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Scheldrup Johnsen war unerwartet heimgekommen und mußte auch ebenso unerwartet wieder abreisen.
Er nahm Berntsen, den Ersten Ladendiener des Vaters mit sich und ging in des Doktors Sprechzimmer, grüßte kurz und tat folgende Fragen: Was bedeuten die Briefe, die Sie mir geschickt haben? Ich bin heimgekommen, um es zu erfahren.
Der Doktor sagt überrumpelt und halb lächelnd: Die Briefe? O die –
An einem Tage schreiben Sie mir, es sei ein neues braunäugiges Exemplar von einem Kind auf die Welt gekommen, ein paar Tage später, die Mutter sei tot.
Ja.
Ja. Ich will wissen, warum Sie mich von diesen Ereignissen in Kenntnis gesetzt haben.
Können wir nicht allein sein? fragt der Doktor in zahmem Tone.
Nein, ich will einen Zeugen gegen Sie haben, erwiderte Scheldrup.
Aber was ich sagen will, eignet sich nicht für fremde Ohren.
Aber dann weiß ich, was sich für die Ihrigen eignet, sagt Scheldrup und tritt ein paar Schritte näher. Der Doktor weicht zurück, sein Mund bebt, und er sagt: Nein, warten Sie ein wenig, ich merke, daß ich mich getäuscht habe, und bitte um Entschuldigung. Ich tat es, ich täuschte mich also, in Ihnen und noch jemand, entschuldigen Sie! Eigentlich war es nicht so schlimm gemeint.
Eigentlich sollte ich Sie einfach durchprügeln, sagte Scheldrup mit zornbebender Stimme. Sie sind ein Verleumder, ein – –
Warten Sie ein wenig, lassen Sie mich – –
Ein Dreckkerl, ein widerliches Klatschweib! Ja, ich sollte Sie bei den Ohren nehmen!
Der Doktor hat sich etwas gefaßt: Warten Sie ein wenig, ich habe Fragezeichen gemacht, erinnern Sie sich? Eigentlich wollte ich Sie nur der Wissenschaft wegen etwas fragen, meiner eigenen Wissenschaft wegen. Haben Sie die Briefe bei sich?
Hätte ich sie bei mir, dann würde ich Sie zwingen sie zu kauen und zu verschlucken.
Nein, nein, nein, wir wollen darüber reden, ruhig darüber reden, nicht wahr? Ich bitte Sie um Entschuldigung, es war der Wissenschaft wegen, ich glaubte, ich könnte es tun, wir kennen ja einander. Erinnern Sie sich nicht, daß ich gefragt habe, daß ich Fragezeichen setzte? Es ist nämlich ein unsicherer Punkt in der Wissenschaft –
Scheldrup ist wütend, er wird immer ausfälliger, maßlos, sein Auftreten verliert dadurch und wird gewöhnlich: Die Wissenschaft und Ihr Geschwätz! Sie sind überdies ein Kujon, ein Hasenfuß, jetzt wollen Sie Ihren Brief wegschwatzen, ich könnte Sie anspucken.
Der Doktor hatte sich indessen noch mehr gefaßt: Seien Sie nicht so wütend, das ist das gar nicht wert, durchaus nicht. Es ist auch nicht klug, ich bitte Sie um Entschuldigung.
Was meinen Sie damit, es sei nicht klug?
Wenn wir allein wären, würde ich es sagen. Es ist nicht klug, es kann sich rächen.
Ich kümmere mich den Teufel um Ihre Rache, verstehen Sie! ruft Scheldrup.
Ich bitte Sie um Entschuldigung! wiederholt der Doktor.
Aber diese lauten Stimmen in dem sonst so stillen Zimmer erregen Aufmerksamkeit im Hause, sie rufen die Hausfrau herbei und zwingen Scheldrup, sich stumm zu verbeugen und mit seinem Begleiter fortzugehen.
Eine Entschuldigung war also das ganze Ergebnis einer Reise von Havre her, ein paar leere Worte! Am Abend dachte Scheldrup an einen neuen Besuch beim Doktor, und er sprach auch mit Berntsen darüber, bekam aber den Rat, beizeiten aufzuhören, der Doktor habe genug bekommen, habe übergenug bekommen. O Konsul Johnsens ausgezeichneter Erster Ladendiener, er gab gute Ratschläge, er wußte, was er tat, und dachte an mehr, als nur an eine Seite einer Sache; es ist auch gar nicht unmöglich, daß er dort im Sprechzimmer recht gut verstanden hatte, worauf der Doktor jedesmal anspielte. Was war übrigens da zu verstehen? Nichts, Klatschereien. Scheldrup sollte seiner selbst und seiner ganzen Familie wegen darüber schweigen.
Nein, lassen Sie es nun gut sein, Sie haben ihm schon einen tödlichen Schrecken eingejagt, mehr kann er nicht ertragen, sagte Berntsen.
Scheldrup beruhigte sich. Sein Zorn hatte sich gelegt, er wollte sich mit der Entschuldigung begnügen. Es war auch so eine Sache mit einer Backpfeife, er hatte selbst vor vielen Jahren eine bekommen, die ihm nicht zur Ehre gereichte, jene schändliche Backpfeife von Petra, er konnte nicht für ewige Zeiten Backpfeifen an seinem Namen kleben lassen.
Am nächsten Morgen in aller Frühe begab sich Scheldrup wieder an Bord und reiste zurück nach Havre.
Und da geriet der Doktor wieder in eine nette Klemme.
Da war er ja hinunter zum Postschiff gegangen, und zwar am frühen Morgen wie so viele andere, er hatte viel ausgestanden und wollte sich ein wenig erfrischen – aber das wurde eine verflixte Erfrischung! Hätte er sich denken können, daß Scheldrup so bald wieder abreisen würde, er, der sonst wochenlange Ferien daheim zubrachte! Da kam er gerade auf das Bollwerk zu in Begleitung von Vater, Mutter und Schwester und von zwei fremden Malern. Sollte der Doktor grüßen? Zuerst grüßen? Gewiß, es waren ja Damen dabei. Er stand peinlich weit zurück, aber grüßte also, und als er das getan hatte, ging er noch weiter abseits.
Aber plötzlich schien der Zorn in Scheldrup wieder aufzukochen, und er ging dem Doktor nach. Er hielt des Doktors Gegenwart hier für Trotz, für Frechheit. Und was nun? Er geht dem Doktor weiter nach und wie um ihm direkt unter die Augen zu treten, aber ohne ihn selbst anzusehen, o, nicht mit einem Blick! Will er ihn umrennen, ihn ins Wasser hineintreiben? Jetzt sind nur noch vier Schritte zwischen ihnen.
Doch da taucht plötzlich der merkwürdige Erste Ladendiener Berntsen mitten zwischen den beiden Herren auf, und sagt zu Scheldrup: Sehen Sie, das haben Sie wohl vergessen! Damit zieht er Scheldrup ein paar Schritte mit sich fort und übergibt ihm etwas, Gott mag wissen, was es ist, vielleicht ein Plunder. Aber von da an ist Berntsen am Bollwerk sehr in Anspruch genommen, er ist überall und doch immer an Scheldrups Seite. Ich sehe mich hier nach einem Teil Waren um, sagt er, wir erwarten gewisse Waren. Ja, sogar als Scheldrup über den Landungssteg an Bord geht, folgt ihm Berntsen, um sich auf dem Schiff nach den Waren zu erkundigen.
Scheldrup steht an der Reling und spricht gedämpft mit seiner Familie auf dem Bollwerk. Und diese Familie steht nun da, über die Maßen verwundert, sowohl über sein Kommen als auch über die rasche Abreise. Der Vater war mit keinem Wort in ihn gedrungen, und für Mutter und Schwester hatte er nur die eine Antwort gehabt: Geschäfte! Aber alle waren im unklaren.
Während nun Scheldrup da an der Reling steht, deutet er plötzlich auf den Doktor drüben am Land und ruft Berntsen laut und deutlich zu: Hören Sie, Berntsen, ich hätte nun doch eigentlich den Kerl dort verprügeln sollen! Er hat es gewagt, hierherzukommen!
Stille. Nur eine einzelne Stimme wird am Bollwerk laut. Was beim Satan – was hat er gemeint? – Das war Olaus vom Anger, er witterte Hallo!
Und wenn Sie wieder in Havre sind, vergessen Sie nicht, uns Stoffe zu senden, erwiderte Berntsen sofort; Baumwollstoffe in passenden Mustern, wohl einhalbhundert Stücke.
Ja.
Wollen Sie es nicht aufschreiben?
Scheldrup kann nicht anders, als sein Buch herausziehen und es aufschreiben.
Dann fängt das Schiff an, sich zu bewegen, und Berntsen springt an Land.
Der Doktor stand da, wie wenn ihn der Schlag getroffen hätte, schwankend, mit ausdruckslosem Gesicht. Das dauerte einen Augenblick, dann richtete er sich auf, streckte die Brust heraus und ging davon. O, es war nicht wahrscheinlich, daß er sich in den Hohn des jungen Krämers auf dem öffentlichen Bollwerk finden würde!
Alles in allem hatte der Doktor in der letzten Zeit gar manchen Ärger gehabt, aber als er nun das Bollwerk verließ, sah er aus, als habe er sich vorgenommen, alles zu ertragen. Olaus vom Anger sah ihm nach und sprach sich über seine Hochnäsigkeit aus.
In diesem Augenblick kamen die beiden Fräulein Olsen eiligen Laufes daher; sie waren so hübsch und jung und atemlos. Ach, nun sind wir zu spät gekommen, sagten sie. War heute etwas Interessantes an Bord? Warum seid ihr denn alle hier, warum winkt ihr dem Boot nach, Fia?
O, sie wußten es wohl; die Fräulein Olsen hatten es wohl am frühen Morgen im Bett gehört und waren eilends in ihre Kleider gefahren, waren aber doch zu spät gekommen.
Scheldrup ist wieder abgereist, sagt Fia.
Scheldrup – was du nicht sagst! Schon? Ei, wirklich?
Mehr wagten sie wohl nicht zu sagen, sie zogen sich mit den beiden Malern zurück und gingen heim zur Sitzung.
Sie holten den Doktor ein, der stehengeblieben war und mit dem Rechtsanwalt Fredriksen sprach. Na, rief der Doktor den jungen Mädchen zu, sind Sie zum Abschied zu spät gekommen? Ha, der Doktor war nun gerettet, er war nicht mehr in Gefahr, und so hatte er seine Überlegenheit wiedergefunden.
Abschied? Welcher Abschied? fragten die Fräulein Olsen, gingen aber gleich weiter.
Der Doktor sah ihnen spöttisch nach und wendete sich wieder dem Rechtsanwalt zu: Wir wurden unterbrochen. Können Sie mir keine Auskunft auf meine Frage geben?
Nein, nicht ohne weiteres.
So? sagt der Doktor. Aber es ist doch eine Sache der bürgerlichen Gesellschaft.
O ja. Aber es ist auch eine sehr private Sache.
Der Doktor lächelt anzüglich. Ich glaubte, daß Sie als Gesetzeskundiger, der nun mit Gottes und guter Menschen Hilfe vielleicht Gesetzgeber wird, gegen ein soziales Übel Rat schaffen könnten.
Vermehrte Geburten in einem Lande werden nun eigentlich nicht zu sozialen Übeln gerechnet, versetzt der Rechtsanwalt.
Da haben wir es wieder! Das ist des Postmeisters Elegie über die Nachkommenschaft!
Nein, da tu' ich nicht mit.
Ich rechne sie zu den Übeln. Im übrigen aber ist hier die Rede davon, daß ein bestimmter Mann die Stadt mit seiner braunäugigen illegitimen Brut füllt.
Sagen Sie das?
Und ich weiß es.
Es ist sehr schwer, so etwas zu beweisen.
Allerdings, besonders wenn die Zeugen sterben. Aber dann kann vielleicht die Wissenschaft eintreten. Die sachkundige Wissenschaft ist ein unwiderlegbarer Zeuge.
Sagen Sie auch das?
O, das war etwas zu keck gesagt vom Rechtsanwalt, er hätte den Löwen nicht reizen sollen. Überrascht fragt der Doktor: Zweifeln Sie an der Wissenschaft? Stellen Sie sich auf diesen Standpunkt?
Der Rechtsanwalt, der Volksredner dachte wohl so: Er sagt absichtlich, ich stelle mich auf meinen Standpunkt, das war schlau gesagt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als etwas von dem schweren Ernst dieser Unterredung wegzunehmen. Nein, Sie mißverstehen mich. Die Wissenschaft natürlich! Aber nun hören Sie, Herr Doktor: braunäugige Kinder sind ja hübsche Kinder. Wenn es so ist, wie Sie sagen, dann muß der Vater ein Mann mit Übung und Tüchtigkeit sein, ein guter Stammvater also. Unsere liberale Zeit –
Wollen Sie Ihren Spaß mit mir treiben? fragt der Doktor. Guten Morgen, Herr Rechtsanwalt!
O, er hätte laut hinausschreien, hätte platzen mögen! Alles und alle waren gegen ihn. So ein Rechtsanwalt auch, er war borstig und unrasiert, o, so demokratisch, und dann hatte er sich eine Feder auf den Hut gesteckt wie zu einer Alpenbesteigung. Schöner Jüngling das!
Alle diese Ärgerlichkeiten machten den Doktor allmählich ungeduldig, sollte er nicht aufstehen und sie lehren, ja, dieses Pack lehren! Natürlich war seine Stellung trotzdem fest, aber man war jetzt gerade nicht besonders ehrerbietig gegen ihn, ganz und gar nicht ehrerbietig. Hätte er nicht gegen die meisten Leute eine große Verachtung im Busen getragen, dann würde er sich ab und zu umgedreht und gefragt haben, was zum Kuckuck sie denn zu grinsen hätten, wenn er vorüberging?
Und da hatte ihm nun Konsul Johnsen in der letzten Woche eine lange Rechnung geschickt, der Johnsen am Landungsplatz, der Krämerpapa. Ja, er sollte sein Geld haben, sollte sobald wie möglich alle seine Groschen bekommen, bitte hier, in den allernächsten Tagen. Haha, der Doktor mußte lachen; er wollte das Geld durch die Post schicken, daß es alle sahen; wäre das nicht ein Streich! Und von diesem Tag und dieser Stunde an sollten alle Einkäufe in diesem Geschäft, in dieser Kneipe aufhören. Es war ja ein Ort, wo ein gewisser geachteter Bürger der Stadt nicht einmal sein ehrliches Gewicht beim Mehlkaufen bekam.
Plötzlich bekommt er eine Eingebung; er will mit dem Schreiner Mattis sprechen und etwas Näheres über den berühmten Mehleinkauf hören. Er sieht auf seine Uhr. Doch, es geht noch.
Einen so großen und vornehmen Besuch hatte der Schreiner Mattis nicht in seiner Werkstatt erwartet, und er führte den Doktor sofort in die Stube hinein. Sie ließen sich zwischen Sesseln und Schaukelstühlen und Etageren und Tischen mit dicken Plüschdecken nieder. Über dem Tisch in der Mitte hing die Hängelampe bis auf die Platte herunter, an den Wänden hingen Photographien von ausgewanderten Verwandten und ein Bild des Landtags vom Jahr 1884. Die Laubzweige auf dem Ofenkranz waren so trocken wie Papier. Es war eng und stickig in dem kleinen, überfüllten Raume, und eine Unterhaltung kam auch nicht recht in Gang. Mattis schien ganz anders geworden zu sein als früher, ganz und gar nicht aufgelegt.
Der Doktor sagte, er habe einen Wandschirm, der geleimt werden müsse.
Jawohl, der Schreiner würde ihn durch den Lehrjungen holen lassen.
Der Wandschirm hat eines Tages bei offener Tür und offenen Fenstern im Zug gestanden, da warf ihn der Wind um, und dabei ging er natürlich entzwei.
Ja, das ist bald geschehen.
Aber es sollte nicht so sein, durchaus nicht. Es hätte kein Zug sein sollen. Die dummen Mägde sind schuld daran. Wie steht es bei Ihnen, Mattis? Ihr Haus wird vielleicht gut versorgt, aber Dienstmädchen sind eben Dienstmädchen.
Mattis, plötzlich lebhaft, plötzlich hitzig, schüttelt mehrere Male heftig den Kopf, das konnte alles mögliche bedeuten, nur nicht ja. Es ist alles gut versorgt worden, aber nun muß sie fort.
Muß sie fort? Warum denn?
Ich will nicht darüber reden. Die Frauenzimmer sind verrückt.
Wie heißt sie nur gleich?
Maren Salt. Schon recht alt, vielleicht fünfzig Jahre, aber trotzdem verrückt. Ach, was ist das jetzt für eine Zeit! Sie blasen die Nüstern auf wie junge Fohlen.
Es wird bei Ihnen schon wieder in Ordnung kommen.
In Ordnung kommen? Da soll der Teufel in Ordnung kommen! gibt der Schreiner erregt kund. Es ist verbrieft und versiegelt, fügt er hinzu.
Der Doktor will wieder gehen. Diese häuslichen Verhältnisse in einem Arbeiterheim interessierten den Akademiker nicht, und er fühlte sich durch die Ungezwungenheit des Schreiners gekränkt, sie waren keine Gleichgestellten. Aber er hatte ein Anliegen.
Hören Sie, Mattis, sagt er, haben Sie nicht bei Johnsen am Landungsplatz einmal falsch gewogen bekommen?
Was?
Ich frage, weil andere auch dort dieses und jenes erfahren haben können.
Nein, antwortete Mattis kurz und schüttelte den Kopf.
Nein, sagen Sie?
Es war nicht beim Konsul, es war im Lagerhaus.
Und da wußte der Konsul nichts davon, meinen Sie?
Der Konsul? Wie sollte er davon wissen, er steht ja nicht im Lagerhaus.
Ist Ihnen wirklich in diesem Geschäft Ihr Mehl nicht richtig gewogen worden?
Der Oliver hat's getan. Kein anderer als der Oliver ist's gewesen. Ich versteh aber nicht, warum Sie danach fragen; Sie müssen entschuldigen, Herr Doktor.
Wann wollen Sie den Wandschirm holen? fragt der Doktor, indem er aufsteht.
Sogleich. Augenblicklich. Und er kann morgen schon trocken sein. Ja, ich mache ihn gern zurecht. Bitte, diesen Weg, Herr Doktor!
Vergebliche Mühe. Da geht nun dieser Mann denselben Weg zurück, den er gekommen war, der Doktor des Städtchens, eine wichtige Persönlichkeit, eine Autorität, da geht er mit enttäuschter Miene wegen einer Kleinigkeit, wegen nichts. Auch er hatte wohl einstmals junge Träume gehabt, hatte viel vom Leben erhofft, hatte sich schon auf den höchsten Zinnen gedacht, damals war seine Haut zart, sein Blut rot gewesen, er war verliebt gewesen, konnte lächeln – wo war das alles jetzt? Das Leben – das Leben hatte sich darauf gestürzt und es verzehrt! Er war mehr und mehr in kleinen Ärgernissen und kleinen Interessen aufgegangen, Jahr um Jahr war er runzliger und boshafter geworden; allein mit seiner Frau bei allen Mahlzeiten, in einem leeren Hause, ohne Familie, ohne Kinder, allein mit seiner Gelehrsamkeit und seinem eigenen Mißerfolg, neugierig, klatschsüchtig und kleinlich. Auch er hatte wohl einmal junge Träume gehabt, das war nun lange her, jetzt war er gerupft; was ihm von früher noch geblieben war, war der Jargon seiner Studentenbude, deren Radikalismus, deren Freidenkerei, deren ungewaschene Schlagfertigkeit, aber ohne eine Spur mehr von der Schönheit und Innerlichkeit der Jugend, ja selbst nicht von deren Fehlern. Er war ausgeartet, sein Sinn war verändert, und es war ihm schlimm ergangen, er war niemand mehr. Seht, nun wollte er ordentlich sparen, um die Rechnung bei Johnsen zu bezahlen. Dann wollte er mit einem andern Kaufmann in Verbindung treten und dort anschreiben lassen, vielleicht bei Davidsen, ja gerade bei Davidsen, der ein neugebackener Konsul war und die Kundschaft besserer Leute brauchte. Ein Plan, ein Vorsatz, würdig einer Hausfrau in Verlegenheit!
Er geht heim und findet seine Frau nicht zu Hause, dann geht er ins Schlafzimmer und findet den Wandschirm unversehrt. Na, da hatte ihm also das Umwerfen nichts getan, warum hatte er dann gescholten? Eine recht traurige, bittere Enttäuschung überkommt ihn auch hier und zugleich ein so rasender Zorn, daß er den Wandschirm umwirft und darauf herumtrampelt. Nun mag der Schreinerlehrling kommen! Nein, nicht eine einzige Befriedigung hatte er in seinem Leben, nicht eine einzige goldene Freude. In zwanzig Jahren, in zehn Jahren war er tot, und in derselben Stunde war er vergessen.
Er geht wieder aus, das Sprechzimmer soll für sich selbst sorgen. Da kommt ihm natürlich der arme Postmeister entgegen, wie gewöhnlich leise mit sich selbst sprechend, der Doktor bringt es kaum fertig, den Hut zu lüpfen, und geht an ihm vorüber.
Und nun trifft er Henriksen von der Werft – seht nun bloß, wie klein die Stadt und wie klein auch die Menschen sind, sie haben so gut Platz hintereinander in derselben Straße, einer sieht dem andern schon von hinten an, was er denkt. Den Henriksen muß der Doktor grüßen, das geht nicht anders, der Witwer erwartet es sicher von ihm, und der Doktor hätte, wenn es anders gegangen wäre, seine Rechnung bei Henriksen erhöhen können. Um die Wahrheit zu sagen, so war es gerade dieses Honorar, das den größten Teil der Rechnung bei Johnsen hätte decken sollen. Aber jetzt war Frau Henriksen tot, der Patient war gestorben, das war ein schändliches Mißgeschick, ein Schlag.
Geht es sonst gut bei Ihnen, ist das Neugeborene gesund? fragt der Doktor.
Ja, Gott sei Dank, er ist gesund, er ist großartig.
Der Doktor versteht, daß der Besitz dieses Kindes Henriksens Schmerz etwas besänftigt; er ist Witwer geworden, jawohl, aber seine Frau hat ihm zu seinem Trost diesen prächtigen kleinen Jungen hinterlassen. Henriksen ist nicht ganz zu Boden geschlagen, nicht zerschmettert, und der Doktor kann doch noch Hoffnung auf sein Honorar haben.
Ich gehe mit Ihnen und sehe nach dem Kinde, sagt er.
O ja, wenn Sie das wollten, Herr Doktor, versetzt Henriksen froh und dankbar.
Das tu ich, ich stehle dem Sprechzimmer eine halbe Stunde und gehe mit Ihnen. Und Sie selbst, Henriksen, geht es Ihnen gut?
O ja, danke, Herr Doktor. Ja, es fehlt mir nichts.
Natürlich, wie ein Fels! Hat Ihre Frau nichts gesagt, bevor sie starb? Hatte sie nicht noch irgend etwas Intimes mit Ihnen zu besprechen? Das ist doch meist so.
Nein, antwortet Henriksen und schüttelt den Kopf. Sie meinen, ob sie mich gebeten habe, für die Kinder zu sorgen, für die Kleinen zu sorgen? Nein.
Wenn die Menschen sterben, haben sie einen Drang, für dies und jenes um Verzeihung zu bitten, sie können im geheimen etwas Unrechtes getan haben, einen Fehltritt oder so etwas. Sterbende haben mich bisweilen gebeten, ihre Bitten zu übermitteln.
Nein, o nein. Und außerdem hatte sie mich für nichts um Verzeihung zu bitten, o weit entfernt. Ich war auch leider nicht anwesend.
Ich habe gehört, sie habe nach dem Pfarrer verlangt.
Ohne einen Schatten von Verdacht antwortet Henriksen: Ja, sie hat wohl das Abendmahl nehmen wollen.
Der Junge ist groß und prächtig, aus dem kann etwas werden; gewachsen ist er auch schon, obgleich er nur mit der Flasche aufgezogen wird, ein Schreihals und ein Zornickel ist er!
Aber er hat braune Augen, sagt der Doktor.
Ja, ist das nicht merkwürdig! erwidert Henriksen. Da hat sie nun alle die Monate hindurch diesem Kind braune Augen gewünscht, gerade wie dem vorhergehenden. Wenn ihm nur Gott braune Augen schenken wollte, sie sind so sehr hübsch! sagte sie. Und da ist ihr dieser Wunsch erfüllt worden.
Nun, das war doch jedenfalls sehr gut, sagt der Doktor mit einem erzwungenen Lächeln.
Aber Henriksen nahm es für echt: Ja, nicht wahr? O, es war wohl so bestimmt! Ein Glas Wein, Herr Doktor? Vielleicht Sodawasser mit Whisky?
Sie treten in die Stube und setzen sich, jeder mit einem Glas vor sich, und Henriksen trinkt bald ein zweites. Er spricht von seiner Frau, von seiner Einsamkeit, die nicht zum Aushalten sei. Bei Tag und während der Arbeit, da gehe es noch an, aber wenn die Nacht komme, die Nacht –! Er ist äußerst freundlich und aufmerksam gegen seinen hochgeehrten Gast, allmählich sogar dankbar für dessen Hilfe – ja für alle Hilfe, die er geleistet hat.
Es stand leider nicht in meiner Macht, besser zu helfen, erwidert der Doktor.
Allerdings, aber Sie haben getan, was Sie konnten, das sag ich gerade heraus. Sie sind ja auch oft hier gewesen, um nach ihr zu sehen, und haben Medizin verschrieben. Wir alle taten, was wir konnten, den Trost haben wir, daß es ihr von unserer Seite an nichts gefehlt hat. Aber nun war wohl ihre Zeit abgelaufen. Noch ein Glas, Herr Doktor?
Ich weiß nicht. – Ja, wenn Sie meinen.
Henriksen strahlt. Es ist mir eine Ehre, wirklich, es ist eine Ehre für mein Haus, das hätte meine Frau erleben sollen! Und nun möcht ich gerne, daß Sie mir eine Rechnung schicken, Herr Doktor, eine ordentliche Rechnung. Doch, ich will es! Oder wenn Sie es mir jetzt gleich sagen wollten, nur die Summe, das genügt.
Das hat ja Zeit bis später.
Ach, alles, was getan werden konnte, ist getan worden, das ist mein Trost! murmelt Henriksen, in tiefe Gedanken versunken. Doch, ich will wirklich – lassen Sie mich lieber jetzt gleich –
Henriksen steht auf und öffnet seine Schreibkommode, er kommt mit einem Geldschein zurück, einem großen roten Schein und reicht ihn dem Doktor hin: Diesen hier, wenn es Ihnen so recht ist. Stimmt es einigermaßen, ist es genug?
Der Doktor ist durchaus nicht geldgierig, nicht habsüchtig; was er verdient hat, ist verbraucht worden, ja, mehr als das, verbraucht für Essen und Trinken, für »Genüsse«, nein, er ist nicht so schlecht, daß er nicht über den großen Schein in Verlegenheit geriete, diese Banknote, das ist ein Geschenk, und er erwidert: Das ist zuviel, ich bekomme nicht soviel, die Hälfte genügt!
Henriksen schüttelt den Kopf; er ist freigebig und gutherzig, und er will sich auch des Danks von des Doktors Seite würdig erweisen. Nehmen Sie nur, Herr Doktor, es ist von ihr und von mir. Und dann reden wir nicht mehr darüber.
Ich bin jederzeit bereit, zu kommen, Henriksen. Zu dem Kleinen. Bei Nacht oder bei Tage, jederzeit!
Der Doktor ging als ein junger Mann heimwärts. Was war geschehen? Seht, er hatte sich wehrlos gefühlt, und nun hatte er plötzlich eine Waffe in der Hand: Bitte, Herr Konsul Johnsen. Sie haben mir eine Rechnung geschickt, ich hatte die Kleinigkeit vergessen, hier ist eine Bescheinigung von der Post über einen Geldbrief an Sie.
Ja, er war froh, aber es kam nicht zu einer Umkehr bei ihm, nicht zu einem hohen Wogengang und einer Krisis vor Dankbarkeit. Das Leben war unverändert, die Feinde dieselben wie vorher, ein Zufall hatte ihn instand gesetzt, sinnlos und dumm über sie zu triumphieren, und darauf wollte er nicht verzichten. Er hätte nun in Johnsens Laden gehen und seine Schuld bei Berntsen begleichen können, aber er tut es nicht, dagegen reibt er sich die Hände bei dem Gedanken an den boshaften Brief, in den er das Geld einwickeln will, wenn er es abschickt.
Er hätte darauf verzichten sollen! Seht, da ist schon wieder einer von den Braunäugigen, es wimmelt von ihnen in der Stadt. Er hält den Jungen an und fragt: Lieferst du mir nicht öfters Fische?
Doch, früher.
Hast du das Fischen aufgegeben?
Ja.
Was tust du jetzt?
Ich – ich soll zur See.
Aber was tust du jetzt? Du siehst so ungewaschen aus.
Jetzt im Augenblick bin ich beim Schmied, aber –
Aber dazu hast du keine Lust. Nein, geh du lieber zur See! Wie heißt du doch?
Abel.
Sag deinem Vater – deinem Vater daheim – er soll einmal in meine Sprechstunde kommen. Ich hätte etwas mit ihm zu reden.