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Der Konsul gibt wohl einer bedrängten Stimmung nach, wenn er mitten in der Arbeitszeit sein Kontor verläßt; er sucht Ablenkung. Es ist ein Vorwand, wenn er selbst seine Briefe auf die Post bringt, das tut sonst ein Laufjunge. Es ist ebenfalls ein Vorwand, wenn er auf der Post die Dampferlinien auf den Plänen an der Wand studiert, es geschieht nur, um dem Personal Zeit zu lassen, im inneren Kontor mitzuteilen, Konsul Johnsen selbst stehe draußen.
Mit verwunderten und fragenden Blicken kommt der Postmeister heraus und fragt, ob er dem Herrn Konsul mit irgend etwas dienen könne?
Nein, danke. Doch wenn er Zeit habe, möchte er in den Büchern nach einem eingeschriebenen Brief forschen, er habe einen Scheck enthalten, und der Konsul habe seither nichts mehr davon gehört.
Sie gehen ins innere Kontor, und die Sache wird sofort aufgeklärt; danach unterhalten sie sich. Hier ist es kühl, es riecht ein wenig nach Lack- und Stempelfarbe, und an den Wänden hängen farbige Zeichnungen von Gottes- und Menschenhäusern, von einzelnen Türmen, von einzelnen Portalen, von Friesen, Schnitzwerk, schönen Türen, Kaminen, alles Werke der freien Phantasie. Im Garten vor dem Fenster wiegen einige dichte Fliederbüsche ihre Dolden im Winde.
Hier sitzt nun der Konsul und horcht auf ein sonderbares Geplauder, so ganz anders, als was ihm tagtäglich in den Ohren tönt. War er darum hergekommen? Gewöhnlich langweilte der Postmeister ja die Menschen zu Tode, der Doktor lief ihm davon. Gott hat mir nicht die Geduld verliehen, dieses Geschwätz mit anzuhören, pflegte er zu sagen. Der Konsul hat sich auf einen Stuhl gesetzt, er muß müde sein oder ratlos.
Ach, dieser Schwätzer von Postmeister! Er war ja sehr wohlmeinend und seelengut, aber langweilig, gerade wie der Schmied Carlsen, mit dem einen Unterschied jedoch, daß der Schmied beinahe niemals redete und andere quälte, sondern nur immer ganz albern zufrieden war. Zufrieden in einer Welt wie dieser! Die beiden glichen den Weibern am Brunnen, ach, sie waren selber nichts anderes als zwei Weiber am Brunnen, nur daß ihr Geschwätz einen frommen Inhalt hatte, aber ihre Seelen waren erfüllt von derselben Weibereinfalt. Sie hatten sich zu einer Art von Lebensansicht durchgerungen und behalfen sich damit: der Postmeister war sogar auf philosophischem Wege zu seinem Standpunkt gekommen. Zuweilen kamen allerdings die Ereignisse des Lebens und schlugen ihnen derb auf den Mund, allein das schien ihre Ansichten nicht zu beeinflussen. So hatte zum Beispiel Schmied Carlsen sehr mißratene Kinder, hielt aber dennoch an seinen frommen Ansichten fest und fuhr fort, Gott für Gut und Böse zu danken. War das nicht der Glaube von Israel? Die beiden Männer könnten ja vielleicht recht haben, dachten die Leute, sie waren vielleicht Beispiele und Vorbilder. Aber die Stadt wurde darum nicht anders, die Stadt war der kleine, krabbelnde Ameisenhaufen, und da war das wohl ein Beweis dafür, daß das Leben seinen Gang ging, trotz aller Theorien, vielleicht hauptsächlich trotz aller religiösen Theorien. Sah es denn da nicht ganz hoffnungslos aus für zwei Gerechte in der ganzen Stadt, was focht sie an, daß sie sich nicht allen den andern anschlossen?
Der Postmeister hat vielleicht heute irgend etwas Freudiges erlebt, Gott mag es wissen, aber es kann wohl sein jedenfalls ist er in bester Laune. Es gehörte nicht viel dazu, ihn aufzumuntern, er war ein genügsamer Mann. Sein ältester Sohn hatte vor einiger Zeit seine Steuermannsprüfung bestanden und auch sofort eine Stelle bekommen, und schon darüber war der Vater außer sich vor Freude. War denn solch ein Steuermannsposten so etwas Großartiges? Er ist ein tief angelegter Junge, sagte der Postmeister. Was der uns für Briefe schreibt! Ich weiß übrigens nicht, welches das beste von unsern Kindern ist. Da ist auch noch der von meinen Söhnen, der auf dem Lande arbeitet. Er spart seinen Lohn zusammen und schickt seinen Schwestern Geld zu schönen Stiefeln. Das ist ein Kerl! Ich darf ihm gar nicht mehr zum Gruße die Hand geben, er drückt sie mir zu Brei, haha, der ist ein Bär! Und Sie sollten nur einmal sehen, wie er einen Knoten in einem Strick auflöst! Er hat Nägel wie Zangen; zuweilen aber nimmt er auch die Zähne zu Hilfe. Solche Zähne hat nicht jeder. – Scheldrup ist also immer noch in Havre?
Ja, antwortet der Konsul.
Das seh ich an seinen Briefen; gestern hat der Doktor an ihn geschrieben.
So?
Ja. Und was Fia schön und artig geworden ist! Meine Frau hat sie heute vom Fenster aus gesehen und mich auch herbeigerufen. Ich bitte um Verzeihung, wollten Sie etwas sagen?
Nein, nein.
Heute morgen hab ich einen weiten Spaziergang gemacht, den Weg, den der Herr Konsul nach seinem Landhause fährt. Sie wissen ja, die Straße führt plötzlich in den Wald, es ist, als ob die Welt ein Ende hätte, drinnen im Wald fängt eine ganz andere Welt an, sie ist freundlich gesinnt und merkwürdig ganz in Stille getaucht, und doch voll feiner Laute. Ich ging vom Weg ab, um niemand zu begegnen, und wanderte in den Wald hinein. Tief drinnen saß ein Mann. Er hatte mich gesehen, ich konnte also nicht mehr umkehren, er saß da und spielte Mundharmonika. Ein sonderbarer Mann, ein Arbeiter, ein Landstreicher. Ich redete lange mit ihm. Er war nicht besonders aufgeweckt, sein Gespräch drehte sich um Geld und Essen, und der arme Kerl saß da und spielte Mundharmonika. Warum sitzest du hier? fragte ich. – Darf ich das nicht? erwiderte er. – Doch. – Was geht es dich dann an? fragte er. – Nichts. Aber spiel doch weiter! – Was krieg ich dafür? fragte er. – Ein paar Groschen. Ich bin Postmeister hier in der Stadt, und es geht mir das Jahr über viel Geld durch die Hand, aber das gehört nicht mir. – Na, Sie werden schon den einen und den andern Geldbrief für sich behalten, sagte er. – Wie könnte ich denn das? Da würde ich sofort gefaßt. – Nein, meinte er, die feinen Leute halten ja alle zusammen. Nur wir auf der Walze werden gefaßt. Das war ein dummes Gerede, und ich erklärte ihm, daß ich meinen festen Gehalt hätte, und wenn der reiche, so hätte ich im Grunde, was ich bedürfe. Aber das begriff er nicht, ihm reiche es nie, verdiene er Geld zu Schuhen, so habe er keines für Hosen und umgekehrt. Bei den Bauern sei eine ewige Plackerei, sagte er. Wenn er irgendwo um etwas zu essen bitte, so müsse er zuerst dafür arbeiten, und zwar schwer arbeiten. Holz hacken, die schwerste Arbeit im Sommer. Abends bekomme er dann Milch und Grütze, ohne Butterbrot, und die Milchschüssel ohne Rahm darauf, den sie doch im Überfluß hätten, die Erdwühler. Ein unzufriedener Mensch also, einer von den faulen und finsteren Gesellen. Wenn wir davon ausgehen, daß wir Menschen unter einem Gesetz der Entwicklung stehen, so war dieser Mann noch nicht weit gelangt; vielleicht ist er schon unzählige Male auf der Erde gewesen, hat aber kaum den winzigsten Fortschritt gemacht. So kehrt er also immer wieder so gut wie unverändert ins Dunkel zurück, und dann tritt er wieder ins Leben und fängt von neuem an.
Glauben Sie, daß es so zugeht? fragte der Konsul lächelnd.
Was soll man glauben? Wir können doch nicht gut einen ungerechten Urheber annehmen, das stößt auf zu viele Schwierigkeiten, wir müssen einen gerechten annehmen. Und wir können nicht annehmen, daß ein gerechter Urheber diesen Landstreicher von Anbeginn der Zeiten an zum Elend verdammt hat. Ursprünglich stehen wir alle auf demselben Punkt und haben dieselben Möglichkeiten; die einen gebrauchen sie, die andern mißbrauchen sie. Was wir in diesem Erdenleben an uns arbeiten, das kommt uns im nächsten zugute, und arbeiten wir uns hinunter, so werden wir zurückversetzt. Das ist wohl der Grund, warum wir leider in historischer Zeit keine Veränderung an den Menschen wahrnehmen. Wir haben uns die Möglichkeiten selbst verdorben.
Sie glauben also, wir sterben und kommen noch viele Male wieder auf die Erde?
Was soll man glauben? Es wird uns immer wieder eine Möglichkeit geboten. Zeit hat wohl der Urheber vor sich, er hat die Ewigkeit in sich, und da wir selbst ein Teil des Urhebers sind, so vergehen wir niemals. Aber wir kommen nicht jedesmal in demselben Zustand auf die Welt, wir haben es selbst in der Hand, unser Los für das nächste Mal zu verbessern.
So daß jeder Mensch seinen Rahm auf der Milch bekommt?
Der Postmeister lächelt. Solche Dinge haben nur in seinem jetzigen Zustand Bedeutung für ihn. Ich meine, seine Geistesverfassung, seinen Seelenzustand. Und jetzt kommen wir an etwas Bedeutungsvolles: Dieser Mensch saß also da im Walde und spielte Mundharmonika. Vielleicht hat er in seinen vorigen Verkörperungen doch auch an sich gearbeitet. Er spielte mir Lieder und Weisen vor, spielte großartig, ich habe noch nie etwas Ähnliches gehört. Ich rede nicht von der Fertigkeit, ich meine die Tatsache, daß er überhaupt im Walde saß und spielte. Und nun hören Sie einmal: Er erzählte von einer Art Äolsharfe, die er bei einem Juden gesehen hatte, eine Äolsharfe, mit Saiten von verschiedener Dicke und aus verschiedenem Metall, Kupfer, Messing und Silber, und es hingen kleine Kugeln herunter, die vom Wind gegen die Saiten geblasen wurden und diesen einen leichten Schlag versetzten. Dann spielte die Äolsharfe. Es war merkwürdig, dem Manne zuzuhören, als er dies sagte. Nein, er war während seiner verschiedenen Erdenleben nicht stehen geblieben, er hatte in sich einen kleinen Gartenfleck gepflegt, mit einer einzigen Blume darauf. Nun kommt es darauf an, ob er sich diesmal so führt, daß sein Fleckchen Garten in seinem nächsten Dasein größer wird.
Diese ganze Theorie hängt von der Frage ab, ob es überhaupt einen persönlichen Urheber gibt.
Sagen Sie, wo wollen Sie überhaupt anfangen? Gibt es nicht auch einen Urheber des Urhebers? Wir wollen hier stehen bleiben und einen persönlichen Urheber annehmen. Es ist noch unmöglicher, sich ohne einen solchen zu behelfen. Diese Frage entzieht sich ja unserer Fassungskraft, aber wir haben das Bedürfnis nach einer Macht, einer Notwendigkeit, die hinter allem steht, wir wissen zwar nichts Gewisses davon, aber sie ist für uns da, kraft unseres Bedürfnisses, und dieses Bedürfnis ist selbst ein Teil des Urhebers, dem wir angehören. Es ist uns von Anfang an eingepflanzt, wäre es nicht für etwas da, so hätten wir es nicht. Kommen Ihnen diese Schlußfolgerungen ungereimt vor?
Ich weiß nicht, darauf verstehe ich mich nicht.
Ich weiß auch nichts, niemand weiß etwas. Aber wir haben ein Licht, das nie erlischt. Sonst wäre alles Finsternis.
Was ist das für ein Licht?
Das sind die Menschengedanken. Sie fehlen und gehen irre, aber wir sind gewiß, daß sie da sind. Und sie gehören mit zu unserer Ausrüstung, sind uns von der Gottheit gegeben.
Schweigen. Beide Herren sitzen nachdenklich da.
Der Konsul fragt: Die Gottheit? Welche denn? Wenn unsere Menschengedanken zu etwas taugten, so könnten sie doch endlich die wahre Gottheit finden.
Die ist gefunden: durch und in unserem Bedürfnis nach ihr.
Aber die Menschen wechseln ja mit ihrer Gottheit und nehmen wieder eine andere. Die Griechen haben gewechselt, die Ägypter haben gewechselt, wir Nordländer haben gewechselt. Jetzt schreiben wir die alten Götternamen an unsere Fischerboote.
Ich bitte um Entschuldigung, sagt der Postmeister. Sie reden von Göttern, ich von der Gottheit. Sie reden von Theologie.
Neues Schweigen.
Im Grunde war dies ja eine langweilige Unterhaltung, und der Konsul wäre wohl seines Weges gegangen; aber er wußte im Augenblick nicht, wo er hingehen sollte, und nach Hause mochte er am allerwenigsten. Und dann war es ja eine wunderbare Sache mit dem Postmeister, der alle Tage seines Lebens Jahr um Jahr gleich zufrieden war. Wer außer ihm war denn zufrieden? Alte und Junge, Kleine und Große, alle waren in Angst und in der Hetze, alle trugen eine Last, ein mißglückter Akademiker und Kleinstadtpostmeister fast allein ausgenommen. War er ein dummer Mann, ein Einfaltspinsel? Vielleicht. Aber damit war man noch nicht mit ihm fertig, ach nein! Er war zum Beispiel durchaus nicht immer bescheiden und demütig, der Konsul hatte schon gehört, wie er sich mit Sicherheit verteidigt hatte. Er wollte gerne Frieden haben, aber bekam er den nicht, so nahm er sich ihn. Ach nein, er ließ nicht auf sich herumtrampeln! Das peinliche bei ihm waren seine philosophischen Grübeleien, mit denen er die andern endlos überschüttete, und für Leute, die sich darauf verstanden, waren sie ein Schrecken.
Warum hielt er denn seinen Mund nicht? Gewiß, weil er meinte, er habe tatsächlich etwas zu sagen. Aber er war nur eine einzelne Stimme in seiner Stadt. In seinem Hause war es sehr still, seine Frau sprach nicht viel von selbst, sie antwortete, wenn sie gefragt wurde, und besorgte ihren Haushalt; aber im Gehirn des Postmeisters dämmerten allerlei Grübeleien auf, er murmelte vor sich hin und sprach mit sich selbst; doch das genügte nicht immer, zuweilen mußte es ein unschuldiger Stadtbürger entgelten und seine Auseinandersetzung anhören, die sich so weit außerhalb der Holzpreise und Schiffsfrachten bewegten.
Wenn Konsul Johnsen nicht von etwas beunruhigt gewesen wäre, wenn er seinen gewohnten Tätigkeitsdrang gefühlt, wenn er Lust gehabt hätte, wo anders seine Ruhe und seinen Frieden zu finden, dann wäre er seines Weges gegangen, jawohl. Aber nun blieb er sitzen. Er tat, als habe er eigentlich gar keine Zeit dazu und tue es nur aus Höflichkeit gegen einen verbindlichen Herrn, er sah nach der Uhr, machte plötzlich seine Tasche auf und sah nach, ob vielleicht ein Brief vergessen sei. Dann warf er so hin: Ach die Menschengedanken! Sie suchen und suchen und finden nicht. Es ist wohl nicht viel damit los, Herr Postmeister, wie?
Sie sind das einzige, dessen wir sicher sind, jawohl. Das brennende Licht, das erst mit dem Erdenleben erlischt. Das hat für uns in Wirklichkeit viel zu bedeuten. Was dieses Licht wirkt, welche Finsternis es erhellt, ist eine andere Frage. Wenn wir uns in endlosen Kreisen des Irrtums herumdrehen, so ist dies vielleicht gerade die Bewegung, das Leben. Der glatte Lauf geradeaus wäre ohne Reibung und würde die Bewegung lähmen. Wenn es etwas nützte, so müßten wir vor den Menschengedanken niederknien, vor dem Licht, ja, wenn wir fromm wären, wenn wir Barmherzigkeit mit uns selbst hätten, so würden wir die Menschengedanken mit Ehrfurcht anerkennen. Aber wir sind zu gescheit, wir beugen das Haupt nicht. Wir lernen zu viel irdische Mechanik; Sie sagen wohl, wir suchen und suchen und finden nicht, aber darin bin ich nicht mit Ihnen einig, nein! Darin bin ich einig, daß wir nicht finden, aber daß wir suchen – nein! Und warum sollten wir suchen, wenn wir doch nicht finden? Ja, wenn das Suchen selbst Bewegung dem Ziele zu wäre! Aber wir suchen nicht viel, wenige unter uns suchen überhaupt, statt dessen gehen wir hin und lernen, wir üben unseren Verstand. Wie ist das ärmlich und unfruchtbar! Sehen Sie diese verständigen Menschen an, sie haben das ihrige gelernt, das können sie, das ist der Erfolg der Schule, des Studiums, es ist Gedächtnissache.
Der Konsul lächelt. Ich für meine Person bin gänzlich ungelehrt. Das heißt, ich habe anderes zu lernen gehabt und habe das nicht einmal ausgelernt, sagte er.
So? Sind wir nicht tüchtig genug, irdisch brauchbar genug? O ja. Darin stehen die Menschen nicht zurück. In derartigem haben wir in der historischen Zeit Gewinn erzielt und es zu einer gefährlichen Höhe gebracht. Aber wir haben versäumt, das Haupt zu beugen. Jetzt haben wir uns festgefahren, und die Rettung besteht nicht in noch mehr Wissen und äußerlichen Fertigkeiten, sondern im Nachdenken, in Verinnerlichung.
Aber wir können doch nicht alle Philosophen werden.
Ebensowenig wie wir alle einseitig-mechanisch Gelehrte werden sollen. Aber gerade danach streben alle. Es ist das hohe Ziel geworden. In den letzten Jahrhunderten hat nichts solche Achtung gewonnen, als die Pflege der Wissenschaft. Die obere Klasse hat die untere Klasse damit angesteckt, so daß es jedermanns Streben geworden ist, Anteil daran zu haben. Welche Bedeutung hat nicht die Lese- und Schreibmechanik in der Welt errungen! Es ist eine Schande, sich die nicht auch anzueignen, es ist ein Segen, sie ganz zu beherrschen. Kein großer Religionsstifter hat diese Künste getrieben, aber heutzutage sind sie für alt und jung unentbehrlich. Niemand will mehr das Haupt beugen und nachdenken, man schreibt und liest sich den Gedankeninhalt herbei, den man als heutiger Mensch braucht. Es ist feiner, zu lesen und zu schreiben, als etwas mit den Händen zu arbeiten, sagt die obere Klasse. Die untere Klasse horcht auf. Mein Sohn soll nicht die Erde bebauen, von der sich alles Geschmeiß der Welt nährt, mein Sohn soll von der Arbeit anderer leben, sagt die obere Klasse. Und die untere Klasse horcht auf. Dann erwacht eines Tages das Geschrei, das Geschrei der Masse, die nun auch genügend von den Künsten der oberen Klasse gelernt hat, sie kann schreiben und lesen: Nehmt hin die Güter der Welt, sie sind euer! Der Teufel hole die Arbeit an sich selbst für das nächste Dasein, diese Arbeit spart sich die obere Klasse auch.
Meinen Sie, es wäre besser, wenn nur wenige lesen und schreiben könnten?
Dieser Gedanke ist nicht neu. Aber am besten wäre es, wenn man die Hochachtung für alle diese Äußerlichkeiten ausrotten könnte, wenn alle Menschenklassen den Glauben und den Aberglauben an das mechanische Wissen verlören. Es wird behauptet, das Geschrei würde aufhören, wenn die Gelehrsamkeit noch größer und allgemeiner würde, und so werden noch mehr Künste getrieben und so wird noch größere Fertigkeit in diesen Künsten angestrebt. Und die Köpfe heben sich immer leerer in die Luft, und kein tiefes Nachdenken beugt sie. Nein, auf diesem Wege kommen wir nicht weiter, selbst nach dem irdischen Begriff führt er in die Irre. Ich habe zuweilen die Schulbücher meiner Kinder in die Hand genommen, als sie noch klein waren – ich muß gestehen, ich verstand nur einen Teil von diesen Künsten. Gebt ihnen nur noch mehr davon, spart ja nicht daran, nudelt sie ordentlich damit, bitte schön! Aber das Geschrei wird bleiben und wird nur noch lauter werden. Milch mit Rahm darauf! Noch mehr Milchsatten mit Rahm, viele, unser sollen sie sein! Das künftige Dasein? Wir lesen ja überall, das künftige Dasein sei nur ein Traum für fromme Weiber, uns gehe das nichts an. – Ach, wie wenig Barmherzigkeit haben die Leute mit sich selbst! sagt der Postmeister und schüttelt den Kopf. Sie haben wohl das kleine Gartenfleckchen mit Blumen, aber in ihrem nächsten irdischen Leben kommen sie vielleicht in ganz andere äußere Lebensumstände hinein, jedoch in gänzlich unveränderter Seelenverfassung.
Der Konsul versucht jetzt, noch gelangweilter auszusehen, und treibt das so weit, daß er seine Blicke über die Zeichnungen an den Wänden hingleiten läßt. Plötzlich wird er auf eine darunter aufmerksam, er steht auf, setzt den Nasenklemmer auf und betrachtet ein schönes Tor. Jawohl, denn Konsul Johnsen wünscht, daß die Leute auch Achtung für sein – des Konsuls – Urteil haben, und er kann sich nicht in einem Nu zu mehreren Erdenleben bekehren – obwohl dies eine verflucht süße und wohlschmeckende Lehre wäre. Wenn er wiederkommen und es so weitertreiben könnte, seine Feinde besiegen, die ihm in den Weg getreten waren, Gesellschaften geben, mit den jungen Mädchen allerlei Kurzweil treiben, Dampfschiffe dirigieren, Geld verdienen, noch mehrere Male Küstenmatador sein, er würde nichts Besseres verlangen. Dann erinnert er sich aber an den verdrießlichen Zusatz in des Postmeisters Darlegungen, daß man nämlich in ganz anderen irdischen Verhältnissen wiederkommen könne, und der Konsul wird wieder ein ratloser Mann, der nicht aus und ein weiß. Wenn er als Matrose, als Landstreicher wiederkäme; wenn er nichts wäre, er, der so viel gewesen war! Er setzt sich wieder auf seinen Stuhl und beeilt sich, sich wegen seiner Unaufmerksamkeit zu entschuldigen: Das ist ein prächtiges Portal, eine Paradiesespforte. Was ich sagen wollte: Wir suchen nicht, sagen Sie? Aber viele meinen doch, die Lösung gefunden zu haben. Einige finden es wahrscheinlich, daß nichts zurückbleibt, wenn der Mensch gestorben ist.
Der Postmeister, immer aufgelegt, immer fertig und bereit, sagt: Ausgenommen sein letzter Schrei, der Aufschrei vor dem Dunkel, das vor ihm steht. Wozu sind wir denn auf der Erde gewesen? Nur der ziellosen Bewegung halber. Wozu?
Der Konsul, der eine lange Unterweisung auch in dieser Lehre fürchtet, die ihm auch nicht zusagt, ruft eilig: Die Christen glauben an eine Seligkeit nach dem Tode!
Jawohl, erwidert der Postmeister, an und für sich ist die Seligkeit gar kein schlechter Gedanke, er ist schon vielen Erdbewohnern in der Nacht ein Trost gewesen. Aber auch diese Seligkeit bekommt man nicht, wenn man sie nicht verdient hat, nicht wahr? Es sollen ja doch nur wenige dazu gelangen, und was soll dann aus uns andern werden? Das Christentum befreit niemand von der Arbeit an sich selbst, im Gegenteil, es ist sehr streng in seinen Forderungen. Umsonst und ohne Verdienst geht niemand zur Seligkeit ein, heißt es. Das ist die Forderung des Gesetzes. Und das Evangelium ist auf seine Weise noch strenger: Man muß an die blutige Versöhnungspolitik der Vorsehung glauben, blind daran glauben, sinnlos daran glauben. Halleluja, denn uns ist heut ein göttlich Kind geboren! wird an Weihnachten gesungen. Nicht alle können singen, aber alle können an sich arbeiten nach ihren Gaben und Kräften. Dabei ist nichts Widersinniges.
Jetzt sagt der Konsul: Ich denke eben darüber nach, daß ich also Ihrer Meinung nach nichts Gutes damit getan habe, wenn ich einem Jungen dazu verhalf, sich Gelehrsamkeit zu erwerben.
Das kommt darauf an, erwidert der Postmeister. Der Junge war vielleicht für dieses Leben nicht besser ausgerüstet und konnte auf keine höhere Stufe gelangen. Das wissen wir nicht. Aber es ist ihm durch Ihren Eingriff nicht leichter gemacht worden, sein Haupt zu beugen. Das glauben Sie doch wohl selbst nicht? Es war ja gerade Ihre Absicht, dieses Kind der Menge zu befähigen, sein Haupt zu erheben. Jetzt sitzt er da auf seiner Bank und läßt sich unterrichten, bis er ausgelernt hat, dann steht er ethisch strahlend leer auf, tritt hinaus ins Leben und lehrt andere dieselbe Leerheit. Wer um alles in der Welt kann uns in dem unterweisen, um das es sich hier handelt? Wir selbst – niemand anders. Was uns andere lehren können, ist Mechanik ohne irgendeinen Wert für anderes als für die irdische Geschicklichkeit. Gerade das sieht man an der großen Menge: Sie hat nun ungefähr so viel von der Mechanik gelernt, wie die oberen Klassen in alten Tagen – jawohl, aber ihr Gemütsleben ist stille gestanden. Das Geschrei? Als ob das der Ausdruck für etwas anderes als für irdische Habgier wäre! Die große Menge tut nichts für das innere Wohl der andern, sie hat kein ethisches Gemeinschaftsgefühl in sich geschaffen. Sie schützt sozialen Instinkt vor und hat nicht einmal den. Sie will schreien und umstürzen, und wenn es zum Klappen kommt, sind ihre eigenen Führer sogar außer Stand, sie zu zügeln. Das Ganze stürzt ein, laßt es einstürzen!
Konsul Johnsen nickt. Er ist jetzt besser bei der Sache, nun handelt es sich nicht mehr um Ethik und höheren Quatsch, die letzten Worte sind Politik der Rechten, Geschäft, der Postmeister ist nicht so dumm! Um sich zu entschuldigen, sagt der Konsul: Der Junge wurde mir vom Schulvorsteher und anderen außerordentlich warm empfohlen.
Jawohl, sagt der Postmeister, nehmen Sie nur den Jungen, schicken Sie ihn von einer höheren Schule in die andere und machen Sie ihn in äußeren Fertigkeiten vollkommen. Er wird wiederkommen und seine Gegend erfreuen und den Leuten noch tiefere geistige Abmagerung einüben. Dagegen wird er das Geschrei bei ihnen nicht dämpfen, o keine Spur, und er wird sie noch weiter von aller Innerlichkeit wegbringen. Aber vielleicht war es nun gerade das und nichts anderes, zu dem er taugte, das weiß niemand. Er hat vielleicht in einer Reihe früherer Erdenleben sich so geführt, daß er in seinem jetzigen nicht höher steigen kann. Da muß denn der Urheber auf ihn und das Seine warten, bis eine Änderung eintritt, der geduldige Urheber, der genug Zeit, genug Ewigkeit vor sich hat.
Der Postmeister haut also wieder über die Stränge, und der Konsul will Schluß machen. Warum war der Mann überhaupt hergekommen? Einer zufälligen Sorge wegen, nicht fürs nächste Leben, sondern für dieses. Etwas mehr Politik würde ihn gefesselt haben; er war eine große Stütze der Gesellschaft, die der Neid umstürzen wollte, die die Emporkömmlinge nachäfften, dem die Matrosen auf der Fia nun wieder Ärger und Arbeit verursacht hatten – welche Hilfsmittel sollte er nun dagegen anwenden? An sich selbst arbeiten? Der Postmeister war ein Narr!
Ja ja, sagt der Konsul, indem er aufsteht, das ist alles für uns sehr verborgen, sowohl für dieses als fürs nächste Leben, besonders als nächste. Wüßten wir etwas Sicheres über das Jenseits, dann würden wir uns jetzt schon danach richten.
Es ist verzeihlich, erwidert der Postmeister lächelnd, wenn wir etwas irdische Neugier in uns tragen. Aber was vorderhand unser voriges Dasein betrifft, so hat wohl die Weltregierung ihren Grund dafür, wenn sie es uns verborgen hält. Dieses Dasein wäre vielleicht durch Missetaten so finster, daß die Erinnerung daran uns überwältigen und erdrücken würde. Das ist leicht möglich. In der ungewissen Hoffnung, daß wir uns doch nicht zum Allerschlimmsten aufgeführt haben, liegt dann eine Aufmunterung für uns.
Aber war es in diesem Falle notwendig, uns ganz von Anfang an so gebrechlich auszurüsten? fragt der Konsul.
Wenn wir davon ausgehen, daß das Leben in dem einen besteht: in Bewegung um eines Zieles willen, dann ist es unlogisch, anzunehmen, wir hätten von Anfang an der Hoffnung ermangelt, seien demnach ohne sie ausgerüstet gewesen. Aber das sind wir nun also nicht. Immerhin – wie Sie sagen – gebrechlich ausgerüstet können wir gut sein, um sozusagen einen langen Lauf klein anzufangen. Aber daß wir so voller Gebrechlichkeit dastehen, wie die Leute es tatsächlich sind, das werden wir wohl uns selbst zu verdanken haben: weil wir unsere Aussichten mißachtet haben – –
Ja ja ja ja! unterbricht ihn der Konsul. Was ich meine, ist, daß es nur zur Besserung in diesem Leben reizen würde, wenn wir gewiß wüßten, was wir im nächsten zu erwarten haben.
Wenn es uns dann nur nicht am Ende noch schlechter macht, Herr Konsul, und es ist so schon schlimm genug. Meinen Sie, die Menschen würden sich einen Vorrat an Gutem erarbeiten, wenn sie die Gewißheit hätten, daß es nicht streng gefordert wird, und vor allem, daß es keine Eile hat? Der Mensch würde lieber darauf los leben, lieber auf Kredit sündigen, bis zum letzten Heller sündigen und sich um viele Lebensstufen zurückversetzen. Es würde noch schwerer sein, sich emporzuarbeiten, als es jetzt ist, noch leichter, sich hinunter sinken zu lassen. Im nächsten Dasein könnte er dann ganz vom Grund aus wieder neu anfangen. Alles wäre verloren, da wäre kein Garten, keine Blume, aber die Bewegung wäre noch da ...
Als Konsul Johnsen danach in sein Kontor zurückkehrte, ging ihm alles wie ein Mühlrad im Kopfe herum; er mußte sich erst wieder fassen. Theologie! sagte der Postmeister mit einem spöttischen Lächeln, aber seine Reden waren doch wahrhaftig richtige Theologie! Der Konsul ärgerte sich über den ganzen Besuch, er war kein Nikodemus, der bei Nacht zu dem Meister kam, er war ausgegangen, um sich etwas zu zerstreuen, nicht um bekehrt zu werden. Das einzige Reelle, mit dem er zurückkam, war die Nachricht, daß der Doktor nach Havre an Scheldrup geschrieben hatte. Worüber? Klatsch und Bosheit vielleicht, Intrigen, ein Fünfkronenbesuch bei einer Wöchnerin auf der Werft – zum Kuckuck mit dem Doktor!
Der Konsul vergaß nicht, seinem Ersten Ladendiener Berntsen Auftrag zu geben, dem Apotheker fünfzig Flaschen Madeira zu schicken. Und ganz plötzlich mußte er wieder an den Postmeister denken. Gott bewahre mich, was muß dieses Mannes Frau an Geschwätz ertragen! Wie, wenn er auch Postmeisters fünfzig Flaschen Madeira als Geschenk zuschickte? Aber sie würden wohl mit dem Boten gleich wieder zurückgebracht werden.
Kein Zweifel, der Wein würde mit dem Boten sofort wieder zurückgeschickt werden – der Konsul mußte über die fabelhaft genügsamen Menschen lächeln. An sich selbst arbeiten, wieso? Sah man jemals, daß man von der Vorsehung einen Dank dafür gehabt hätte? Wir haben einen Schmied Carlsen hier am Ort, einen gottesfürchtigen Mann, der strebt dem Guten nach und ist stille, tut niemand etwas Böses, schwatzt niemand halb zu Tode über die vielen Erdenleben – er wird vom Unglück verfolgt, von häuslichen Sorgen, hat mißratene Kinder, einer der Jungen soll ein Landstreicher sein. Ist das Gerechtigkeit? Der Schmied Carlsen hat einen Bruder, den Polizei-Carlsen, einen alten Gauner, einen Fuchs mit einer reichen Frau, die ein Klavier besitzt, mit einem Sohn im Kirchendepartement, mit einer Tochter in der Schreudermission – alles miteinander vielleicht, weil der Polizei-Carlsen nicht an sich selbst gearbeitet hat?
Laßt uns für uns selbst arbeiten!