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Gewiß ist es am besten, wenn eine Hochzeit im Hause der Braut gefeiert wird, aber Konsul Olsen feierte die Hochzeit seiner jüngsten Tochter in der Hauptstadt, im Palmensaal eines großen Hotels. Er hatte allerlei Pläne im Kopf, wer weiß, ob er nicht sogar daran gedacht hat, die Hochzeit in einem überseeischen Land, in Argentinien oder Australien zu feiern. Das gefiel diesem Mann mit dem weiten Gedankenkreis, etwas Derartiges recht flott und augenfällig zu machen, ein großes Hotel war gut, man brauchte nur fünf Lohndienern zu telephonieren. Das war nicht nur fein, sondern auch praktisch, denn seiner Frau blieb dadurch viel Mühe und Arbeit und Sorge mit der Bewirtung erspart.
Dann wird also der Maler, der Hardesvogtssohn, mit seinem Modell getraut. In der Heimatstadt der Braut wird ein wenig darüber gelästert; als man am Brunnen alles genau überlegte, war es entschieden auffallend. Aber auf jeden Fall hatte die junge Dame den Kaufmannsstand und Scheldrup Johnsen aufgegeben; jetzt sollte es nicht mehr am liebsten der Scheldrup sein, sondern am liebsten ein anderer.
Zu dieser Hochzeit ist der Rechtsanwalt Fredriksen eingeladen; er ist ja als Abgeordneter und Vorsitzender seiner Kommission schon in der Hauptstadt anwesend. Er konnte nicht gut umgangen werden, denn er war eine bedeutende Persönlichkeit, hatte gewissermaßen etwas Amtliches, beinahe den norwegischen Löwen auf der Brust. Willkommen! sagte Grütze-Olsen und führte seinen Gast zu einem Ehrensitz an der Tafel.
Und hier bei dieser Gelegenheit will der Rechtsanwalt Fredriksen den Grundstein zu seinem Glück legen und eine vorläufige Verabredung mit Grütze-Olsens anderer Tochter – der älteren – treffen. Es sollte noch geheimgehalten werden, sie wollten noch ein wenig warten, Gott weiß warum, allein das gehöre zu seinen Zukunftsplänen, sagte der Rechtsanwalt, er werde ja doch nicht immer nur Abgeordneter bleiben, und damit Punktum. Aber die vorläufige Verabredung sollte herrlich bindend sein.
Also sollte auch Grütze-Olsens zweite Tochter den Kaufmannsstand und die flotten Kaufleute aufgeben. Sie war groß und gesund, hatte einen schönen Mund, eine schwere Menge aschblonder Haare; der Rechtsanwalt war schon bei Jahren, kein Turner mehr, ein bißchen unreinlich, ohne griechische Nase, aber ein Teufelskerl, ohne viel Haare, aber mit einer wulstigen Hautfalte im Nacken – es war also eine Schattierung Unterschied zwischen den beiden. Der Rechtsanwalt war schon recht.
Er kehrte wieder in die Stadt zurück. Gewiß, er war sofort Vorsitzender der Kommission wegen der mißhandelten Matrosen geworden, und er trug den Kopf hoch. Eine solche Karriere! O nein, er rannte niemand über den Haufen, aber es war, als ob er eine noch gewichtigere Stimme bekommen hätte, eine Donnerstimme. Das kam wohl von der Übung im Landtag, als er seine berühmte Interpellation einbrachte.
Da geht er nun gegen Abend in den Straßen spazieren, es könnte ja jemand Lust haben, mit ihm zu reden, der Doktor, der dem Doppelkonsul die Interpellation gönnte, der Zollverwalter, der zur Linken gehörte, der junge Assistent beim Hardesvogt, der selbst Rechtsanwalt werden wollte, und noch mancher andere aus dem Volke. Und der Abgeordnete gönnt jedem im Vorbeigehen ein paar Worte. Aus irgendeinem Grunde war es ihm am wenigsten angenehm, daß sich der Doktor jetzt gerade an ihn hängte; aber er konnte dem nicht entgehen, die anderen gingen ihres Weges, der Doktor jedoch ließ ihn nicht los, er war ganz wie früher.
Ganz derselbe Mann in der Stadt, ja. Der Doktor ändert sich nicht, er besucht Kranke, schreibt lateinische Rezepte, glaubt an seine eigene Gelehrsamkeit und an seine Wissenschaft und verdient sein Brot. Er hat genug an der Plage jedes Tages. Selten einmal trifft ihn ein kleiner Glückszufall, wie zum Beispiel, als ihn Henriksen von der Werft nach dem Tode seiner Frau mit einem großen Geldschein bezahlte; aber im großen und ganzen hat der Doktor wenig Freuden. Er ging seinerzeit von dem einen Kaufmann, von Johnsen, mit dem er unzufrieden war, zu einem anderen über, zu Davidsen, und wollte es einmal mit diesem versuchen; aber sie waren beide ganz gleich, auch Davidsen schickte eine Rechnung. Der Ärmste war zwar Konsul, allein er war nicht reich und mußte kleinlich sein, alle waren Krämer. So war der Doktor zur Zeit ohne einen festen Lieferanten.
Er war nicht zu beneiden, mit seinem Dasein war kein Staat zu machen. Natürlich grämte er sich niemals über sich selbst, darüber, daß er nicht die Gabe hatte, sich zu ändern, zu bessern, daß er nicht ins Leben paßte, ein Verirrter, ein sauertöpfischer Mensch, ein Narr, dummstolz inmitten der Zweifelhaftigkeit seines Charakters. An den Leuten in der Stadt und zum Teil auch an der Vorsehung lag der Fehler. Sicherlich war es so, er selbst war ganz so, wie er sein sollte.
Ach wie er sich hätte ärgern können!
Der Doktor hatte kein Herz für ein richtiges Wagnis, für Gefahren; aber einen Streit scheute er nicht, im Gegenteil, er bohrte und stichelte, wo er Gelegenheit dazu hatte, und machte sich seiner Zunge wegen überall gefürchtet, eine unverscheuchbare Bremse, eine Wespe mit einem Stachel. Es freut ihn, daß ihm nicht jedermann richtig zu antworten wagt. Das war ein Triumph im gegebenen Augenblick, er spottete und lachte darüber. Von Natur böse war er nicht, weit entfernt, seine Eigenschaften hatte er sich erst zugelegt, die Schule und die schematische Entwicklung nach Büchern hatten ihn zu dem gemacht, was er war. Nein, er brachte es auch nicht zu einer achtbaren Größe in der Bosheit, er hatte zu spät damit angefangen, erst als älterer, schiffbrüchig gewordener Mensch, er brachte es nur bis zu einer säuerlichen Unzufriedenheit, brachte es zu Bitterkeit, Groll, Eifersüchtelei, Klatsch. Wenn ein Mensch starb, sagte dieser Arzt mit der gefährlichen Zunge: Jetzt ist wieder ein Paar Schuhe freigeworden! Und es freute ihn zu sehen, daß seine Zuhörer ein etwas sonderbares Gesicht machten.
Er konnte dies auch dem Abgeordneten gegenüber nicht lassen, sondern stichelte auf allerlei Weise drauf los. So mußte der Doktor mißbilligen, daß ein Mann wie der Rechtsanwalt Fredriksen auf Stiefeln mit hohen Absätzen daherwackle, wenn er auch Abgeordneter geworden sei. Er sei ja vordem schon mühselig genug gegangen. Der neue Überzieher gehe noch an, aber solche Stiefel für solche Füße!
Der Rechtsanwalt wußte nichts davon, daß mit seinen Füßen irgend etwas Besonderes los sei.
Das kommt davon, weil Sie nichts von Anatomie verstehen!
Soviel Anatomie, als ich brauche, versteh ich schon.
Da haben wir's: man kommt in den Landtag und meint, man brauche dazu gar nicht mehr zu wissen, als man weiß.
Man kommt zuweilen zum Bezirksarzt in seinem Wahlkreis zurück und vervollständigt sein Wissen.
Hoho, das Vervollständigen tut's nicht, man muß am Anfang anfangen, lieber Freund.
Der Rechtsanwalt wollte keinen Wortwechsel, andererseits wollte er aber auch dem respektlosen Kerl nicht den Triumph gönnen, daß er böse wurde und davonlief. Er blieb also und schwieg, o, aber er war sich die ganze Zeit über bewußt, wie klein der Doktor in seinen Augen war! Da haben wir ja auch den Barbier Holte. Guten Abend, Holte! sagt er und bleibt stehen, in der Hoffnung, der Doktor werde weitergehen. Nein, der ging nicht. Um welche Tageszeit ist es am wenigsten voll bei Ihnen, Holte? Ich möchte mir die Haare schneiden lassen.
Was, mögen Sie in den Babierladen gehen und dort warten, bis Sie an die Reihe kommen? Sie können ihn ja zu sich kommen lassen.
Wir Demokraten sind nicht so vornehm, erwidert der Rechtsanwalt.
Sagten Sie vornehm? Nein, das weiß Gott!
Sie begegneten dem Schreiner Mattis und: Guten Abend! grüßte der Rechtsanwalt wieder, sprach einige Worte mit ihm und ließ ihn dann gehen.
Der Doktor sagte: Ja, der gute Mattis, er hat wahrhaftig auch braunäugige Brut im Hause. Das ist ihm auch keine Freude gewesen.
Aber nun kam der Doktor durch irgendeine Gedankenverbindung auf etwas anderes, er sagte plötzlich: Ihre Interpellation war prächtig. So hat es ihm gehört, dem Schweinigel!
Der Rechtsanwalt erwidert abweisend: Nein, mit dieser Interpellation bin ich selbst von allem, was ich darin getan habe, am wenigsten zufrieden.
Sofort stichelt der Doktor: Was haben Sie denn sonst noch getan?
O, nichts, sagte der Rechtsanwalt und will einen Wortwechsel vermeiden.
Da der Doktor jetzt den großen Mann klein genug hatte, so hatte er seinen Willen und konnte nun gerne auch sein Wohlwollen zeigen: Natürlich tut man vielerlei im Landtag, wovon wir Außenstehenden keine Ahnung haben. Komiteearbeit zum Beispiel, von der Arbeit in der Kommission gar nicht zu reden. Es ist ganz gut, daß Sie einmal in das Verhältnis zwischen Matrosen und Reeder hineinleuchten, machen Sie nur ganze Arbeit, warum in aller Welt sollen diese Reeder so reich werden? Unwissende und ungebildete Kerle, die gelernt haben, hinter einem Ladentisch zu stehen, aber sie rauchen Zigarren mit goldener Bauchbinde, trinken Madeira von einem alten guten Jahrgang, und ihre Frauen und Töchter tragen Brillantringe, es ist zum Speien! Ei, zum Henker, da kommt ja der Postmeister! Da müssen Sie mich entschuldigen, ich drücke mich jetzt! Jetzt wird er wieder seine Überzeugung von den vielen Erdenleben lüften. Können Sie sich etwas Schrecklicheres denken, als diesen Mann? Schon allein, daß sein Leben bewußt und unablässig auf das Gute gerichtet ist, hehe! Nachkommen! sagt er und freut sich über seine Kinder. Er ist ein Narr. Ich hoffe, Sie entschuldigen, daß ich mich davonmache, ich meine es besser mit mir, als daß ich ihn anhören möchte. – Guten Abend, Herr Postmeister! Sie sind wohl wieder auf der Suche nach Gott? Eben haben wir von Ihnen gesprochen.
Ich sage Dank für alles Gute, das die Herren von mir gesprochen haben.
Und was vielleicht Böses gesagt wurde?
Das haben Sie jedenfalls nicht angehört.
So. Auch ich bin mir selbst der Nächste.
Gerade darum, sagt der Postmeister.
Der Doktor stutzt und sagt: Sieh, sieh, Sie meinen also, ich diene mir selbst am besten, wenn ich Gutes von Ihnen rede?
Ja, das meine ich, wenn Sie Gutes von allen Menschen reden. Herr Rechtsanwalt, willkommen wieder daheim!
Der Doktor wollte ja eigentlich gehen, aber in der milden Zurechtweisung des Postmeisters lag etwas, das ihn veranlaßte, noch einen Augenblick zu bleiben und ihm jedenfalls die Spitze zu bieten: Herr Postmeister, Sie gehören gar nicht in diese Welt hinein. Sie glauben an das Gute und sagen: Was soll man glauben? Diese Welt will Logik und Realität, keine Gefühlsduselei.
Bei solchen Streitigkeiten hatte der Postmeister den Vorteil, auf bekanntem Gebiet zu sein, wo ihn sein Nachdenken wenigstens auf einen festen Standpunkt geführt hatte. Darum war er auch oft dazu aufgelegt und vollkommen bereit, seine Meinung zu verteidigen, zuweilen sogar recht schlagfertig. Außerdem war der Postmeister durchaus kein Lamm, er konnte bisweilen recht verletzend sein mit niedergeschlagenen Augen und einem leichten Lächeln. Was er sagte, war eigentlich gar nicht viel, nur einige ganz höfliche Worte, aber sie waren nicht immer harmlos.
Was diese Welt will, weiß ich nicht, sagte er. Es sollte übrigens nicht nur darauf ankommen, was sie will, sondern auch darauf, was sie wollen sollte. Da die Logik nun einmal so eine armselige Sache ist, so hätte die Welt vielleicht noch etwas außer ihr nötig. Ich weiß nicht, mit der Logik kommt man nicht weit.
Doch, in der Wissenschaft.
Meinen Sie?
Ob ich das meine? Die Wissenschaft hat keinen Gebrauch für Metaphysik und Aberglauben; das ist ihre Logik.
Der Postmeister schüttelt den Kopf. Die Wissenschaft tanzt mit ihrem Spieß um die Metaphysik herum und sticht nach ihr, ohne daß ihr das im geringsten schadet. Schadet es wirklich nicht? Nein. Denn diese fundamentale Lebensmacht ist unverletzlich und ewig. Man kann nicht mit dem Spieß in ein Meer stechen und es verletzen.
Sind Sie auf der Volkshochschule gewesen? fragt der Doktor.
Nein, ich bin nicht – wie Sie auf einer hohen Schule gewesen.
Durch diese Stichelei ließ sich der Doktor verleiten, grob zu werden. Es hätte Ihnen gar nichts geschadet, wenn es der Fall wäre. Dann säßen Sie vielleicht nicht hier in dieser guten Stadt als Postmeister.
Sie meinen, das sei nichts Großes?
Was meinen denn Sie selbst?
Ich bin zufrieden. Einige können allerdings ihre Lust, für groß zu gelten, selbst wenn sie es sind, nicht verleugnen. Diesen Fehler haben manche.
Wir haben von der Wissenschaft gesprochen.
Der Postmeister unterbricht ihn: Nein, entschuldigen Sie! Ich bin nicht – wie Sie – ein Mann der Wissenschaft, wissenschaftliche Fragen kann ich nicht erörtern.
Das ist entschieden ein Fehler von Ihnen, sagte der Doktor und fuhr dann fort: Wissenschaftliche Wahrheiten sind entweder selbstverständlich oder logisch zu beweisen, oder beides. Nun, die Metaphysik ist keines von beiden.
Aber, Herr Doktor, ich sage weder, noch meine ich, die Metaphysik sei eine Wissenschaft, sie ist vielmehr gerade das Gegenteil.
Dann ist es leeres Geschwätz, Herr Postmeister, und nichts anderes. Wenn wir die Wissenschaft nicht hätten, was hätten wir denn dann? Moses und die Propheten – laßt sie diese hören!
Die Metaphysik setzt da ein, wo die Wissenschaft aufhört; jawohl, das tut sie.
Die Wissenschaft hört niemals auf. Sie tastet, sie reicht nicht immer völlig zu, aber sie strebt und strebt vorwärts und geht immer weiter
Gewiß, so sagt man ja, erwidert der Postmeister. Ich habe mich auch unrichtig ausgedrückt, ich wollte sagen, die Metaphysik setze da ein, wo die Wissenschaft nicht völlig zureicht, an den wenigen Punkten, Kleinigkeiten, Einzelheiten, wo die Wissenschaft nicht bis auf die oberste Spitze gedrungen ist. Es handelt sich nur um Haaresbreite. So wollen wir sagen.
So, Sie wollen spotten! Sie glauben ja, um das Rätsel des Lebens zu erklären, an ein ganzes System von Erdenleben. Daher nehmen Sie das Licht auf Ihrem Wege.
Was soll man glauben! erwidert der Postmeister. Zuweilen ist ein kleines Licht darin, das sind Sterne in der Nacht. Es ist kein starkes Licht, ist nicht Sonne und heller Tag, aber es sind doch Sterne in der Nacht. Man kann doch etwas dabei erkennen.
Wäre es nicht besser, das Licht der Wissenschaft zu haben, so weit es eben reicht?
Das hab ich auch. Wo dieses aufhört, muß ich mich ohne es behelfen. Dann steht die Wissenschaft weit hinter mir – das heißt um Haaresbreite – und schaut mir nach, wo ich gehe.
Na, entschuldigen Sie, die Wissenschaft hat anderes zu tun, als Ihnen nachzuschauen. Und wenn sie zurückbleibt, so tut sie klug daran, denn sie will festen Grund unter den Füßen haben.
Einen Grund, der sich in jedem Menschenalter ändert.
Ja, so sagen die Toren, die nichts davon verstehen. Ändert zum Beispiel die Mathematik ihre Grundlagen?
Nicht, um Ihnen zu antworten, sondern um Ihnen noch weiter Spaß zu machen, sage ich: Die Mathematik muß zu Anfang etwas »setzen«. Sie suchte im Licht meiner Sterne und fand ein armseliges X, um darauf zu fußen. Ehre dem X, es steht statt etwas Besserem.
Kurz und Gut, die Mathematik hat also auch keinen Wert?
Meinen Sie? Sie ist gewiß viel wert für die Leute, die reine, klare Gedankenarbeit lieben, um des Denkens willen. Die Mathematik steht für sich allein und ist, was sie ist. Aber für unser geistiges Leben ist sie vollkommen gleichgültig.
Der Doktor fuhr sich mit beiden Händen nach den Ohren, als ob er sie zuhalten wolle, eine unwillkürliche Bewegung gänzlicher Ratlosigkeit. Warum hatte er sich auch auf diesen nutzlosen Wortwechsel eingelassen, der ihm langweilig war und ihn ermüdete! Er ging nicht so weit, sich die Ohren wirklich zuzuhalten, er schwankte vielleicht einen Augenblick, ob er einen Schrei ausstoßen oder davonlaufen solle, dann faßte er sich aber und trieb seine Festigkeit so weit, daß er den Hut zog und sagte: Danke, jetzt hab ich genug. Ich muß Krankenbesuche machen mit meiner armen Wissenschaft! Damit bog er in eine Seitengasse ein.
Als auch der Postmeister gehen wollte, hielt ihn der Rechtsanwalt zurück; sie mußten jetzt am Geschäft von C. A. Johnsen, am Doppelkonsulat vorbei, und der Rechtsanwalt wollte jemand haben, mit dem er reden konnte, während er an den Fenstern vorbeiging. Ach, er wußte wohl, was er tat, wenn er diesen Weg wählte, er wollte bis hinaus an das Haus des Doppelkonsuls und daran Vorbeigehen, hinauf auf die Hügel, zum Aussichtspunkt. Er hatte seine Gründe dafür.
Der Rechtsanwalt erhob seine Stimme bis zur Stärke der Stimme der Interpellation: Alles, was Sie da gesagt haben, Herr Postmeister, ist ja sehr schön, und ich habe viel Herz dafür. Aber wird uns nicht all diese Metaphysik und Geistigkeit untüchtig fürs Leben hienieden machen? Wird sie nicht unsere Tatkraft hemmen?
Ich will Sie nicht belehren, aber wenn sie mich fragen: ich hoffe, daß sie uns ein wenig vorwärtsbringen wird. Wir werden davor zurückschrecken, uns ungerechte Vorteile zuwenden zu wollen, wir werden uns davor hüten, einander gar zu offenkundig auszusaugen. Das finden Sie doch nicht verkehrt?
Nein.
Wir sind jetzt sinnlos damit beschäftigt, einander auf die Seite zu stoßen, um selbst vorne hinzukommen, wir sollen konkurrieren, heißt es, ja mehr als konkurrieren. Wie wär's, wenn wir etwas mehr an uns selbst, anstatt für uns selbst arbeiteten?
Aber wenn es nun gerade diese Arbeit an uns selbst ist, die unseren irdischen Tatendrang hemmt? So kommen wir in der Welt nicht vorwärts.
Aber wir kommen im Leben höher hinauf. Wie wäre es, wenn wir uns von Zeit zu Zeit vor Augen hielten, daß wir nicht Hunderte von Jahren in einem Zuge hienieden leben werden! Wir kommen auf die Welt, werfen auf alles einen Blick und gehen wieder. Gewiß, Herr Rechtsanwalt, wir kommen vorwärts, wenn wir auch nicht über die anderen hinauskommen.
Wir sind verschieden fürs Leben ausgerüstet, haben vielleicht auch verschiedene Bestimmungen, Napoleons Tätigkeit war von dieser Welt, er wollte vorwärts, wenn es auch über die anderen hinwegging.
Aber das war nicht die Seite an ihm, von der er selbst und die Welt den größten Segen hatte.
Das war wohl sein Schicksal. Er und andere – wir handeln alle, wie wir getrieben werden.
Wir stellen die Übermacht des Schicksals fest, ja. Damit haben wir eine süße Entschuldigung für unser eigenes Benehmen.
Na, jetzt nahm sich der Postmeister doch etwas zu viel heraus, wurde vielleicht sogar persönlich ausfällig, das wollte sich der Rechtsanwalt nicht bieten lassen, dazu hatte er ihn nicht mitgenommen. Ich will bis hinauf zum Aussichtspunkt. So weit wollen Sie doch vielleicht nicht mitgehen?
Nein, erwiderte der Postmeister, und nun kehrte er um.
Rechtsanwalt Fredriksen atmete auf, alles ging, wie er berechnet hatte, er sah nach der Uhr. Am meisten freute ihn, daß er den Doktor losgeworden war, er kannte dessen gespanntes Verhältnis zu Konsul Johnsen und wollte jetzt nicht gern in seiner Begleitung gesehen werden. Er pfiff auf die Geistigkeit und Metaphysik, Dinge, die unserem Leben hienieden nur im Wege stehen, wir wollen doch weiterkommen in der Welt. Er wollte nicht gerade einen andern über den Haufen rennen, nein, das wollte der Rechtsanwalt Fredriksen nicht, aber er wollte auch nicht gehemmt werden. Das war der gesunde Tätigkeitsdrang. Nein, jemand über den Haufen rennen, mit dem Messer zustoßen? Keine Spur! Berntsen, der Erste Ladendiener bei Konsul Johnsen, wartete wohl auf Haussuchung und Verhör, aber es sollte nicht geschehen, der Herr Reeder sollte Frieden haben.
Das fehlte gerade noch, daß er noch unangenehmer gegen Konsul Johnsen wurde, als er gewesen war. Der Rechtsanwalt hatte die Zähne gezeigt, gebrauchen wollte er sie nicht, als Vorsitzender des Komitees hatte er humane, und als Rechtsanwalt Fredriksen intime Gründe, so aufzutreten.
Er geht am Hause des Doppelkonsuls vorbei, ein Haus mit Schnitzwerk, Altan und Veranda, ein großes Haus, Garten mit Flieder und Jasmin, ein Duft von Reichtum und Kultur, Springbrunnen, Zementurnen, Schmetterlinge, Flaggenstange, alles was dazu gehörte. Er geht auf die Anhöhen zu, richtig, Fräulein Fia macht ihren Abendspaziergang, sie sucht Erholung nach der Arbeit des Tages. Er hat sie nicht vergessen und nicht aufgegeben, er schaut sie mit denselben Augen an wie zuvor, wie die Armut Millionen anschaut. So viel war sicher, jetzt hatte er bessere Aussichten bei ihr, vielleicht wollte die Dame nicht noch weiterhin sich selbst im Wege stehen und schlecht rechnen. Hatten sie und ihre Familie jetzt nicht Hochachtung vor seinem Abgeordnetentum bekommen?
Fia sah ihn hinterher kommen und ging rascher zu.
Ach, die Dame rechnete wohl gar nicht, hatte keine Übung im Rechnen, keinen Bedarf zu rechnen; wie sie geschaffen und angelegt war, mochte Gott wissen!
Sie geht immer rascher, aber das hilft nichts, er holt sie ein, und er bekommt auch in dieser rosenroten Abendstunde seinen endgültigen Bescheid von ihr. Wie rasch sie ging, wie eifrig sie ihm auszuweichen versuchte! Wie stark mußte ihr Verlangen nach Sonnenuntergang und Schönheit sein, wenn sie so lief! Aber Rechtsanwalt Fredriksen war nicht der Mann, der etwas gleich verloren gab.
Er rief ihr, noch hinter ihr, einen Gruß zu und sagte außer Atem: Sie rennen mir beinahe die Seele aus dem Leibe Fräulein Fia.
Sie, fein und blaß, mit vielen Vollkommenheiten, wie gewöhnlich etwas geputzt, kühl, wieder ganz die Komtesse, sprach: Das tut mir leid. Ich war in Gedanken versunken, ich pflege hier spazieren zu gehen, um allein zu sein.
Ist es Ihnen angenehm, so allein zu gehen? fragt er. Woran denken Sie, wenn Sie hier oben sind?
An das da draußen, erwidert sie und deutet auf die ganze Welt, Wolken, Meer, Nirwana. Ja, das tut mir gut. Und sie begriff wohl diesen Mann gar nicht, dieses Tier, das neben ihr stand und keinen edeln Naturgenuß kannte. Wie jemand nur dafür kein Gefühl haben konnte!
Ich bin eben erst vom Landtag heimgekehrt, sagte er; und ich wollte Sie gerne begrüßen.
Sehr liebenswürdig.
Sie sind wohl auch eine Weile weggewesen?
Sie erwiderte: Sie wissen, ich komme und gehe. Jetzt will ich nach Paris.
Beim Satan! dachte er wohl, groß, groß mußte es sein, Notre Dame, Eiffelturm, Rothschild. Und in diesem Augenblick überkam ihn wohl eine gewisse Angst, er stehe etwas unter ihr, denn er sagte: Was sollen wir Abgeordneten und Rechtsanwälte sagen über das wirklich Große? Daß es unerreichbar ist. Aber auch wir verstehen das eine und das andere, Fräulein Fia.
War das eine Unterhaltung für diese Dame!
Ich meine, auch wir können steigen, Stufe um Stufe, zu höheren und immer höheren Stellungen. Das ist das Gute bei der demokratischen Gesellschaftsordnung, daß jeder die höchsten Posten erreichen kann.
Schweigen. Die Dame schien seine Aussichten nicht zu erwägen.
Nein, Rechtsanwalt Fredriksen ging also zu seinem Vorhaben über, er gab ihr zu verstehen, was sie für ihn war, daß sie einfach alles für ihn sei, und ob sie ihm ein wenig mehr Hoffnung machen könne, etwas mehr Hoffnung als das letzte Mal.
Nein, sagte die Dame.
Ob er recht gehört habe, ob sie es sich auch diesmal nicht noch überlegen wolle?
Nein, sagte sie und schüttelte den Kopf. Betrachten Sie doch lieber den Sonnenuntergang, sagte sie. Sehen Sie doch nur diese Farben! Wie prachtvoll die Welt von hier aus ist!
Nein, er gab sich nicht: Ja, die Aussicht ist recht schön, aber die Aussichten?
Fragend schaute sie ihn an.
Meine Aussichten? Die Zukunft!
Nun wurde sie wirklich ein wenig ärgerlich, er hätte doch etwas anderes sagen können, wenn sie ihn auf Farben aufmerksam machte. Hatte denn dieser Mensch gar keine Poesie und Kultur? Nein, entschuldigen Sie, von Ihrer Zukunft müssen Sie mit anderen reden, sagte sie.