versicherung damals, als es ihm aufgetragen worden war, erneuert, aber nachher nicht mehr. – Aber der Konsul habe doch ein für allemal den Auftrag gegeben. – Nein, erwiderte Berntsen, so habe er es nicht verstanden. – Der Konsul raufte sein Haar und behauptete, doch, er habe es ausdrücklich für immer, fürs ganze Leben gemeint. Berntsen hätte das außerdem selbst verstehen müssen, ob er denn nicht gesehen habe, was alles auf dem Pult des Konsuls herumlag, alles müsse er selbst besorgen, die ungeheuere tägliche Post, die Berichte an seine Regierungen, die Bücher, eine Welt, ein Chaos – wie, wenn nun Berntsen das von selbst verstanden hätte! – Es zeigte sich auch, daß Berntsen wirklich tüchtig eingegriffen hatte, sonst hätte es noch schlimmer auf dem Pult des Konsuls ausgesehen. – Ja, aber der Konsul habe die Versicherungspapiere zur Erledigung herausgelegt. – Berntsen hatte die Papiere auch da liegen sehen, und nachdem er sie drei Wochen vor Augen gehabt hatte, waren sie verschwunden. – Jawohl, der Konsul hatte sie schließlich als erledigt weggelegt. Berntsen hatte kein Wort davon gehört, daß er sie fortschicken solle. – Doch, beim Satan, der Konsul hatte vor langer Zeit einmal gesagt, er müsse die Prämie abschicken: Vergessen Sie die Versicherung nicht! hatte er befohlen. O, jetzt mochte Gott ihm gnädig sein!
Frau Johnsen wankte ins Kontor herunter und weinte, rang die Hände, wischte sich Nase und Augen, schluchzte laut, bebte und redete wie im Fieber. Das war nicht gut für die Frau Konsul, sie war wohl auch leberkrank, denn sie war gar so gelb im Gesicht. Die Tochter kam auch, Fräulein Fia, sie nahm es ganz anders auf und legte nicht noch Steine auf die schwere Last. Das nütze nun alles nichts, sagte sie, Prüfungen müsse man ertragen. Sie müßten jetzt zeigen, daß sie Kultur hätten, sagte sie, die Komtesse; was an ihr liege, so wolle sie noch fleißiger arbeiten, sie habe ihre Kunst und ihren Beruf; die zwei Bilder, die sie im Louvre kopiert habe, müßten nun eben springen, sie wolle sie sofort zur Versteigerung schicken. Hab keine Angst, Papa!
Der Konsul hörte nicht und sah nicht.
Dafür war ein anderer Mann in der Stadt, der sowohl hörte als sah, der Rechtsanwalt Fredriksen. O, ein kluger Mann, ein glücklicher Gewinner, also ein ganz verflixt guter Rechner. Da kam er nun endlich wieder, nachdem er fast das ganze Jahr hindurch im Landtag und in seiner Kommission gesessen, und jetzt hatte er ein viel besseres Aussehen als vorher, er sah nicht mehr so gefräßig aus, Gott weiß, ob er nicht Gesichtsmassage gebraucht hatte! Woher sonst konnte diese fast seelenvolle Freundlichkeit kommen? Allerdings hatte es auch seine Wirkung nicht verfehlt, daß er während seiner Abwesenheit zum Bürgermeister in seiner Stadt gewählt worden war; aber das würde einen Rechtsanwalt doch nicht dazu bringen, die abgelegenen Winkel der Sorge und Armut aufzusuchen und dort eine halbe Stunde trostspendend zu verweilen! Er ging zu der Tochter des Schulvorstehers, die ihren Vater verloren, und zu dem alten Postmeister, der seinen Verstand verloren hatte, und überall war er sehr teilnehmend gewesen. So war er jetzt. Schon als er vom Schiff an Land stieg, hatte ja der abscheuliche Olaus vom Anger ihn geduzt und ihn nur Fredriksen angeredet; aber darüber hatte dieser nur ein wenig gelächelt und gesagt: Trag meinen Koffer hinauf, Olaus! – Olaus erwiderte: Trag du deinen Koffer selber!
Ehe er sich nun aufs neue auf seine beschwerlichen öffentlichen Obliegenheiten warf und die Stadt zur ersten Versammlung zusammenrief, gönnte er sich noch ein paar freie Tage und wanderte in einem hellen Anzug und einem großen Hut umher; er hatte sich einen Stock gekauft, und seine Stiefel waren heil, er rauchte auch immerfort Zigarren, ja, er war ein ganz anderer geworden. Warum wanderte er soviel umher, warum mußte der schwere Mann auch noch den Aussichtspunkt ersteigen? Das sah gesucht aus, ausgesucht einsam, das erinnerte ein wenig an unerwiderte Liebe und tiefere Gefühle. Wenn er an Konsul Johnsens Garten mit den Zementurnen, dem Duft des spanischen Flieders und gaukelnden Schmetterlingen vorüberging, grüßte er Frau Johnsen, gegen die er nichts hatte, mit seinem großen Hut, er grüßte auch das Fräulein, ja selbst den Konsul, wenn er auf der Veranda saß. Wohl war er Vorsitzender einer Kommission gegen den Konsul, aber Haus und Familie mußten außerhalb gehalten werden.
Glücklich von Paris zurück! rief er mit Donnerstimme über das Staket weg Fräulein Fia zu.
Es sei jetzt übrigens schon sehr lange her, seit sie von Paris zurückgekommen war, dachte Fräulein Fia wohl, und sie hätte auch gut ihn selbst mit Glücklich zurück vom Landtag! begrüßen können, aber sie dankte nur mit einem nachlässigen Kopfnicken. Wer verstand diesen Menschen!
Er legt seine runden Arme auf das Staket und geht nicht gleich weiter, sondern sagt: Sie finden es wohl daheim wieder sehr schön?
Ja.
Ich auch.
Welche Unhöflichkeit vom Konsul! Da sitzt er auf der Veranda und liest in seiner Zeitung, dann wird er aufmerksam, lüpft schließlich den Hut ein wenig und grüßt, liest aber dann gleich weiter.
Jawohl, auch ich finde es daheim wieder sehr schön. Obwohl ich kein schöneres Heim habe –
Wollen Sie nicht hereinkommen, fragt Frau Johnsen.
Nein, ich danke, es ist spät geworden. Ich gehe nur vor Schlafengehen ein wenig spazieren, und ich kann Sie von dem Aussichtspunkt grüßen, Fräulein Fia!
Es war wohl heute abend hübsch da oben?
Wundervoll. Ein Sonnenuntergang mit ein paar besonders prächtigen Wolken! Ich verstehe mich ja nicht so darauf wie die Maler und Künstler, aber für meinen Geschmack war es einzig in seiner Art. Würden Sie sich nicht zu einem kleinen Spaziergang hinauf überreden lassen?
Jetzt? Nein.
O nein. Und Sie gehen wohl auch am liebsten allein?
Nun zündet sich der Konsul seine Zigarre wieder an, aber er kann sich dabei fast nicht von der Zeitung losreißen: Was in aller Welt interessiert ihn denn so ungeheuer? Und was ist denn mit Frau Johnsen? Diese Frau Johnsen war nicht immer so wortkarg gewesen; in alten Tagen hatte sie höchst vergnügt geplaudert, wenn der Rechtsanwalt mit ihr sprach und sich mit ihr abgab, ja, sie tat wahrhaftig, als mache sie sich etwas aus ihm. Wie reich und groß waren diese Leute nun geworden; aber wie konnten sie es auch nicht lassen, es zu zeigen! Seht, da sitzt die Tochter des Hauses, sie ist nun seit mehreren Jahren alt genug und zum Überfluß auch hübsch genug, und da sitzt sie und hält sich eigensinnig zurück, bloß weil sie steinreich und eine gute Partie ist. Rechtsanwalt Fredriksen hätte übrigens der Familie in verschiedenem nützlich sein können, er war jetzt nicht mehr der erste beste, er war Landtagsabgeordneter und ein großer Mann, er konnte sogar noch größer werden, ja, er hatte beinahe sichere Aussicht, noch größer zu werden, die neuen Wahlen würden das entscheiden. Warum stand er denn da draußen und warb vor einem Gartenzaun? Das schickte sich nicht für jemand wie er war; kommt ihm nur in die Nähe, gebt ihm den kleinen Finger! Er hatte in der großen Hauptstadt etwas gelernt, das nächste Mal würde es schon besser gehen, er wollte sie in den Arm nehmen –
Guten Abend! grüßte er und ging weiter.
Nach einer guten Weile schaute der Konsul auf und lüpfte nun auch den Hut, aber da sah er nur noch den Rücken des Rechtsanwalts und seine Hautwulst im Nacken unterhalb des Huts. So ein Übermut! Und dieses Zeitungslesen! Der Konsul warf das Blatt weg und stand langsam auf, er gähnte laut und sagte: Na, jetzt geh ich hinein und lege mich zu Bett.
Ja, gute Nacht! sagten die Damen.
Alles atmete Frieden und durchaus keine Gefahr. Aber am nächsten Tag, ja, da schlug der Blitz ein.
Rechtsanwalt Fredriksen hörte es zuerst in der Barbierstube, nachher traf er mit dem Apotheker zusammen, der es bestätigte. Der Rechtsanwalt hatte eigentlich gedacht, sich recht schön rasieren zu lassen und sogar noch ein paar Tage lang an Konsul Johnsens Garten vorbei nach dem Aussichtspunkt zu spazieren; aber bei der Nachricht von dem Untergang des Dampfschiffs Fia änderte er entschlossen seine Absicht und nahm den Weg nach dem Hause des Grütze-Olsen. Sein Gang zeigte keine Unsicherheit, nichts Geheimnisvolles, er hatte etwas ausgerechnet und es richtig gerechnet, natürlich ging er nun zum Grütze-Olsen, wohin hätte er sonst gehen sollen? O, in seinem Gang lag Selbstgefühl!
Er war erwartet; Fräulein Olfen errötete, als sie seine Stimme hörte. Sie wußte, er war schon vor zwei Tagen zurückgekommen, aber in diesen zwei Tagen hatte er sich noch nicht blicken lassen.
Nun ja, man hat mich zum Bürgermeister ernannt, während ich fort war, erklärte er, und da mußte ich mich erst in diese neuen Sachen einarbeiten. O, ich habe geschuftet! Und am Abend war ich dann so müde, daß ich ganz einsame Spaziergänge machen mußte, um mich zu erholen. Sonst würde ich mir schon erlaubt haben. Sie zu begrüßen, Fräulein Olsen.
Meine Eltern hatten mir gesagt, daß Sie zurückgekehrt seien, sagte Fräulein Olsen.
Weiter ging sie nicht, o nein; aber wenn er ihr in diesem Augenblick zu verstehen gegeben hätte, daß sie jetzt seiner rasenden Liebe nicht mehr ausweichen könne, dann wäre sie wohl schwankend geworden. Es waren nun mehr als zwei Jahre verflossen, seit sie sich zum letzten Male gesprochen hatten, sie war indessen noch älter geworden, ein paar Briefe in der Zwischenzeit hatten eine hinsterbende Erinnerung nur gerade am Leben erhalten. Mit dem andern Maler, dem Tüncherssohn, wurde es nichts, der war nur ein Künstler und Bruder Leichtfuß; o, er war beständig in die eine oder andere verliebt, daran fehlte es durchaus nicht, aber er hatte keine Beständigkeit. Schließlich ging er hinunter an den Landungsplatz und malte den Olaus vom Anger. Das schickte sich nicht, nachdem er Konsul Olsens gemalt hatte; wahrhaftig, Konsul Olsens bildeten sich nichts darauf ein, aber sie würden in der Leute Mund kommen. Und im übrigen – einen Maler heiraten, das war so eine Sache, ihre Schwester hatte es erfahren, sie hatte es nicht so ergötzlich, sie redeten sogar von Scheidung – die neueste Mode im Lande. Sie hatte jetzt zwei Kinder und war überdies in den ersten Jahren verschiedentlich zu sehr langem Aufenthalt bei den Eltern gewesen, um die Ausgaben für den Haushalt zu vermindern, und wenn sie wieder abreiste, bekam sie eine Menge Geld und vollgepackte Kisten mit. Im letzten Jahr hatte sich dieses Verhältnis allerdings geändert, der Maler hatte einen größeren Namen bekommen, er stellte in Berlin aus und verkaufte seine Bilder zu höheren Preisen. Die Folge davon war, daß jetzt er, der Maler, auf eine Scheidung anspielte, jetzt konnte er auf eigenen Füßen flehen. Das war sehr traurig und sehr dumm, und bis jetzt war ja die Katastrophe abgewehrt worden, aber es war jedenfalls eine unglückliche Ehe daraus geworden. O, diese Künstlerverbindungen, sie waren nicht immer dauerhaft!
Aber wie stand es mit dem Bevollmächtigten beim Hardesvogt? Abgereist. Er war ein Jahr da, dann kam er in das Revisionsdepartement, niemand vermißte ihn, niemand bedauerte seinen Fortgang. Sein Nachfolger war wieder ein juristischer Kandidat, aber es zeigte sich, daß er sowohl Braut als Verlobungsring hatte – was wollte der hier in der Stadt, und was hätte Fräulein Olsen mit ihm anfangen können? Als er Besuch machte, ging sie zwar nicht aus dem Hause, nein, das tat sie nicht, aber sie blieb ganz einfach auf ihrem Zimmer, warum hätte sie hinuntergehen sollen. Später sah sie ihn in der Stadt, er sah aus wie ein Flüchtling, mit abgetragenen Beinkleidern, sehr nachdenklich und niedergedrückt, aber mit Braut und Verlobungsring. Einen solchen Mann mußte man in Frieden lassen.
Und so war Fräulein Olsen noch immer zu Hause; sie wurde älter und beschäftigte sich mit ihren Erinnerungen. Ihr Herz hatte den Rechtsanwalt wahrscheinlich nicht vermißt, aber er war ihr nicht so ganz aus dem Sinn gekommen, er war der sprichwörtliche Sperling in der Hand. Wie war es wohl, hatte er Aussicht, Staatsrat zu werden? Noch immer war es die Natur selbst, die Fräulein Olsens Politik führte, einmal mußte doch auch sie eine verheiratete Frau werden.
Wollen Sie sich nicht eine Zigarre anzünden? sagt sie zum Rechtsanwalt.
Er fing an, von dem Untergang der Fia zu sprechen, das sei ein ordentliches Menetekel für. die Familie Johnsen. Denken Sie doch, ein Dampfschiff nicht einmal versichern! Was denn der Konsul auf seinem Kontor tue, wenn er eine so überaus wichtige Sache vergesse? Es müsse doch alles seine Grenzen haben! Allerdings solle man ja mit Menschen, die im Unglück sind, Mitleid haben, aber Gott wisse es, vielleicht schadete dem guten Johnsen so eine Züchtigung gar nichts. Sie hätten ja alle miteinander einfach unverschämt dummgroß getan.
Ich weiß nicht, sagt Fräulein Olsen, den Scheldrup halte ich nicht für dumm.
Der Rechtsanwalt erwidert gleichgültig: Was der Scheldrup ist oder nicht ist, das weiß ich auch nicht. Ich rede von der Tochter und den Eltern.
Ich möchte wissen, wie es der Scheldrup aufnimmt. Was meinen Sie, daß er nun anfangen wird?
Da sieht sie der Rechtsanwalt wie aus einer ganz andern Welt an, er kann es nicht lassen, die Stirne zu runzeln und sie anzusehen. Ihre Frage ist sehr komisch, sagt er, ich habe mich wirklich nicht damit abgegeben, denn ich habe an andere Dinge zu denken. Was der und jener Junge anfangen wird? Ich weiß es nicht, er wird wohl das tun, was er bisher auch getan hat. Steht er nicht hinter einem Ladentisch oder etwas Ähnlichem?
Scheldrup! Nein, er hat nie hinter einem Ladentisch gestanden.
So, also nicht. Ja, mir ist es gleichgültig.
Vielleicht kommt er jetzt heim und übernimmt das Geschäft.
Den Rechtsanwalt ärgert dieses Gerede, und er versucht, noch mehr von oben herab aufzutreten. Wer künftighin dieses bankerotte Geschäft und den kleinen Laden übernimmt, darüber nachzudenken habe ich wirklich noch keine Zeit gehabt. Vielleicht ist der Scheldrup der Mann dafür, ich weiß es nicht. Hat er etwas gelernt?
Etwas gelernt? Ja, das wird er wohl im Ausland in all den Jahren getan haben.
So? In die Schule gegangen, auf fremden Universitäten studiert? Merkwürdig, daß niemand etwas davon gehört hat! – Aber hier geht wohl dem Rechtsanwalt ein Licht darüber auf, daß er in völlig verkehrter Weise vorgeht, und er sagt: Es ist überhaupt nicht die Rede von Scheldrup Johnsen, sondern die übrige Familie ist es, der es vielleicht ganz gut tut, wenn sie den stolzen Nacken beugen muß. Sie war es, die ich gemeint hatte.
Fräulein Olsen kann es sich leisten, ein gutes Wort für Fia einzulegen.
Fia malt so hübsch, sagt sie.
Finden Sie das? Hier sieht der Rechtsanwalt aus, als könne er sich gezwungen fühlen, sich anders auszusprechen. Als das Fräulein fragt: Ja, finden Sie das nicht auch? antwortet er: Wollen wir nicht von etwas anderem reden – Sie und ich?
Da kam er nun auf seine eigene Angelegenheit.
O, nun aber war es wohl möglich, daß es besser gewesen wäre, wenn er geschwiegen hätte. Er hatte nicht den rechten Schick. Fräulein Olsen mußte natürlich seine jahrelange kühle Zurückhaltung auffallend gefunden haben, und nun sollte er sich erklären, sich gewissermaßen entschuldigen, das war keine einfache Aufgabe. Wo hätte er die schwierige Kunst lernen sollen, um ein Herz zu werben, aber die Mitgift zu meinen? Außerdem war seine Löwenstimme gegen ihn, die war für Schlägereien und Wortkämpfe, hier aber sollte sie etwas hinhauchen, gewissermaßen singen, wahrlich, ein anderer hätte es aufgegeben. Aber er verstand die Gefahr nicht und ging nur drauflos.
Es war ein Glück, daß es das Fräulein damit nicht so genau nahm. Im Lauf der Jahre hatte sie sich ja einige vornehme Unarten angewöhnt, aber sie hatte noch ein richtiges Verständnis für die Dinge und war kein kleines Mädchen mehr. Fia Johnsen war wirklich mit ihrem Komtessewesen auch nicht so sehr weit gekommen.
Der Rechtsanwalt begann ja zu nachdrücklich – der Bauer, der Stier! Zusammenarbeiten, sagte er, ob also die Rede von einem Zusammenarbeiten zwischen ihnen sein könnte? Ob sie darüber nachgedacht habe?
Darauf antwortete sie nichts, aber Zusammenarbeiten, was war denn das? Sie fand jedenfalls nicht, daß das ein Wort sei, das ihr keine andere Wahl ließ, als entweder puterrot zu werden oder das Zimmer zu verlassen.
Nun entwickelte der Rechtsanwalt deutlicher, wie er in diesen zwei Jahren immer an sie gedacht habe – sie habe ihn vielleicht in dieser Zeit vergessen, aber er habe nichts vergessen, er könnte auf die Beilagen Hinweisen, seine beiden Briefe. Alles, was er bei ihrer früheren Zusammenkunft ausgesprochen habe, sei in den Briefen wiederholt, und das gelte auch jetzt noch. Also, Fräulein Olsen, nun ist die Frage die: ist etwas Verständnis und Neigung auf beiden Seiten vorhanden?
Keine Antwort. Er wartete reichlich lange, und schließlich sagte sie wie er: Lassen Sie uns von etwas anderem sprechen!
War das nun wieder Ziererei? Er fühlte sich wohl nicht mehr ganz sicher, ihr Gerede über Scheldrup Johnsen hatte ihn unsicher gemacht; sie hatte so bestimmt behauptet, daß er nie hinter einem Ladentisch gestanden habe und daß er nun Heimkommen werde, um das Geschäft zu übernehmen. Was bedeutete das alles in einem Augenblick wie diesem? Zum Henker, er konnte nicht singen, aber er redete weiter, ob sie längere Bedenkzeit haben wolle? Für ihn sei die Zeit jetzt gekommen, die Ungewißheit habe ihn gerade an diesem Morgen fortgetrieben, um für sich zu reden und zu hören, wie die Sache stehe. Aber vielleicht möchte sie doch lieber noch eine längere Bedenkzeit haben? fügte er hinzu.
Ja, sagte sie nur.
Wirklich? Er müsse gestehen, das könne er kaum glauben, nach Verlauf von zwei langen Jahren und nach allem, was zwischen ihnen vorgegangen sei. Ob sie denn nicht gerade herausgesagt finde, daß diese Stadt allmählich ein trauriges Loch geworden sei? Eine Stadt voll Kummer und Bankerott und Elend, an andern Orten lachten die Leute und es gehe ihnen gut. Welche Art Belustigungen man denn hier habe?
Hier warf sie lächelnd ein: Ich bin nicht an Belustigungen gewöhnt.
Aber sie könne es werden! lautete die Entgegnung. O, an andern Orten alle die vornehmen Straßen und die Schaufenster und Tivoli und Kaffeehäuser, ob sie denn das nicht reizen könne? Und was die Lebensweise betreffe, so handle es sich ja nur darum, wie man sie selbst bestimmen wolle, es gebe nichts, gar nichts, was man dort nicht bekommen könne. Alle Annehmlichkeiten des Lebens seien da auf einem Brett beisammen, die Zeitungen erschienen jeden Morgen und jeden Abend, die Musik spiele, beim Landtag würde geflaggt; am Sonntag könne man, wenn man wolle, den ganzen Tag im Bett liegen, oder man könne ins Theater gehen, oder mit der Straßenbahn irgendwo hinfahren, oder in den Studentenanlagen spazieren gehen, oder einen guten Vortrag hören. Was man hier am Ort denn habe! Wenn sie wolle wie er, dann zöge sie fort von hier –
Auch das war eigentlich kein Gesang, aber es war doch nicht so ganz verkehrt, und das Fräulein hätte nun einiges Interesse an den Tag legen sollen; aber nein. Gott weiß, was hergehörte, um diese Dame etwas aus dem Konzept zu bringen? Der Rechtsanwalt rückt ihr vorsichtig immer näher und erreicht sie schließlich; er hat in der Hauptstadt etwas gelernt, er tastet weniger ängstlich, legt schließlich den Arm um sie und sagt: Liebes Fräulein Olsen, wenn es doch zu einem etwas besseren Verständnis zwischen uns kommen könnte!
Sie stand auf, das tat sie, stand auf, lief aber nicht nach der Tür, die Dame stand nicht vor etwas Unumgänglichen, sie sah ihn nur an und sagte: Ich hoffe, Sie sind nobel, Fredriksen?
Natürlich. Hm. Aber Damen pflegen doch im Gegenteil Freude an ein wenig Hofmacherei zu haben, sagte er, und dabei nickte er und zwinkerte mit dem einen Auge, als verstehe er sich gut darauf. Er habe durchaus nichts Böses gemeint, nur eine Annäherung sie wisse doch, wer er sei, sie kenne ihn –
Ja, das allerdings, erwiderte sie und setzte sich auf das Sofa.
Er sei ja mit einer Menge Damen zusammengewesen, daran fehle es nicht, sei in Gesellschaften gewesen und im Schloß, habe berühmte Sängerinnen gehört und was dergleichen mehr sei – o ja, und einige seien richtig feinfein und nach seinem Geschmack, einzig in ihrer Art gewesen, hätten tief ausgeschnittene Kleider gehabt, die tiefsten Verbeugungen gemacht, Halsketten und Brillanten getragen. Aber eine Familie mit so einer gründen und sie zur Lebensgefährtin erwählen – nein! donnerte Fredriksen und schüttelte den Kopf. Er habe im Gegenteil immer an eine gewisse Dame in seiner eigenen kleinen Stadt gedacht, und auf sie habe er seine ganze Hoffnung gesetzt –
Auf Fia, warf Fräulein Olsen ein.
Wie plötzlich das herauskam! Er wurde ein wenig verdutzt und bemerkte nur: Warum nennen Sie gerade diese?
Fia, sagte er, lassen Sie sie nur in Ruhe, lassen Sie sie in ihrem roten Hut spazieren gehen und lassen Sie sie ihre Bilder malen. Ist es nicht wahr, wenn ich sage, kann man sich ein unnützlicheres Geschöpf denken? Aber das geht uns nichts an, ich begreife nicht, warum wir von ihr sprechen. Ja, mißverstehen Sie mich nun nicht, Fräulein Olsen, die Kunst und schöne Bilder und Gemälde haben ihre große Bedeutung. Ach, du lieber Gott, aber wie so ganz anders sind Sie als dieses Frauenzimmer, es ist nicht halb soviel an ihr wie an Ihnen, dünn und zart und lange Stelzen. Gott bewahre mich davor!
Es konnte Fräulein Olsen nicht unlieb sein, auch einmal vorgezogen zu werden und als die erste zu gelten, seinerseits war der Rechtsanwalt keineswegs karg: wenn Anerkennung ihr etwas Ungewohntes war, dann sollte sie solche jetzt bekommen! Fräulein Olsen steht wahrhaftig auf und stellt den Aschenbecher vor ihn hin, da hat er es behaglich, und bei dieser Freundlichkeit, dieser Häuslichkeit riß ihn wohl die Liebe mit fort, und er nahm sie in den Arm. Sie wiederholte nur: Seien Sie nobel, Fredriksen! entfloh aber nicht wie ein Traum, sondern ließ sich neben ihm auf einen Sessel niederfallen. Er war ja nicht gefährlich und gefräßig, er war nur ein wenig grob und ungebildet wie alle Männer, was übrigens die Mannsleute nicht übel kleidet.
Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie sehr hingenommen von Fia gewesen sind, sagte sie.
Von Fia? Daß sie das sagen konnte, daß sie das in den Mund nehmen mochte! Hören Sie einmal, eine Malerin, die reine Bleichsucht! Fräulein Olsens wegen würde er sofort die ganze Welt umsegeln, aber Fias Bilder wegen keinesfalls. Da haben Sie's! Die Kunst jawohl, aber fürs Tägliche ziehe er im ganzen genommen Fräulein Olsens Beine und Arme und Brustpartie und Figur vor. Ach, Fräulein Olsen! sagte er.
Sie hat hübsche Zähne.
Sprachen sie denn noch immer von Fia? Beim Satan, wie zäh war doch Fräulein Olsen, wenn sie von etwas zu sprechen angefangen hatte. Er antwortete damit, daß er sich an sie anlehnte, bedeutend näherrückte, daß er den Arm um sie legte und sich's an ihrem warmen Rücken bequem machte. Und natürlich redete er währenddessen: nun wolle er ihr sagen, wer hübsche Zähne habe. Und jetzt wolle er ihr sagen, wer ein hübsches stattliches Mädchen und ein Schmuck in ihrem reichen Hause sei. Er sei ja jetzt in vornehmen Häusern gewesen, ja, geradezu an höheren Orten, deshalb könne er vergleichen, und das wolle er hervorheben, eine so herrliche Gestalt und so herrliche Formen im großen und ganzen genommen – wohingegen Fia, sehen Sie nur an sich selbst hinunter, Fräulein Olsen, und dann sehen Sie Fia an, das ist, Gott helfe mir, wie wenn man aus den Wolken wieder auf die Erde herunterkommt. Und im übrigen, alles, was sie sagt und tut und wie sie aussieht – lauter Kunst und Finesse und Spitzen und Ziererei alles miteinander.
Fräulein Olsen mußte über die Spitzen lachen, und da wuchs dem Rechtsanwalt der Mut noch mehr. Wären es wenigstens noch Hosenspitzen! sagte er.
Er fühlte, wie sich ihm ihr Rücken etwas entzog, als ob sie aufstehen wollte, aber sein Arm hielt sie fest. Ja, das habe er gerade heraus sagen müssen. Und hohoho, lachte er, man wolle sich doch nicht nur mit Luft verheiraten. Er gehöre nicht zu denen, die die Freuden des Lebens verachteten, im Gegenteil, er sei in dieser Beziehung ein Freund von guten Narrenstreichen und Annehmlichkeiten, und wenn er es recht verstehe, so sei Fräulein Olsen selbst genau so beschaffen und geradeso angelegt, nicht war?
Jetzt müssen Sie mich loslassen, sagte sie, und wieder glitt ihr Rücken von ihm weg.
Er mußte zum Ernst und dem Geschäftlichen zurückkehren; nun erklärte er ihr, jetzt sei der Augenblick gekommen, die nächsten Wahlen würden ihn wieder in die Nationalversammlung führen, und dann sei es selbstverständlich, daß er in die Regierung komme. Es könne von ihm sanguinisch aussehen, so zu denken und so zu sprechen, aber es fehle ein Vertreter für die Seefahrt, und er habe ja als Obmann der Matrosenkommission eine gründliche Kenntnis auf diesem Felde bekommen, sagte er.
Ei, dann werden Sie ja Staatsrat! sagte sie.
Nach menschlicher Berechnung, ja, erwiderte er. Sie solle doch ja nicht denken, das sei nur ein Hirngespinst von ihm. Abgesehen davon, daß er schon in den Zeitungen als der kommende Mann bezeichnet worden sei, habe er auch dies und jenes hinter den Kulissen gehört. Und Fräulein Olsen, jetzt frage ich Sie von ganzem Herzen, könnte es sich nun nicht so schicken, daß Sie mein Schicksal mit mir teilten und die Frau eines bekannten Politikers würden, die Frau eines Staatsrats?
Keine Antwort.
Er redete weiter, aber er ließ doch so nebenbei durchblicken, daß er auch ohne sie nicht ganz und gar verzweifeln müßte, er habe verschiedene Bekanntschaften gemacht, jetzt aber sei Fräulein Olsen sein einziger Gedanke. Er gehe davon aus, daß ihre Eltern, der Konsul und seine Gattin, nichts dagegen einwenden würden, er wolle sie ja nicht zu einer gewöhnlichen Frau machen. Wie nun ihre Antwort laute, ob er hoffen dürfe.
Und endlich gab sie Antwort. Ich kann nichts darüber sagen, lautete diese.
Sie meinen doch wohl jedenfalls, daß Sie es sich noch überlegen wollen?
Ja, ja. Ich will es mir überlegen.
Wie lange?
Das weiß ich nicht. Wir wollen jetzt nicht weiter darüber reden.
Wollen wir nach den Wahlen darauf zurückkommen?
Wie lang ist das?
Vier bis fünf Wochen. Ich möchte Sie so gerne mitnehmen, wenn ich wieder nach Christiania muß, ich sehne mich nach Ihnen und ich liebe Sie. Wir wollen uns eine eigene Wohnung einrichten, Gäste bei uns sehen, einflußreiche Leute, Politiker. Und ganz richtig, während ich daran denke: wir wollen Ihrem Schwager zwei Bilder abkaufen, wenn ich es gesagt habe, dann steht es fest, aber Sie müssen sie selbst auswählen. Sollen wir also sagen, wir warten bis nach den Wahlen?
Ja, ja.
Sie versprach nichts, keine Spur. Als er gegangen war, blieb sie noch eine Weile sitzen und überlegte. Fräulein Olsen konnte sich nicht beklagen, nichts war ihr zerstört worden, sie war durchaus noch nicht verloren, ihr Los war sicherlich nicht das schlimmste. Soweit konnte es kommen, daß sie einen Mann hatte, für den die Stadt einmal, wenn er kam, beflaggen würde, wer hätte in dem Falle dann einen ähnlichen Mann aufzuweisen?
Sie hört Schritte auf der Treppe und denkt: Kommt er noch einmal? O, eine viel größere Überraschung als das sollte ihr werden: herein traten ihr Vater und Konsul Johnsen, der Doppelkonsul selbst, der noch niemals einen Fuß über ihre Schwelle gesetzt hatte, jetzt kam er und verkaufte sein Landhaus an Grütze-Olsen.