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Die Leute aus den großen Städten haben kein Verständnis für Maße und Größenverhältnisse in den Kleinstädten. Sie meinen, sie dürften einfach kommen und sich auf den Marktplatz hinstellen und lächeln und überlegen tun, meinen, sie dürften über die Häuser und das Pflaster lächeln, das meinen sie gar oft. Aber können sich nicht die älteren Leute in der Kleinstadt noch an die Zeit erinnern, wo die Häuser noch kleiner und das Pflaster noch schlechter gewesen waren? Sie haben es erlebt, daß der Ort vorwärtskam. Und jedenfalls hat C. A. Johnsen ein mächtiges Haus bekommen, Johnsen, am Landungsplatz, ein geradezu herrschaftliches Haus; es hat eine Veranda unten und einen Altan darüber und Schnitzwerk das ganze Dach entlang. Viele andere kostspielige Gebäude sind auch entstanden: die Schule, der Speicher am Landungsplatz, verschiedene Kaufmannshäuser, das Zollhaus, die Sparkasse, nein, darüber braucht man nicht zu lächeln. Es ist sogar eine Art Vorstadt da: auf den Felsenhügeln nach der Werst zu wohnen wohl etliche zwanzig Familien; die hübschen kleinen Häuser sind gelb, rot oder weiß angestrichen, je nach dem Geschmack des Besitzers, sie haben seinerzeit manchen Spargroschen gekostet. Und im übrigen fehlt es auch für Großstädte nicht an Zeiten des Auf- und Niedergangs, das ist ganz gewiß; aber hatte man je gehört, daß Johnsen am Landungsplatz einmal mit leeren Händen dagestanden und sich nicht zu helfen gewußt hätte?

So haben also auch die kleinen Städte ihre Größen, ihre festgegründeten Häuser mit vornehmen Söhnen und Töchtern, ihre Unveränderlichkeit und ihr Ansehen. Und die Kleinstadt ist von ihren Großen hingenommen und verfolgt alles mit reger Teilnahme; die guten Kleinstädter sorgen eigentlich gerade dadurch für das eigene Wohl und Wehe ihres Lebens, sie leben im Schutze der Macht und gedeihen dabei. Und so soll es auch sein. Die Leute entsinnen sich des Tages, an dem Johnsen am Landungsplatz Konsul wurde; da gab es Getränke und Kuchen für jeden, der in seinen Laden kam, und verschiedene hatten auch gar keine Scham im Leibe und ließen zweimal ihre Gläser füllen.

An jenem Morgen war der Fischer Jörgen genau wie jetzt auch draußen auf dem Wasser und fing Fische zu einem großen Gastmahl. Es war ein glänzender, festlicher Tag; der neue Konsul war noch so jung, daß er die Arme weit ausbreitete, außerdem war er so natürlich und so leutselig, daß er Wein, Weiber und Gesang liebte, die ganze Stadt war bei ihm eingeladen. Jawohl, und alles ging ausgezeichnet. Das Ganze wurde in der Zeitung besprochen; auch daran erinnern sich die Leute heute noch, und die Weiber reden heute noch davon am Brunnen. Manchmal keifen sie um eine Kleinigkeit. Lydia kann sagen: Sollte ich das nicht wissen, wo ich doch den ganzen Tag in der Küche dabeigewesen bin! – Die andere Frau aber bleibt bei ihrer Behauptung: Du kannst ja hingehen und Johnsen selbst fragen! – Das habe ich für mein Teil gar nicht nötig, versetzt eine dritte, denn ich habe die Zeitung aufgehoben.

Aber seit jenem großen Tage sind nun wohl sechs bis acht Jahre vergangen.

Und ebensogut wie die Weiber konnte sich auch noch der Schmied Carlsen an jenen Tag erinnern. Er war ein sehr geachteter Mann, ja sogar Witwer mit erwachsenen Kindern, also kein junger Wildfang – nein, er stand in aller Stille in seiner Schmiede und dankte Gott für diesen Festtag ebenso wie für alle andern Tage, die er erleben durfte. So war er, ein frommer Mann war er. Er merkte wohl auf und dachte bei jedem großen, freudigen Ereignis im Ort, daß nun er und alle andern Menschen Gott dafür danken müßten. Viel Worte machte er nicht darüber, und die Leute hätten wohl auch nicht viel auf seine Worte gegeben, aber sie schätzten und achteten ihn. Die Menschen waren zwar zäh und undankbar wie sonst auch, aber der Schmied Carlsen war jedenfalls eine Merkwürdigkeit im Städtchen.

Es gab da auch viele andere Gestalten und Persönlichkeiten: Olaus am Anger, den Fischer Jörgen, den Schreiner Mattis, den Doktor, den Postmeister, o, es waren gar viele. Der Zahn der Zeit nagt nicht an allen in gleichem Maße, manche sind unveränderlich, sie halten gar vieles aus. Auch der Postmeister ist in seiner Art ein frommer Mann, er und der Schmied Carlsen also sind fromm; aber sonst ist die ganze Stadt weltlich gesinnt und wenig tief angelegt. Es ist, als gebe es gar keinen Pfarrer in der Gemeinde; er tauft, konfirmiert, kopuliert und begräbt zwar die Leute, sonst aber haben sie keine Verwendung für ihn, und es wird nicht von ihm gesprochen.

O, der kleine Ameisenhaufen! Alle Menschen sind von ihrem Eigenen hingenommen, sie begegnen einander auf den Wegen, einer pufft den andern auf die Seite, manchmal schreiten sie übereinander weg. Es geht gar nicht anders, manchmal schreiten sie übereinander weg.–

Jetzt ist der Fischer Jörgen draußen und fängt Fische zu einem großen Gastmahl, genau wie vor sechs bis acht Jahren. Obgleich es Sonntagmorgen ist, sitzt er noch in seinem Boot und möchte so gerne eine ordentliche Menge Fische mit heimnehmen. Drüben am Lande wird es nun allmählich lebendig. Die Morgenbrise setzt ein, Jörgens Boot treibt ab, er muß ordentlich rückwärts rudern, um sich nach den Seezeichen am Ufer richten zu können. Ach was, nun gibt er es auf und rudert heim, er hat seit zwei Uhr draußen gesessen!

Im Ort ist noch niemand auf. Jörgen reiht die Fische auf eine Schnur und trägt sie so durch die Straßen. Er stapft in schweren Stiefeln einher, und im ganzen genommen ist er ein schwerfälliger Mann in einem isländischen Wams und den Südwester auf dem Kopf; sonst aber ist er nicht von hohem Wuchs, eher mager und dazu etwas kurz im unteren Körper. Aber Jörgen ist zäh und ausdauernd, niemals bettlägerig, niemals niedergedrückt; eine Erkältung kuriert er dadurch, daß er sich nicht um sie kümmert.

Er geht nach dem großen Hause von C. A. Johnsen, hängt das Fischbündel da an die Küchentür und stapft nach Hause.

Ja, jetzt raucht es aus seinem Schornstein, Lydia ist also auf; sie hat wohl auf sein Boot achtgegeben und den Kaffee zu rechter Zeit aufgesetzt. Lydia ist seine Frau, sie hat dunkles, lockiges Haar und ist zwar von zorniger Gemütsart, aber außerordentlich tüchtig, eine Frau für sein Haus.

Jörgen stapft hinein. Nicht so laut! flüstert Lydia grimmig und sieht mit allen Zeichen des Schreckens nach den Kindern hin, einem Jungen und zwei Mädchen, die sich im Schlafe bewegen. Jörgen zieht Stiefel und Wams aus, trinkt Kaffee, ißt auch dazu, geht dann in die Kammer, um zu schlafen. Laß die Tür nicht knarren! zischt Lydia zwischen den Zähnen hervor.

Aber jetzt muß natürlich das älteste von den kleinen Mädchen erwachen und sich aufrichten. So ist es immer. Und dann wacht auch das andere Mädchen auf, das daneben liegt. Die Mutter wird wütend, sie reißt die Kammertür auf und schreit dem Manne nach:

So, jetzt hast du mir alle miteinander aufgeweckt! Und sie schrie so lange, bis auch der Junge aufwachte.

Jähzornig war Lydia, aber ihr Zorn war immer schnell wieder verraucht; während die Kinder sich ein wenig unterhielten, räumte sie im Zimmer auf und fing gleich an vor sich hinzusummen. Dann öffnete sie die Kammertür äußerst vorsichtig und fragte:

»So, du bist nicht eingeschlafen? Was ich habe sagen wollen, du hast doch wohl genügend Fische gefangen? Hast du gehört, was für eine Gesellschaft es sein wird?

Nein, sie waren noch nicht auf.

Ja, jetzt schweig nur und schlaf dich aus, sagt Lydia und macht die Tür wieder zu. Und dann schalt sie die Kinder mit lauter Stimme ordentlich aus, damit sie sich ruhig verhalten sollten.

Sie räumt auf und summt dazu, sie überlegt, die Gesellschaft ist ihr sehr wichtig. In früheren Jahren wurden bei Johnsens am Landungsplatz auch schon Gesellschaften gegeben; man bereitete sich tagelang darauf vor und mußte Hilfe in der Küche haben. Auch Lydia wurde herbeigeholt; diesmal hatte sie keine Aufforderung bekommen, aber vielleicht war es keine große Gesellschaft; wahrscheinlich wollte nur der Sohn, Scheldrup Johnsen, ein paar Altersgenossen bei sich sehen.

Etwas später am Vormittag, als die Leute allmählich unterwegs waren, hieß es, C. A. Johnsens Schiff werde an diesem Tag in See stechen. Da grübelte Lydia nicht mehr; es würde also ein donnerndes Fest für den Kapitän und die Honoratioren der Stadt sein, aber sie wollten in der Küche ohne sie fertig werden. Gut Glück auf die Reise! Sie zog die Kinder hübsch an, putzte ihnen die Flecken heraus, rieb die Schuhe mit Fett und Ruß ein und legte auch für sich ein anständiges Kleid bereit.

Am Nachmittag war eine richtige Wallfahrt nach dem Bollwerk. Man war schon mitten im Frühling, und die Leute trugen demgemäß helle, leichte Kleider; das war ein hübscher Anblick. Der Dampfer Fia hatte geladen und war zur Abfahrt bereit.

Dieses Schiff war nicht mehr neu, es war zu der Zeit gebaut worden, wo ein vernünftiges Frachtboot ein paar hundert Tausend kosten konnte, aber nicht mehr; jetzt hatte es Johnsen am Landungsplatz in Göteborg gekauft. Er hatte es Herrichten lassen und dann nach seinem Töchterchen »Fia« umgetauft. Was das gekostet haben mochte, ein solches Schiff zu kaufen, es herrichten zulassen und es ganz neu zu machen! Es wurde erzählt, das Umtaufen allein habe einen Haufen Geld gekostet. Aber was war ein Haufen Geld für Johnsen am Landungsplatz! Und jetzt lag die Fia als der einzige Dampfer der Stadt und als ein wahres Wunder drunten am Bollwerk.

Natürlich war die kleine Fia in dem Augenblick, da ihr Schiff abfahren sollte, selbst an Bord, und sie saß mit ihren Eltern und dem Kapitän in der Kajüte. Und natürlich kam auch ihr Bruder, der junge Scheldrup, an Bord. Er war schon groß und fast erwachsen, in einem hellen Anzug mit einem schwarzen Samtkragen auf der Jacke, was eben Mode war. Ein flotter Bursche, der Sohn des Hauses Johnsen, braunäugig wie der Vater, mit einem leichten Bartflaum auf den Wangen! Die Hüte wurden vor ihm gelüpft, und er grüßte wieder, fast den ganzen Weg nach der Kajüte ging er auf diese Weise barhäuptig.

Das Schiff hatte Dampf auf und stieß Rauch aus. Auf Deck war alles ruhig, der Steuermann und die Mannschaft standen an der Reling, spuckten ins Wasser und schwatzten ein wenig mit den Bekannten am Land. Oliver Andersen wußte, wo sein Platz war, und hielt sich ganz vorne; er war mehrere Jahre lang mit einem Segelschiff gefahren und war Matrose, ein gewöhnlicher blauäugiger Sohn aus dem Volke, aber dazu ein Waghals und Kraftmensch, der Sohn einer Witwe. Er war unter Mittelgröße, aber fest und gut gebaut, hatte früher mit den Bildern von Napoleon Ähnlichkeit gehabt, jetzt aber trug er einen Vollbart und war etwas für sich. Gerade in jenem Jahr hatte er die Möglichkeit gesehen, sein Häuschen mit roten Ziegeln zu decken und es durch einen Ausbau am Giebel zu erweitern. Er dachte wohl an die Zukunft.

Ja ja, sagt er zu seiner Mutter, der Witfrau, die mit den Händen unter dem Umschlagetuch am Bollwerk steht. Ja ja, dann schreib ich dir vom Mittelmeer aus.

Flott gesagt, sehr erwachsen gesprochen. Und so spricht er auch noch mit mehreren am Land, mit den Mädchen, mit Petra, die er nun verlassen muß. Da steht sie, ist seine Braut und alles miteinander.

Und vergiß nicht, im Garten zu gießen! sagt er weiter. Aber das war wohl nur ein Scherz von Oliver, und er meinte nichts damit, denn Gott und alle Welt wußten ja, daß er keinen Garten hatte, sondern die Mutter säte nur ein wenig Karotten und Rüben an der Hauswand entlang. Sie lächelte welk, sie kannte ihren Sohn, ihm fiel ein Scherz nicht schwer. Ihm etwas schwer fallen? Sie wußte nur Gutes von dem Sohne zu sagen, er hatte gute Anlagen und gebrauchte sie in netter Weise.

Der zweite Steuermann kommt einen Augenblick nach vorne; auch er hat wohl ein Mädchen am Ufer stehen. Schieß die dort auf! sagt er übertrieben befehlshaberisch, indem er auf eine Leine, deutet.

Oliver schießt die Leine auf. Er wäre übrigens gerne eine Minute an Land gegangen, nur eine halbe Minute, um seinem Mädchen eine Tüte Rosinen, die er in der Tasche hat, zu geben. Ganz notwendig hätte er an Land gehen sollen. Aber er will sich jedenfalls auch von da, wo er steht, geltend machen.

Carlsen! ruft er, und damit meint er den Schmied Carlsen. Gut, daß ich Sie sehe! Ich bin Ihnen die Bügel für meine Dachrinne noch schuldig.

Carlsen ist in Verlegenheit, weil aller Augen auf ihn gerichtet sind, und er sagt:

Laß das nur, du brauchst dich nicht aufzuhalten, es hat Zeit, bis du wiederkommst.

Aber Oliver hat schon den Geldbeutel gezogen und reicht das Geld über die Reling weg. So viel war es wohl? fragt er.

Oliver fühlte sich wohl recht ehrenhaft und überlegen, als er sich in Gegenwart einer ganzen Volksmenge so zahlungsfähig zeigen konnte. Wer stand da und war Zeuge seiner Handlungsweise? Petra und alle Welt. Und dort stand ja auch Lydia mit ihren Kindern, und ihr entging nichts, scharf, wie sie war. Ihr Mann, der Fischer Jörgen, stand auch weiter drüben, aber als sich nun die Honoratioren der Stadt allmählich einfanden und gerade an seiner Ecke vorüberkamen, zog er sich etwas weiter vom Bollwerk zurück und suchte sich einen sichereren Platz.

Nun kamen die Großen, die Schiffsreeder, der Doktor, die geachtetsten Kaufleute; einige waren noch aufgeräumt von dem Mahl beim Konsul, sie trugen eine Blume im Knopfloch und hatten den hohen Hut auf. Da kam der Rechtsanwalt Fredriksen; der Augenblick war noch nicht gekommen, aber Rechtsanwalt Fredriksen würde sicherlich die Gelegenheit wahrnehmen und einige feierliche Worte sprechen. Er war das Reden gewohnt, er war es, der in der Stadt Versammlungen zustandebrachte und Reden hielt.

Die Familie Johnsen taucht aus der Kajüte auf, Herr C. A. Johnsen selbst, mit lebhaften braunen Augen und dem runden Bauch des reichen Mannes. Frau Johnsen führt die kleine Fia an der Hand. Als sie an Land gingen, machten alle Platz, nicht ein Kind stand im Wege. Leute, die ein Dampfschiff besitzen, müssen einen breiten Weg auf ihrem eigenen Bollwerk haben, das ist nicht mehr als recht und billig.

Der Kapitän stieg rasch hinauf auf die Brücke und klingelte der Maschine. Fertig! Los! ruft er. Die Trossen werden hereingezogen. Der Kapitän schwingt die Mütze, seine Familie und Freunde grüßen wieder, das Schiff zittert und weicht zurück. Oliver wirft im letzten Augenblick seine Tüte ans Land, er sieht wohl, daß sie ungefähr da niederfällt, wo sie soll.

Jetzt ist der Augenblick da: Rechtsanwalt Fredriksen tritt vor, lüftet den Seidenhut hoch in die Höhe und erfleht Heil und Glück für das Schiff, den Reeder und die Mannschaft. Hurra! ertönt es vom Bollwerk.

Dann fuhr die Fia nach dem Mittelmeer.

Die Tüte traf, jawohl, aber es war eine unwillkommene Tüte und eine schändliche Tüte, sie zerplatzte, als sie niederfiel, und die Rosinen lagen zerstreut auf den Planken des Bollwerks. Das war ein Zustand! Petra lächelte gekränkt und war dem Weinen nahe. Olivers Mutter las die Rosinen in ihr Tuch zusammen, sie hatte ihre liebe Not, die Kinder zurückzuhalten, und ermahnte sie eifrig, doch nicht auf die guten Gaben Gottes zu treten. Die Honoratioren, ja auch die Familie Johnsen kamen an diesem kleinen Walplatz vorüber, insbesondere kam auch der junge Scheldrup Johnsen vorüber. Er lächelte und sagte leise zu Petra: Heb' deine Rosinen auf! Petra war wie mit Blut übergossen; sie ließ den Kopf hängen und wäre sicherlich am liebsten in die Erde versunken ...

Die Weiber am Brunnen redeten noch lange von diesem Tag. Sie konnten wohl in der und jener Kleinigkeit uneinig sein, aber Frau Johnsen war jedenfalls in schwarze vornehme Seide gekleidet gewesen und hatte einen Überwurf mit seidenen Fransen über den Schultern getragen. Ihr Hut war sogar von ganz besonderer Art, mit einem dünnen, breiten Rand, der beim Gehen etwas auf und ab wogte, und mit einer einzigen, großen Feder geschmückt.

Dagegen hatte sich niemand weiter um das gekümmert, was nun folgte, denn jetzt kam das tägliche Leben an die Reihe. Oliver kam im Herbst wieder heim, aber ohne die Fia. Ach ja, er hatte einen Schaden davongetragen, war fast erschlagen worden. Er war ein Krüppel. Da war nichts zu machen. Wenn man aus dem Takelwerk herabstürzt und sich die Rippen bricht, so kann man es ja wohl überstehen, aber es ist jedenfalls ein Ereignis, das man im Gedächtnis behält. Aber Oliver – er geriet unter eine Trantonne und brach sich die Leiste und einen Schenkel, er wurde verstümmelt und überstand es. Dann lag er im Krankenhaus in einer kleinen italienischen Küstenstadt, wo ihm wohl nicht die richtige Pflege zuteil wurde, und das Bein mußte abgenommen werden. Sieben Monate vergingen, bis er in seine Heimat zurückkehren konnte.

Petra, sein Mädchen, zeigte sich recht gut und hielt sich unter dieser ungeheuren Prüfung aufrecht. Sie war in jeder Weise ebenso gewöhnlich wie andere Mädchen, aber sie hatte auch gute Eigenschaften, daran fehlte es wirklich nicht.

Mattis, der bei einem Schreiner in der Lehre gewesen und jetzt Geselle war, Mattis mit der großen Nase, dieser Mann ging zu Petra und sagte: Das ist ein großes Unglück.

Welches Unglück? fragte sie.

Daß der Oliver so heimkommt. Weißt du es nicht?

Petra antwortete gekränkt und ganz treu: Soll ich es nicht wissen? Hab ich nicht einen Brief um den andern bekommen?

Er ist zu Schaden gekommen, sagte Mattis.

Jawohl, erwidert Petra.

Ja, nun gehört er zu denen, die sich nicht allein durchbringen können, und noch weniger andere, und wie soll es dann gehen?

Petra antwortete kurz: Darum brauchst du dich nicht zu kümmern.

Sie zeigte keinen auffallenden Kummer, legte kein Mitleid mit sich selbst an den Tag, nein, vielleicht hatte sie nicht einmal nennenswertes Mitleid mit ihrem Liebsten.

Willkommen daheim! sagte sie zu ihm.

Oliver selbst war schweigsam, aber seine Mutter ergriff das Wort. Ja ja, sagte sie, du siehst nun, wie er heimgekommen ist.

Na, du hast einen Stelzfuß, sagte Petra.

Oliver sah nach der andern Seite und erwiderte: Ja, das versteht sich.

Die Mutter fügte hinzu: Und auch eine Krücke.

Das ist nur für den Anfang, solange ich noch nicht fest und sicher bin.

Tut es weh? erkundigte sich Petra nach dem Bein.

Kein bißchen!

Na, das ist nur gut. Damit schickte sich Petra zum Gehen an. Ja, ich wollte nur einmal hereinsehen, fügte sie hinzu.

Da konnte er ihr ja nicht die zwei Geschenke übergeben, die er mitgebracht hatte, eine weiße Engelsfigur und ein mit verschiedenen Holzarten eingelegtes Kaffeebrett. Warum war sie so trocken und kurz angebunden? Sie wußte ja, daß er ihr immer er was mitbrachte, wenn er aus fernen Landen heimkehrte, und er hatte sie auch diesmal nicht vergessen. Was den Stelzfuß betraf, so hatte dieser sicher einen recht unvorteilhaften Eindruck auf sie gemacht, das war nicht anders zu erwarten gewesen, aber kalt und kurz angebunden – war Petra kalt? Alles andere als das. Wie auch der Mattis nun anfing, zu jedermann, der es hören wollte, zu sagen: Die Petra, ich möchte sie nicht haben! Denn wenn ein Mädchen zu denen gehört, die schwer schnaufen und mit zitternden Nasenflügeln dastehen, dann bedanke ich mich!

Oliver mußte allmählich daran denken, sich nach einer Beschäftigung umzutun. Solange es etwas daheim zu essen gab, verzehrte er seine Mahlzeiten und wurde stark und kräftig; er erlangte seinen gesunden Oberkörper wieder wie früher und auch ordentliche Kräfte, aber als die Mutter nichts mehr von seiner Heuer abheben konnte, nahm das Mehl und Fleisch im Hause bedenklich ab. Vielleicht wäre Oliver noch nicht zu alt zum Erlernen eines Handwerks gewesen, er konnte Uhrmacher, oder Schneider werden, oder er konnte aufs Seminar gehen und Schullehrer werden. Aber was wäre so eine Weiberbeschäftigung für seine Hände? Und wovon sollte seine Mutter während der Lehrjahre leben? Außerdem war ja das Meer sein Element, das Meer und nichts anderes.

Er war jung und seiner plötzlichen Hilflosigkeit ungewohnt. So saß er meist ruhig da, und wenn er sich in der Stube herumbewegen wollte, half er sich mit den Händen und warf sich von Stuhl zu Stuhl. Er war eifrig damit beschäftigt, sich eine neue Lebensstellung auszudenken; das war eine sonderbare Beschäftigung für den geborenen Matrosen, ja bisweilen hielt er vor lauter Sonderbarkeit mitten in einem Gedanken inne. Er hinfällig, er ein Krüppel! Vorläufig mußte er sich ein Boot verschaffen und fürs Haus etwas fischen. Er hatte einen schlimmen Schaden davongetragen, einen unbestreitbaren, glaubwürdigen Leibesschaden, aber als er das brandige Bein abgeworfen und die Folgen davon überwunden hatte, blieb ihm immer noch ein guter Rest übrig, eine Nettokraft.

Es ging nicht gerade großartig mit dem Fischfang, Frostwetter setzte ein und die Bucht war bis zum offenen Meer hinaus mit Eis bedeckt, nicht einmal das Postschiff konnte die Rinne offen halten, sondern mußte sich jedesmal durchs Eis vorwärtsstoßen. Oliver hätte es wie die andern Fischer machen können, ein Loch ins Eis hacken und da fischen, zu Fuß – sozusagen vom Land aus, das tat Jörgen, das tat auch der alte Martin vom Hügel. Aber Oliver war zu jung in diesem Fach und wollte übrigens auch nicht zu solchen äußersten Mitteln greifen. Die Leute sollten nicht den Eindruck bekommen, er fische aus Not, nein, sondern aus Lust, um sich die Zeit zu verkürzen.

Ernste Tage kamen, eine unbehagliche Weihnachtszeit. Aber zu Neujahr änderte sich das Wetter, ein Sturm setzte ein, und das Eis in der Bucht brach wieder auf. Da ruderte Oliver hinaus und fischte einen Tag um den andern; er blieb immer länger fort, manchmal bis zum Abend, und er brachte auch Fische mit heim. Aber er fischte nicht aus Not, o weit entfernt!

Die Mutter sagte in gleichgültigem Ton: Es ist wahr, Johnsens am Landungsplatz haben mich gefragt, ob du ihnen nicht Fische bringen könntest.

Ich? sagte Oliver. So, das sagten sie. Aber ich fische nicht für andere.

Ja, das dacht' ich auch, stimmte die Mutter bei. Sie ließ die Frage fallen, ließ sie ganz und gar fallen und tat, als könne Johnsen am Landungsplatz seine Fische wohl selbst fangen. Schließlich sagte sie: Ja ja, sie haben zwar eine gute Bezahlung dafür versprochen.

Schweigen. Oliver grübelte nach. Der Johnsen am Landungsplatz soll mir zuerst meinen Fuß bezahlen, sagte er dann.

In dieser ganzen Zeit war nur wenig von Petra zu sehen gewesen, sie hatte wohl ein paarmal einen kurzen Besuch gemacht, hatte ihre Geschenke in Empfang genommen, ein paar gleichgültige Redensarten gewechselt und war wieder gegangen. Sie trug noch immer Olivers Ring und machte auch keine Miene, das Verhältnis abzubrechen, nein, das tat sie nicht; aber Oliver hatte doch so seine ängstlichen Gedanken über dies und jenes. Richtig bedacht, war er ja auch nicht mehr viel wert, ein halber Mensch, eine Art Mißgestalt, die nichts besaß, selbst seine Kleider fingen schon an dünn zu werden. Ja, er war in seinen Matrosentagen zu leichtsinnig gewesen, er genau wie die andern, und hatte nicht viel auf die Seite gelegt. Das einzige, was er für die Zukunft getan und worauf er vor seinem Fall stolz gewesen war, galt jetzt vielleicht gar nichts: der Anbau am Hause, die neue Stube und die Kammer auf der andern Seite des Flurs. Gott mochte wissen, ob diese Herrlichkeit nun benützt wurde!

Der Winter wollte kein Ende nehmen, das drückte aufs Gemüt und machte verdrossen.

An einem Sonntag gegen Abend kam Petra und war freundlicher als sonst. Ich habe deine Mutter in die Stadt gehen sehen, sagte sie zu Oliver, da wollte ich ein wenig zu dir hereinschauen.

Oliver ahnte Unrat, sein Mädchen war so fremdartig; sie sagte zärtlich: Armer Oliver! und sie äußerte, Gott habe sie beide schwer heimgesucht.

Ja, stimmte Oliver bei.

Das ist nun eben unser Schicksal, murmelte sie und seufzte.

Was meinst du? fragte er.

Was meinst du selbst? versetzte sie.

Da gab er sofort nach, teils aus altem Hochmut, teils weil er einsah, daß sie eigentlich recht hatte. Man konnte vor der nackten Tatsache unmöglich die Augen verschließen.

Sie besprachen die Sache miteinander, und sie gebrauchte lauter schonende Worte, aber die Absicht war deutlich.

Ich wundere mich nicht über dich, sagte er mit niedergeschlagenen Augen.

Als sie gehen wollte, schien sie das Schwerste immer noch nicht gesagt zu haben, zuerst ging sie nach der Tür, kam aber dann wieder zu ihm zurück, strich ihm über beide Wangen und hob seinen Kopf auf.

Jetzt sei nicht gegen uns beide, indem du nein sagst. Ich habe mir's überlegt. Du hast ja nicht allein dich selbst, sondern auch noch deine Mutter zu versorgen. Das ist nicht so leicht für dich.

Er sah sie verständnislos an: das hatten sie schon besprochen, nun wollte er nichts mehr davon hören.

Das weiß ich, sagte er.

Und ohne gesunde Glieder und allem andern –

Das weiß ich auch, unterbrach er sie gereizt.

Nein, so darfst du nicht sein, Oliver! lockte sie.

Aber als sie merkte, daß er noch mehr Bissiges sagen wollte, runzelte auch sie die Stirn und ging nun plötzlich ohne Umschweife los. Es nützt nichts, was du sagst, es steht jetzt nicht sehr gut für dich, aber es wird wohl besser werden. Jetzt lege ich ihn hierher, du kannst ihn in etwas verwandeln, es nützt nichts, was du auch sagst, ich lege ihn hier auf den Tisch. Er ist schwer und teuer, ich bin überzeugt, es werden ihn viele kaufen wollen.

Was ist es denn? Ach so, der Ring! Ja, leg ihn nur dorthin, sagte er und nickte.

Sie hätte sich alle Umschweife sparen können, in diesem Augenblick schien er gar nichts dagegen zu haben, den Ring wieder zu bekommen, er war jedenfalls ein Wertgegenstand. Als Petra gegangen war, steckte er ihn sich auf das äußerste Gelenk seines kleinen Fingers und drehte und wendete ihn.

Aber dann wurde er von Rührung übermannt. Ihn verkaufen, den Ring in etwas anderes verwandeln? Nimmermehr! Eher wird er ihn in die Meereswogen versenken. Er wird dieses Andenken sein Leben lang behalten, es an den Sonntagen herausnehmen und betrachten. Im übrigen dauerte es ja nicht so lange, bis das Leben verging. –


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