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Es kann gut sein, daß Abel einen Fehler machte, als er diese Bootfahrt ins Werk setzte. Klein-Lydia kam nicht mit, und der Tag war verdorben. Er hielt bis zum Abend auf einer grünen Insel aus, schrie und machte sich zum Hanswurst, aber als er wieder zu Hause war, wollte er sofort Klein-Lydia aufsuchen und Rechenschaft von ihr fordern. Er traf sie nicht; es war Sonntag, Klein-Lydia saß beim Polizei-Carlsen und übte Klavier.
Gut.
Am nächsten Abend suchte er sie wieder auf, traf sie aber wieder nicht; sie war ausgegangen. Ihre Schwestern waren zu Hause.
Nun mußte es Klein-Lydia erfahren haben, daß er sie sprechen wollte, aber sie kam ihm nicht entgegen, sie wich ihm aus. Na, dann war es wohl eine natürliche Sache, daß sie ausgegangen war, am dritten Abend würde sie gewiß zu Hause sein.
Nein.
Da wurde Abel zahm. Er hielt zwar die Welt immer noch für einen Ort, an dem es sich aushalten ließ, aber es war keine interessante Welt, und das Leben war abscheulich und unnötig. Heute hatte er Klein-Lydia und ein paar andere Mädchen mit Reinert zusammen gesehen – dieser Küsterssohn, der sich immer mit den Mädchen herumtrieb – mit dem zusammen hatte Abel Klein-Lydia gesehen. Das war ja nett! Dem Reinert wollte er einen Riegel vorschieben vor sein ruchloses Betragen, und Klein-Lydia mußte gerettet werden. Das wollte Abel tun, er wollte sie retten. Allein so etwas läßt sich nicht mit dem Hammer machen, dazu gehört Geduld und große Feinheit. Kann man nicht in den Hafen flott hineinfahren, dann warpt man sich eben in den Hafen. Er nahm sich nicht vor, noch öfter zu dem Mädchen zu gehen, weit entfernt, er gedachte sie zufällig auf der Straße zu treffen. Als er sie aber nach ein paar Tagen noch nicht gesehen hatte, schlich er sich doch in den bekannten Hinterhof.
In dieser Zwischenzeit war er still geworden, war wieder aufgeflammt, war wieder still geworden, noch mehrere Male aufgeflammt, jetzt im Augenblick war er rasend, als er aber das Mädchen traf, konnte er doch nicht weniger zu ihr sagen, als: Na, wo hast du dich herumgetrieben? Wenn wir heiraten, wird das ein anderer Tanz. Warum bist du am Sonntag nicht zu der Bootfahrt gekommen?
Klein-Lydia hatte ihn vielleicht an diesem Abend erwartet, hatte sich vielleicht auf eine sehr große Freundlichkeit eingestellt, sie lächelte, nickte ihm als Erwiderung seines Grußes zu und sagte: Bist du's Abel?
Dies entwaffnete ihn. Eigentlich hätte er nun mit einem Menschen Abrechnung halten müssen; aber als Führer dieses Unternehmens blieb er merkwürdig mutlos stehen und starrte geradeaus.
Lydia ihrerseits wich keineswegs davor zurück, zu den Tatsachen zu kommen: Warum ich am Sonntag nicht mitgekommen bin? Ich mußte Klavier üben und beides konnte ich doch nicht zu gleicher Zeit.
Nein, sagte er. Aber er wußte ganz gut, daß sie durchaus nicht den ganzen Tag Klavier gespielt hatte, sondern erst am Abend. Außerdem hatte sie seinen Schwestern versprochen gehabt, mitzukommen, diese aber dann im Stich gelassen. Da mochte der Henker daraus klug werden.
Klein-Lydia saß auf der ärmlichen, engen Holztreppe und nähte, sie flickte oder veränderte etwas an einem Kleid, sie war geschickt mit den Händen. Dann ging es, wie derartiges zu gehen pflegt. Allmählich dachte sie wohl, sie sei überfallen worden; und warum sollte sie sich das gefallen lassen? Dieser Schmiedknecht und seine Schwestern glaubten am Ende, sie seien ihresgleichen, aber sie wollte sie schon eines Besseren belehren. Ich habe etwas mehr zu lernen als du, sagte sie. Du meinst wohl, Klavierspielen sei leicht?
Nein, sagte er.
Schon allein die Noten sind entsetzlich schwer. Und dann alle die Übungen.
Ach, wie war er einfältig! Warum sie Klavier spielen lernte! Weil alle besseren Leute es lernten. Sie hatte Tanzen gelernt, sie mußte Klavier spielen lernen, und Sticken und Spitzen häkeln an ihre Hemden, ach, was sie alles lernen mußte! Es war ihr nicht einmal angeboren, mit einem Sonnenschirm in der Sonne zu gehen, sie mußte das erst üben, eine herrliche Sache war es. Auch ihre Schwestern hatten gelernt und gelernt, auch sie waren nicht die ersten besten und dachten nicht daran, sich wegzuwerfen, sie blieben zu Hause und warteten auf einen Steuermann, einen Kommis. So benehmen sich bessere Leute.
Klein-Lydia ärgerte sich nicht sehr über Abels Worte, aber sie schwieg dazu.
Da stand nun also Abel wieder.
Sie hatte einen Augenblick ihren Fingerhut neben sich gelegt; er nahm ihn in die Hand und fing an: Was kann das sein, es ist gleichsam geädert?
Das? Elfenbein.
Sein Sinn für Elfenbein war wenig entwickelt, das prächtigste, wovon er je gehört hatte, war der Tempel Salomonis, aber kein Fingerhut. Jetzt ritt ihn indes der Teufel, er legte den kostbaren Fingerhut aus der Hand, strich einmal über den blauen Waschstoff des Kleides, an dem sie nähte, und sagte: Das ist Brokat, so weit ich es beurteilen kann.
Sie faßte das augenblicklich als Anzüglichkeit auf, was es vielleicht auch war, und sagte: Davon verstehst du nichts.
Schweigen.
Hast du nicht etwa noch eine Treppenstufe? fragte er.
Eine Treppenstufe? Willst du sitzen? Bitte schön!
Sie stand auf und machte ihm Platz.
Nein, so war es nicht gemeint, wehrte er ab. Wenn wir nicht beide auf der Treppe Platz haben, kann ich ja stehen. Übrigens war er jetzt recht im Zug und fuhr fort: Was ich sagen wollte – das ist doch ein Unsinn mit deinem Klavier spielen. Du hast doch keine Verwendung mehr dafür, wenn wir verheiratet sind.
Sie sank wahrhaftig auf die Treppe nieder, sie wurde klein wie ein Punkt, und es dauerte eine geraume Weile, bis sie die Sprache wiedergefunden hatte. Verheiratet? Ich mit dir?
Er sah sie forschend an, als wolle er unparteiisch sein. Er verstand nicht, daß dies war, als hätte sie ihn an der Nase gefaßt, nur ein wenig, natürlich, aber doch an der Nase gefaßt, ihn dem Ausgang zugedreht und ihn gehen lassen.
Dich heirate ich in meinem Leben nicht, sagte Klein-Lydia.
Aus diesen Worten schließt Abel, daß sie ihm einen Korb gegeben habe; er blieb aber trotzdem stehen und schaute sie an, konnte es nicht lassen und blinzelte von Zeit zu Zeit. Das war ja eine nette Art zu reden, die sie an sich hatte, es war ja gerade, als ob sie ihn nicht haben wollte! Sie konnte das halten, wie sie wollte, Glück auf die Reise! Verdrießlich stand er eine Weile da.
Klein-Lydia sieht auf, nickt ihm lächelnd zu und sagt: Es ist wahr, was ich sage! – Ach, aber es war gar kein Zweifel, daß sie etwas sehr scharf gewesen war, und das war unnötig, sie konnte schon ein wenig freundlicher sein. Du könntest mir wohl ein wenig helfen und hier festhalten, sagt sie, und damit reicht sie ihm eine Falte des Kleides.
Nein, er regte sich nicht.
Hörst du! rief sie und stach ihn mit der Nadel in die Wade.
Er machte einen Satz, und, ist es zu glauben, wurde ärgerlich, wurde böse. Ohne mehr zu sagen, als ein einziges Mal Au! zu rufen, blieb er einen Augenblick stehen und biß sich auf die Lippen, wurde leichenblaß und war im Begriff, gehörig seine Meinung zu sagen. Es machte ihn nicht sanfter im Gemüt, daß Klein-Lydia in lautes Lachen ausbrach. Was in aller Welt – er, der sich aus einer Kreuzotter nichts macht, der sich in der Schmiede oftmals Blutblasen an die Hände schlug, sollte jetzt eines Nadelstiches wegen einen Luftsprung machen! Aber das tat er. Und nun merkte sie wohl, daß sie etwas Ordentliches tun mußte: Du, der Reinert ist aber ein Affe! sagte sie.
Das rief Abel wieder zurück und erinnerte ihn an seine Pflicht, Klein-Lydia zu retten. Ja, sagte auch er.
Ein Wichtigtuer!
Ja. Hast du das bis jetzt noch nicht gewußt?
Aber er ist ein flotter Kerl. Und was er für hübsche Locken hat.
Na, dir gefällt er also doch?
Mir? Meine Mutter sagt, er habe sich herausgemacht. Und dann hat er doch auch eine Menge gelernt.
Hahaha! sagt Abel. Blech! sagt er. Der soll viel gelernt haben? Ich weiß hundertmal mehr als er, wenn du es wissen willst. Ich weiß nicht gerade dasselbe wie er, nicht das, was in den Büchern steht, aber von andern Dingen weiß ich hundertmal mehr als er.
Ja, von andern Dingen! höhnte sie.
Ja, wohlgemerkt, hundertmal mehr! Und du wirst schon sehen, daß er niemals Pfarrer wird. Das ist mit ihm genau so wie mit Frank, der wird auch niemals Pfarrer. So ein Küsterssohn! Und wenn du dich auf einen verlassen willst, der nach so viel mehr aussieht, als wirklich hinter ihm ist, dann bist du recht dumm, das sag ich dir.
Ich? Ich mache mir nicht das geringste aus ihm.
Das veränderte die Sache, und Abel fühlte sich wohl mit einem Male recht erleichtert, er hätte sie küssen können, wahrhaftig, sie auf den Mund küssen. Da saß sie. Aber ein Mädchen mit Küssen zu überrumpeln, ist schwierig, das verlangt technische Fertigkeit, man muß treffen. Statt dessen nahm er den Schleifstein, der an der Wand stand, hob ihn aus Mutwillen oder aus unmenschlicher Kraft aus seinem Ständer und legte ihn ihr in die Arme.
Na ja, man redet ja oft vom Verstummen, aber eine so ohrenbetäubende Stummheit hatte er noch nie gehört. Dann schreit sie, Klein-Lydia schreit, brüllt, ihre Empörung macht sie ganz fremd und häßlich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr den Schleifstein wieder abzunehmen und ihn an seinen Platz zu tun.
Du Schwein! zischte sie. Wie kannst du dich unterstehen –
Hehehe! lachte er verlegen und unglücklich. Hast du je gesehen, daß ich so etwas getan habe? Übrigens war es merkwürdig, wie wenig dazu gehörte, Klein-Lydia zornig zu machen. Er selbst war nicht so. Das hatte sie vielleicht von ihrer Mutter.
Da sieh her, wie du meine Näharbeit schmutzig gemacht hast! sagt sie. Ein frischgewaschenes Kleid!
Ich halt es unter den Brunnen, bot er an.
Dummkopf.
Dann wollte er sie wieder beruhigen, deutete dunkel seine Gefühle für sie an, sagte, daß er sie liebe, er könne ihr zuliebe an alle Brunnen der Stadt gehen, sie solle ihm seinen Narrenstreich mit dem Schleifstein verzeihen –
Sie stand auf und schüttelte ihren Rock zurecht, schlug sich den Sand ab und ließ sich wieder auf die Treppenstufe niederfallen, daß diese krachte, und schwieg.
Und im übrigen hab ich es gar nicht tun wollen, sagte er. Und es ist nichts, um es sich zu Herzen zu nehmen.
So! erwidert sie und schaut ihn wütend an; sie spießte ihn beinahe auf mit ihren Blicken.
Ich möchte nur wissen, wo sich dein Bruder Edevart herumtreibt? sagte er.
Schweig!
Wann kommt er denn heim, weißt du es?
Schweig, hörst du nicht, halt doch den Mund!
Sehr wohl! sagte er und nickte dazu. Du brauchst nur zu befehlen, wie du es haben willst, sagte er, und damit zog er sich in sich selbst zurück.
Allein so konnte es doch nicht bleiben. Nach einer Weile stand sie plötzlich auf und fing wieder an, sich den Sand abzuklopfen, als ob sie noch nicht sauber genug wäre. Aber sie war beinahe wieder freundlich geworden und lächelte sogar ein wenig.
Sie waren ja doch auch keine so sehr alten Menschen. Wenn er neunzehn Jahr alt war, so war sie ungefähr siebzehn; oder wenn man die Wahrheit sagte, daß er nämlich erst sechzehn war, so war sie noch jünger. Das ist doch kein Alter! Und da standen sie also.
Was hast du denn damit gemeint, du Narr? fragte sie lachend.
Warum setzt du dich denn nicht, hörst du! sagte sie dann und nahm selbst Platz.
Jetzt war er an der Reihe, zu schweigen, er stand nur da und lehnte sich ans Geländer. Aber als sie ihm wieder eine Falte ihres Kleides hinhielt, die er festhalten sollte, während sie nähte, griff er zu. Da deutete sie auf seine Hand und sagte: Was du doch für einen sonderbaren Haarwuchs auf den Händen hast!
Sonderbar? Der ist ganz recht!
Dieser Haarwuchs! Der war in der Hitze der Schmiedeesse hervorgesproßt, ein schwarzes Fell, er war stolz darauf gewesen, seine Altersgenossen hatten das nicht, er war über sie hinausgewachsen, hatte sie hinter sich gelassen. Und welche Männerhand er im ganzen genommen bekommen hatte!
Ich überlege mir, ob ich nicht am besten daran täte, meine Lehrzeit bei Carlsen auszuhalten, sagte er. Was meinst du dazu?
Das weiß ich nicht. Wie lange dauert sie denn?
O, sie dauert nicht lang. Und nachher soll ich die Schmiede um einen billigen Preis bekommen, sagt Carlsen. Er will mir dazu verhelfen.
Die Schmiede? Was willst du denn damit? Na ja, darin schmieden. Ja, willst du denn für immer dableiben?
Etwas anderes ist auch nicht viel besser. Andere Leute kommen mir auch nicht netter vor.
Aber du wirst so schwarz, sagte Klein-Lydia.
Und wenn die Zeit kommt und wir einander heiraten –
Sie wurde nicht mehr wütend, nein, das wurde sie nicht, aber sie unterbrach ihn bestimmt: Nein, daraus wird nichts.
Dann wird es auch noch zu einem Haus reichen.
Niemals!
Wie? fragte er verständnislos.
Ich liebe dich nicht, erwiderte sie.
Er schaute ihre Hände an, schaute ihr Gesicht an und überlegte. O, das gibt sich schon, sagte er in einem Tone, als ob die Sache damit für sie abgetan sein müsse. Aber wieder war Klein-Lydia die Tochter ihrer rasch besonnenen Mutter, und sie wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Laß los! kommandierte sie und zerrte am Kleide.
Aber natürlich ließen solche Hände nicht los.
Hörst du nicht? Ich habe gesagt, laß los!
Na, du brauchst ja nur zu sagen, wie du es haben willst.
Dann ließ er los, und nun war das Wasser wieder zwischen ihnen verschüttet.
Du solltest dich schämen! sagt Klein-Lydia.
Er erwiderte in sehr erwachsenem Tone: Ich bin also nicht älter als zwanzig, wenn du das meinst. Oder vielleicht noch nicht einmal ganz zwanzig.
Gott, wie du übertreibst! rief sie. Du bist ja der reine Garnichts, du bist nicht im letzten, du bist im vorletzten Jahr konfirmiert worden. Meinst du, ich wisse nicht, wann du geboren bist?
Da lachte Abel: Nein, Klein-Lydia, entschuldige. Als ich geboren wurde, hat man an dich noch nicht einmal gedacht. Ich bin nicht mehr weit von zwanzig, was die Leute auch sagen mögen. Ich muß es doch selbst am besten wissen.
Na – Klein-Lydia winkte ungeduldig ab und sagte: Ich werde im Frühjahr konfirmiert.
Das ist ja gut.
Das ist gut, was soll das heißen?
Schweigen. Er meinte wohl, es sei gut, wenn das erledigt sei, dann sei sie frei und fertig, aber er wagte es nicht, sie noch mehr zu ärgern.
So, jetzt hab ich fertig genäht, sagte sie und stand auf.
Dann guten Abend! versetzte er. Aber gleich darauf war er dreist genug, sie um ein wenig Wasser zu bitten.
Gewiß, wenn nur Wasser da ist, sagte sie und schaute sich um. Du kannst ja hineingehen und trinken.
Darauf erwiderte Abel: Nein, ich kann heimgehen und da trinken. Es ist ja ganz einerlei.
Durchaus nicht! rief Klein-Lydia. Ich will hineingehen und dir Wasser holen, sagte sie, als ob er ihr ein und alles auf der Welt wäre.
Nachdem er getrunken hatte, redeten sie noch eine Weile miteinander, und ehe er ging, hatte er sie dennoch die verschiedensten Male umarmen und küssen dürfen. Was doch dieser Schmiedknecht für schrecklich geschmeidige und gefährliche Arme hatte!
Er schlenkerte mit den Armen, als er nach Hause ging, ein Herr der Welt, der Auserwählte der Mädchen, der zukünftige Besitzer einer Schmiede. Ja, es gab sich alles. Am liebsten wäre er jetzt allein gewesen, aber als er heimkam, war Besuch da, Maren Salt saß in der Stube.
Außer dem Studenten waren alle anwesend, und es wurde in kurzer Zeit viel gesprochen. Maren Salt hatte es eilig, sie habe nur eine Besorgung in der Stadt zu machen gehabt und habe Lust bekommen, bei den alten Bekannten eben einmal einen Blick hineinzuwerfen. Oliver selbst ließ das eine und andere gewichtige Wort fallen, während der Gast einige Tassen Kaffee trank und Bäckerwaren dazu aß.
Kannst du denn von zu Hause weg sein? fragt Petra. Schläft der Junge?
Nein, das weiß ich nicht. Mattis ist bei ihm.
Mattis?
Ich kann Mattis den Jungen ruhig anvertrauen.
Du willst doch nicht sagen, daß dir Mattis deinen Jungen hütet?
Nun, warum denn nicht? Wie sollte es denn sonst gehen? fragte Maren Salt. Ich mußte heut abend ausgehen und für den Haushalt einkaufen, und Mattis bleibt zu Hause. Das tut er immer, anders geht es doch nicht.
Oliver spricht mit großer Würde: Meine Meinung ist, daß Mattis dich nimmt, Maren, wenn der Tag kommt, an dem er sich verändert.
Maren Salt hatte durchaus nichts dagegen, das zu hören, aber es war beinahe, als ob Petra etwas eifersüchtig würde. Das glaub ich nun doch nicht, sagte sie. Na ja, mir kann es ja einerlei sein.
Es wäre noch nicht das dümmste, was er tun könnte, meinte Oliver und hielt zu Maren. Dann hätte er den Jungen und könnte ihn anlernen, wenn die Zeit dazu gekommen ist, und ihm die Werkstatt übergeben.
Ach, der Junge ist ja kaum geboren, wendet Maren ein. Bis dorthin fließt noch viel Wasser den Bach hinunter.
Ich hätte ihn gerne einmal gesehen. Er ist wohl recht groß, sagt Petra.
Ja, daran fehlts nicht. Der Doktor sagt, er sei einer von der Rasse.
Petra wird aufmerksam. Hat das der Doktor gesagt?
Ja. Ist das so etwas Besonderes?
Schweigen. Petra denkt nach. Nein, sagt sie dann. Das ist etwas, was der Doktor zuweilen sagt; von meinen hat er das auch gesagt, sie seien von der Rasse. Ich weiß nicht, was er damit meint.
Oliver spricht wieder. Soviel ich verstehe, will er damit sagen zum Exempel, das Kind sei groß und stark und frisch. Ja, Gott sei Dank, unsere sind alle kräftig gewesen.
Petra fragt: Was für Augen hat er denn?
Braune Augen, erwidert Maren.
Da wurde Petra wieder ganz wie eifersüchtig und wunderlich und konnte sich nicht halten, sondern rief: Wo hast du denn braune Augen für ihn hergenommen?
Hehe, das möchtest du wissen! erwiderte Maren Salt und lachte kokett.
Ich kann es mir schon denken, sagt Petra scharf und bitter. Er ist überall!
Maren sieht sie an. Wie du redest! Wen meinst du denn?
Ach, niemand. Ich meine niemand.
Und du sollst auch gar nicht raten, du bringst es doch nicht heraus! Sie sieht pfiffig und geheimnisvoll aus und schweigt. Verwünschtes altes Frauenzimmer, wer ist nur der Vater des Kindes? Sie sah aus, als ob sie sich das selbst erst überlegte, ja, als ob sie die Wahl hätte und heikel wäre.
Ist nichts mehr in der Kaffeekanne für Maren? fragt Oliver.
Eine vierte Tasse wird eingeschenkt und ausgetrunken, und unterdessen wird von dem und jenem geplaudert. Petra hätte ihre gute Laune so ziemlich wiedererlangt haben sollen, denn es zeigte sich, daß Maren selbst braune Augen hatte – war es da ein Wunder, wenn ihr Kind auch solche mit auf die Welt brachte? Aber es schien, als ob Petra nun einmal einen bestimmten Verdacht hätte und diesen Verdacht nicht mehr loswerden könnte. Er ist es doch, behauptete sie. Er ist so schlau gewesen, diesmal eine mit braunen Augen zu nehmen, um sicher zu sein.
Ich versteh dein dummes Geschwätz nicht, Petra! Ja, ich muß es gerade heraus sagen, daß das ein dummes Geschwätz ist, erklärt Maren immer noch mit freundlichem Lachen.
Petra ist erbost und wahrt den Anstand ihrem Gaste gegenüber nicht. Meinst du vielleicht, er habe dich aus irgendeinem andern Grunde genommen, als deiner braunen Augen wegen? Nein, Maren, mach dir nur klar, daß du nicht mehr die Jüngste bist.
Als man auf diesem Punkt angelangt war, meinte Oliver wohl, es sei Zeit für ihn einzugreifen, und er tat dies, indem er seinen Hut nahm und hinaushumpelte. Abel nahm er auch mit, und nun saßen fünf Frauenzimmer, alt und jung zusammengerechnet, beieinander. Aber die sehr erregte Petra war kein großer Genuß für ihren Gast, und Maren hätte am liebsten die Kaffeetasse zerschmettert, hielt sich aber im Zaum und sagte nur bis ins Innerste gekränkt: Ich bin allerdings nicht mehr die Jüngste, nein. Aber du bist auch keine Kalbe mehr, Petra, vergiß das nicht! Und was das betrifft, so hast du jetzt wohl mehr als genug bekommen von dem Mann, mit dem du mich jetzt im Verdacht hast.
Nun wurde Petra aufmerksam darauf, daß die kleinen Mädchen die Ohren spitzten, und sie fing an zu lachen, um damit über die Sache wegzukommen. Ich, bekommen? Keinen Öre hab ich bekommen von irgendeinem andern Mann als meinem eigenen, das kannst du glauben. Wofür sollten mir andere Männer Geld geben? Und wir kommen auch Gott sei Dank mit dem aus, was Oliver verdient.
Dies war nur gesagt, um das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken; es wurde eine Brücke geschlagen, über die alle gingen, und auch die beiden streitenden Mütter schlossen etwas später Frieden. Sie gingen zu den Stadtneuigkeiten über, und die fünfte Tasse Kaffee wurde eingeschenkt, alle die Frauenzimmer beugten sich weit über den Tisch vor und schauten einander ins Gesicht. Da war wieder ein Skandal gewesen, draußen bei dem Kaspar, der auf der Werft arbeitete, jetzt hatte er seine Frau geschlagen. Maren hatte es gestern abend gehört.
Petra wurde ganz wütend auf Kaspar. Was hatte denn die Frau getan?
Ach, es war wohl etwas mit einem andern Werftarbeiter.
Er hätte es wagen sollen, Hand an mich zu legen! drohte Petra.
Allerdings, aber was hat er auch für eine Frau! sagt die Großmutter, die alt und ausgebrannt ist. Was hat sie damals getan, in dem Jahr, als ihr Mann zur See war? Sie ging an Bord einer fremden Schute und war lange Zeit im Ausland Kellnerin.
Maren Salt äußert: Es ist sonderbar, daß sie kein Kind bekommen hat.
Was weißt denn du, was sie bekommen hat?
Dann hätte sie doch seither auch wieder ein Kind gehabt.
Nein, sagt Petra. Sie ist keine von denen, die Kinder kriegen, sie kann tun und lassen, was sie will.
Die Großmutter versinkt in Gedanken über jenes alte Ereignis; über die Reise der jungen Matrosenfrau ins Ausland war seinerzeit sehr viel geklatscht worden. Und sie hat doch so einen vorzüglichen Vater, den Schmied Carlsen, ein gutes und ehrenwertes Heim, und dennoch!
So geht's auf der Welt! sagt Maren Salt. Und sie weiß noch andere Stadtneuigkeiten. Grütze-Olsens jüngste Tochter hat Mitte letzten Monats in Christiania Hochzeit gehabt.
In Christiania? Warum denn dort?
Es hatte in der Zeitung gestanden, Maren hatte mit angehört, wie es im Laden bei Davidsen vorgelesen wurde.
Wen hat sie denn gekriegt?
Einen Maler, stand in der Zeitung.
Die kleinen Mädchen waren sofort auf dem Laufenden. Das ist der Maler, der bei Johnsens am Landungsplatz und bei Grütze-Olsens Bilder gemalt hat, sagen sie, das war ihnen ganz klar, das wußten sie ganz genau, diese Sprößlinge, o, sie waren klug genug.
Er muß aus einer reichen und vornehmen Familie stammen, nach dem, was Davidsen gesagt hat.
Sonderbar, das ist alles so still vor sich gegangen, kein Mensch hat ein Wort davon gehört.
Darauf erwidert Maren: Man sagt, für die Braut sei es höchste Zeit gewesen.
Na, verhielt es sich so! flüstert die ganze Stube verständnisvoll; und dann denken alle eine Weile darüber nach.
Ja, alles heiratet und gedeiht, ohne Ende, sagt Petra. Und dann wagt sie sich wieder auf gefährlichen Grund hinaus. Du kannst froh sein, Maren, daß du dich darauf nicht eingelassen hast.
Es ist noch gar nicht zu spät dazu, sagt die Großmutter.
Petra meint das doch, sagt Maren von neuem beleidigt.
Petra lenkt nicht ein: Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so hast du dir doch wohl derartiges ganz aus dem Kopf geschlagen. Wie alt bist du denn eigentlich?
So alt, daß ich es selbst nicht mehr weiß, sagt Maren und steht auf. Aber ich bleibe ja beinahe den ganzen Abend hier sitzen! Vielen Dank für die Aufwartung und alles Gute! Vergiß nicht, zu mir hereinzusehen, wenn du am Haus vorbeigehst, Petra!
Nein, die Jüngste war Maren Salt nicht mehr, aber als sie nun nach Hause ging und schwere Pakete aus den Läden so leicht trug, als seien sie gar nichts, und die Füße regte wie zum Tanz, da konnte sie niemand alt schelten. Sie sah auch gar nicht so aus, die braunen Augen waren klar und kein bißchen feurig, aber man wußte ja, wie dieses Menschenkind war, wenn sie in ihrem Alter noch ein Kind bekommen hatte. Schweigt nur ganz von Maren Salt, an der ist nichts auszusetzen! Waren die Töchter von Jörgen und Lydia vielleicht besser, die zu Hause saßen und etwas Besseres sein wollten? – Waren sie besser? War etwa Fia Johnsen so viel besser, die blauen Flieder malte und einen Mann und einen Wegzeiger mit ganz denselben Augen anschaute?
Ich bin lang ausgeblieben, sagte Maren, als sie daheim eintrat. Mattis gab keine Antwort und war im ganzen genommen nicht gut auf sie zu sprechen. Übrigens sang er eben dem Kinde vor und war mitten in einem Vers.
Soll ich es mit Stadtneuigkeiten versuchen, dachte Maren, ein wenig von Kaspar und seiner Frau erzählen, oder von der Hochzeit in Christiania? Aber Mattis war keiner von denen, die sich um Stadtneuigkeiten kümmerten. Ist er wach gewesen?
Mattis singt seinen Vers zu Ende und antwortet dann: Nein, aber du weckst ihn auf mit deinem Geschwätz.
Das tut nichts, er soll jetzt die Brust bekommen, sagt sie.
Ein sonderbarer Anblick: Der Schreiner Mattis, der an einem Kinderbettchen sitzt und singt!
Er hatte Wut geschnaubt und auf einem Bein getanzt. Das Schicksal hatte ihm einen fürchterlich albernen Streich gespielt, er hatte Maren Salt nicht aus dem Haus gebracht, bevor sie niederkam; das setzte ihm zu und verwirrte ihn vollständig. So etwas, zum Henker, in seinem Haus! Aber es sollte nicht lange währen, zwei, drei Tage, dann warf er sie auf die Straße. – Und dann ein wenig plötzlich, vergiß auch nicht, deinen Balg mitzunehmen! Aber es vergingen mehr als nur einige Tage, und dann verging ein Tag um den andern, er hätte einen Besen nehmen und sie aus dem Hause hinauskehren müssen, aber wo sollte sie hingehen? Und dazu ein ganz neugeborenes Kind, allerdings ein kräftiger kleiner Kerl mit fürchterlichen Lungen, aber trotzdem –
Der Schreiner Mattis war ein gutmütiger Mann; er ließ sich gutmütig zwei Stubentüren abspannen, er ließ gutmütig eine junge Frau laufen, die ihn um einen goldenen Ring gebracht hatte, und so weiter. Er fuhr zwar zuerst wutschnaubend auf und dann ließ er sich gutmütig alles gefallen. Was sollte er auch machen?
Und Maren Salt war ja auch rasch wieder auf den Beinen und kam ihrer Arbeit nach. Das Kind machte nicht viel Last, zu essen brauchte es nichts, es bekam die Brust und schlief, es lag in Marens Kammer in deren eigenem Bett und nahm keinen Platz weg, Mattis fand allerlei Gründe, nicht gar so streng zu Werk zu gehen. Aber in einem halben Jahr etwa, mitten im Sommer, wo niemand mehr erfrieren konnte, da mußten sie zur Tür hinaus, da half alles nichts! Oder allerspätestens in zwei Jahren, wenn der Junge allein gehen konnte.
Er schwur hoch und teuer, er wolle das Kind niemals vor Augen sehen, aber das ließ sich nicht durchführen. Es kam vor, daß Maren Salt, die Mutter, an den Brunnen gelaufen war, aber das Kind richtete sein Schreien nicht danach ein, sondern brüllte rücksichtslos den Schreiner herbei. So ging das einige Male, Mattis knirschte mit den Zähnen und war rasend, aber von Stein war er nicht, er machte die Beobachtung, daß das Kind schwieg, wenn er mit ihm sprach, daß es sich beruhigte, wenn es eine Menschenstimme hörte, und das führte dazu, daß er mehr und mehr mit ihm sprach, und endete damit, daß er ihm vorsang. Als das Kind etwas ins Auge zu fassen vermochte und anfing, ihn zu kennen, nahm er es auch auf und trug es herum. Dieser kleine Unnutz, dieser kleine Kerl, der so nett und leicht in seinen Armen lag – Sei doch still, nicht so schreien, daß es der Lehrling und der Geselle in der Werkstatt hören, Mund gehalten! Übrigens ist es gar kein Wunder, wenn du schreist, armer Kleiner; dich friert, und du kriegst die Brust nicht, ich muß ihr wahrhaftig einmal die Meinung sagen! Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie dich in dem schmalen Bett in der Nacht einmal totdrückte. Da sieh her, jetzt nehmen wir das Kissen und tragen dich darin herum. Siehst du, so ist es schon wärmer, und ihr werde ich bei Gott die Meinung sagen. –
Er friert! ruft er der Mutter zu.
So, friert er?
Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen; das ist nicht meine Sache. Aber du sollst ihn nicht hungrig liegen lassen.
Er hat keinen Hunger.
Meinst du, er weine für nichts und wieder nichts? Und das will eine Mutter sein!
Maren Salt hat herausgefunden, daß es sich lohnte, gefügig gegen den Schreiner zu sein. Ich will ihm die Brust geben, sagte sie.
Und das ordentlich! begehrte der Schreiner. So hab ich ihn noch nie schreien hören wie heute.
Dann geht Mattis wieder hinaus in die Werkstatt zu Lehrling und Gesellen. Er ist ärgerlich und schämt sich, in der Tür dreht er sich um und sagt zu Maren: Du mußt ja nicht meinen, ich komme jedesmal zu ihm herein, mir ist es einerlei, wenn er sich totschreit. Aber wir wollen in der Werkstatt, in meinem eigenen Hause kein Kindergeschrei hören. Du kannst ihn da nicht liegen lassen, bis er sich totschreit.
Damit geht Mattis in die Werkstatt, der Geselle und der Lehrling sind im Begriff zu gehen. Er schilt noch über Maren und das Kind: He, was man nicht alles erleben muß! Aber nun dauert es auch nicht mehr lange. Ich weiß einen, der davon nichts mehr in seinem Haus wissen will. Wäre nur nicht eine Strafe aufs Hinauswerfen gesetzt, aber es steht eine schwere Strafe darauf, eine von den schwersten. Du weißt das doch auch? fragt er den Gesellen.
Der Geselle weiß nichts davon, findet es aber nicht unwahrscheinlich.
Eine fürchterliche Strafe, mehrere Jahre. Und dem will ich mich nicht aussetzen.
Bei Tag arbeitet er jetzt an einer kleinen Bettstelle, einem Kinderbettchen für eine Familie in einer andern Stadt, sagt er; die Maße sind ihm angegeben, es ist also eine einfache Bestellung. Es wird ein schönes Gitterbettchen mit ein wenig Schnitzerei am Kopf- und Fußende, und er hat auch den Auftrag, es weiß anstreichen zu lassen, ehe er es abschickt. Er steht also da und arbeitet. Aber es ist eine verfluchte Geschichte mit dem Lied, mit diesem Kinderverschen, es kommt ihm tagelang nicht aus dem Kopf, er ertappt sich dabei, daß er es während der Arbeit vor sich hinsummt und sich lächerlich macht. Ein Mann mit so einer Nase beim Hobeln ein Kinderliedchen summen! Er hat den Gesellen im Verdacht, daß der sich das Lachen nicht recht verkneifen kann.
Er war recht froh, als er so weit war, daß er den Lehrling mit dem Bettchen zum Maler schicken konnte.
Noch froher hätte er sein können an dem Tage, da er es schneeweiß und blank wieder zurückerhielt und es einpacken und fortschicken konnte. Aber dem Mattis hatte das Schicksal wohl abermals einen Streich gespielt, jetzt war das Bettchen abbestellt worden, die Leute hatten ein fertiges gekauft, Mattis hatte einen Brief dieses Inhalts bekommen. Jawohl, ein neuer Streich vom Schicksal! Aber Mattis nahm es diesmal merkwürdig gelassen hin; er sagte: Das tut nichts, das Bett kann ich immer wieder loswerden. Aber es ist, wie ich sage, was man nicht alles erleben muß! Nein, man sollte sich auf solche Bestellungen aus einer andern Stadt niemals einlassen! sagte Mattis.
Kurz gesagt, er mußte das Bett behalten.
Und nun konnte der Junge, Maren Salts Kind, das Bettchen gerne leihweise benützen, eine Woche oder so, bis es verkauft wurde. Das schadete dem Bettchen nichts.