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Nein, Oliver ist nicht der Mann, der gleich läuft, wenn ein Doktor ruft, er ist eine wichtigere Persönlichkeit. Seine Stellung als Lagerhausaufseher versetzt ihn in die Klasse der besseren Leute, stellt ihn auf die gleiche Stufe mit den Ladenangestellten von Johnsens am Landungsplatz, ja, mit dem Ersten Ladendiener Berntsen. Und Oliver ist sogar noch eine Spur vornehmer, er läuft nicht für die Kunden auf den Bodenraum und in den Keller, sondern er ist ortfest, und das ist gerade eine passende Stellung für einen Mann wie Oliver.
Er hat sein richtiges Fach gefunden, o, es ist ausgezeichnet, so ein Lagerhaus zu verwalten, beim Kommen und Gehen der Leute gegrüßt zu werden, Kost und Kleidung zu verdienen, Zeit zu haben, sich im Spiegel zu beschauen und hübsch auszusehen. Daneben kann er seine persönlichen Liebhabereien pflegen, Sonntags fährt er regelmäßig in die Schären hinaus, er schaut sich um und träumt und sehnt sich, Gott mag wissen, wonach, vielleicht nach einem besseren Leben, einem neuen Jerusalem, und er kehrt von diesen Ausflügen mit dem und jenem heim, was er gefunden hat: mit einem Treibholzbalken, einigen unerlaubten Möweneiern oder dem kostbarsten und unerlaubtesten von allem, einer Hand voll Eiderdaunen. Nie ist er dabei ergriffen worden, niemand kleidet einen Krüppel bis auf die Haut aus, um eine Tüte Eiderdaunen auf seinem bloßen Körper zu suchen. Und Oliver hat nun im Laufe der Jahre wahrlich viel Eiderdaunen gesammelt, die Frage ist nur, wie er sie absetzen soll. Aber selbst wenn er sie nie in Geld umsetzen kann, will er doch weiter sammeln, diese Art Ware kann er nicht sehen, ohne sie besitzen zu wollen.
Daheim geht es auch besser, die Jahre müssen seine Frau zahmer gemacht haben, sie hat mehr Geschmack am häuslichen Leben und Kaffeetrinken bekommen, und den Kaffee können sie ja verhältnismäßig billig haben; jetzt braucht Oliver nicht mehr so oft mit dem Fischmesser im Ärmel hinter ihr herzuschleichen. Sie war zwar noch oft unverträglich, jawohl, das war sie, sie schnaubte noch oft höhnisch mit den leichtbeweglichen Nasenflügeln und witterte gleichsam in der Luft. Petra hatte es nie gut genug und hatte auch nie genug, sie war ein unglückliches Geschöpf, ungenügsam von Geburt an, habgierig von Geburt, zum Unterschied von Oliver, der sich an dem weniger Guten genügen ließ, ja, sich sogar an ihr genügen ließ. Darüber konnte kein Zweifel herrschen, Petra war in ihrer Art ein Teufelsweib. O, aber solange sie nicht ausschweifend war – und sie war ja nie ausschweifend, sie übertrieb es nicht, die Unbeteiligten mochten sie anstarren, sie hatte nur einmal ein blauäugiges Kind bekommen. Alles in allem konnte Oliver zufrieden sein, sie war jeden Tag für ihn da, er wärmte sich bei ihr, aß seine Mahlzeiten an ihrer Seite und lag in ihrem Bett, ihr Atem ging im Schlaf über ihn hin. Seht, das war gar nicht so wenig! Und jedenfalls war sie seine Frau und nicht die eines andern, so weit man es wußte.
Ist sie nicht hübsch? Gewiß, gut gebaut, von anziehendem Wesen, von üppiger Fülle, mit etwas Schwelgerischem – sonst hätte er sie gar nicht genommen, wohlgemerkt! Aber sie ist nicht gegen alle Winde gefeit; wäre nur der Schreiner Mattis fort und aus dem Wege, dann hätte Oliver ruhig sein können! Gegen alle Winde, sie? Petra, die sogar dem Scheldrup Johnsen eine Ohrfeige geben konnte! Als ob sie jeden einladen und sagen würde: Komm, wir wollen ein wenig üppig sein und lasterhaft und ausschweifend! Nein, nein, keine Spur! Sie war eher wie ein Altarbild; ach du lieber Gott, am Sonntag trug sie ein goldenes Kreuz, das sie sich erhandelt hatte, an einem Samtband um den Hals. Und niemand wäre etwas so Unsinniges eingefallen, wie, daß sie leichten Kaufes zu haben wäre. O keine Spur!
Petra war in ihrer Art die richtige Frau für ihn, Oliver, sehr oft wünschte er sich gar keine andere. Das blauäugige Kind? Allerdings, dieses Mädchen war ihm ein Strich durch die Rechnung, und mehrere Monate lang hielt es seinen Verdacht in heller Lohe; aber weichlich und weibisch, wie er geworden war, konnte er dem Kinde nicht auf die Dauer widerstehen, das tägliche Leben führte das Mädchen zu oft in seine nächste Nähe; wenn niemand anders anwesend war, mußte er es wiegen. Und dann wurde sein Verdacht sozusagen geprellt: er hatte eine Pferdenase in dem kleinen Gesichtchen erwartet, aber das Kind wuchs heran und bekam eine außergewöhnlich hübsche Nase. Das mochte der Kuckuck verstehen! In jener Zeit besprach Oliver die Sache mit dem und jenem: daß er plötzlich der Vater eines blauäugigen Kindes geworden sei, während die andern Kinder braune Augen hätten, wie denn das zu verstehen sei? Er bekam ausweichende Antworten, der Fischer Jörgen verwunderte sich überhaupt nicht darüber, o man könne sonderbarere Sachen sehen, und im übrigen sei in der Natur vieles verborgen.
Oliver ist also den Umständen angemessen ein ganz glücklicher Vater. Aus solchen Kindern wurde gewiß etwas. Es gab nicht viele, die es besser hatten, und wenn er alt und von der Arbeit im Lagerhaus abgearbeitet war, würden seine Kinder erwachsen sein und ihm helfen. Von Abel erwartete er vielleicht nicht sehr viel, aber von Frank – o, Frank ging in die höheren Schulen und wurde gelehrt, und mit der Zeit würde er eine hohe Stelle bekommen. Er war jetzt schon Student und studierte immer weiter.
Und schließlich noch eins: es war gar nicht so ohne, daß Johnsen am Landungsplatz Doppelkonsul war, Oliver rechnete sich das zur Ehre. Es hieß, Grütze-Olsen wolle jetzt auch einen Lagerhausaufseher halten, nur um groß zu tun, und Martin auf dem Hügel, der alte Fischer, lauere auf die Stellung. O, bitte, nimm sie nur, auch Grütze-Olsen ist Konsul und ein reicher Mann, vielleicht hat man es bei ihm auch gut. Aber ist er zweimal Konsul? Hehe! Martin auf dem Hügel, du erreichst gerade die Hälfte, aber bitte!
So vergehen die Tage, und so vergehen die Jahre, und Oliver lebt so gut er kann und wandert auf seinem Wege dahin, wie wenn er gar nicht ein Krüppel mit nur einem Bein wäre. Nun hat er achtzehn Jahre lang den Menschen gespielt so gut er konnte, so gut wie irgendeiner, ja besser als irgendeiner.
An einem Samstagabend bürstet Oliver seinen Rock und seine Schuhe und macht sich zum Heimgehen bereit. In der letzten Zeit zeigt er eine wahrhaft rätselhafte Vorsicht. Warum er das nur tut? Er guckt auf die Straße hinaus, und da er den Doktor erblickt, zieht er sich zurück und wartet. Warum meidet er den Doktor, während alle andern es für eine Ehre ansehen, wenn sie auf der Straße von ihm angehalten werden?
Der Doktor geht mit dem Postmeister, dem er sonst immer eilig ausweicht, hin und her, sie gehen bis zu Davidsens Kramladen und wieder zurück, mehrere Male, Oliver ist eingesperrt. Lauert der Doktor dem Krüppel geradezu auf? Denn er kann ihn doch wohl nicht persönlich in einem Lagerhaus aufsuchen. Oliver hört Bruchstücke von des Postmeisters Worten, versteht aber keine Silbe; der Doktor versteht wohl alles, aber er scheint nicht aufmerksam zuzuhören, nein, er scheint viel eher den Postmeister als Vorwand zu gebrauchen, um hier lauern zu können. Das ist nicht fein.
Oliver ist also das Merkwürdige begegnet, daß der Doktor zweimal nach ihm geschickt hat, und er versteht vielleicht nicht, was es bedeuten soll. Oder wie? Oliver ist so neugierig und verschlagen wie ein Frauenzimmer geworden, und erfragt sich, ob diese Aufforderung wohl irgendwie in Verbindung mit Konsul Johnsen stehen könne? Er hatte versucht, in aller Untertänigkeit ein Wort darüber beim Konsul fallen zu lassen: er sei ein geringer, ungelehrter Mann, der Doktor habe ihn aufgefordert, zu ihm zu kommen, was das denn zu bedeuten habe?
Der Konsul weist es sofort mit verwundertem Lachen zurück und sagt: Was weiß ich davon? Aber plötzlich wird er nachdenklich und fragt: Hat er dich auffordern lassen?
Ja, zweimal.
So. Was will er von dir?
Kümmere dich nur nicht darum!
Danach hat Oliver gehandelt und sich bis jetzt nicht darum gekümmert.
Aber nun geht der Doktor da draußen auf und ab und scheint ihm aufzulauern.
Der Doktor unterhält sich gewiß nicht gut, er wirft nur ab und zu ein Wort ein, hauptsächlich wenn ihnen jemand begegnet, wo er sich wichtig machen will, da richtet er eine ordentliche Frage an den Postmeister. Wenn Oliver etwas davon verstanden hätte, wäre folgendes Gespräch gewiß nützlich für ihn gewesen.
Ja, es war wegen der Nachkommenschaft. Sie haben nicht darauf geantwortet.
Ich bin wohl nicht ganz verständlich gewesen, sagt der Postmeister. Ist es nicht so, daß sich die Eltern, wenn ihre Kinder groß geworden sind, weiter nicht mehr besonders um sie kümmern, sondern wieder mehr um deren Kinder, die Enkel? Dies würde auf einen in den Menschen niedergelegten Keim deuten, auf die endlose Fortsetzung.
Andererseits, ist es nicht ein wenig sorglos von diesem in den Menschen niedergelegten Keim, unaufhörlich Kinder gebären zu lassen, zu Hunger und Kälte und schlechter Erziehung, zum ärmlichsten Dasein, zu Schande und Untergang? Wenn sie wenigstens alle in guten Heimstätten geboren würden!
Ich weiß nicht, ob die Frage so gestellt werden kann, erwidert der Postmeister. Es kann ja sein, daß man zu dem Schicksal geboren wird, das man sich in früheren Erdenleben verdient hat. Es gibt etwas, was auch darauf hinweist: manche Kinder werden in den besten Häusern erzogen und mißraten, andere Kinder kommen in verkommenen Heimstätten zur Welt und werden prächtige Menschen, sie erziehen sich selbst. Auch hier in der Stadt ist wohl kein Mangel an solchen Beispielen. Das Leben ist eine Vermengung, ein einziger Wirrwarr von solchen Fällen, unsere Logik reicht nicht hin, sie zu erklären.
Doch, lassen wir die Logik walten, sonst wird ja alles leeres Geschwätz, entschuldigen Sie! Jetzt eben haben Sie gesagt, daß Kinder aus den besten Familien mißraten können. Ganz richtig. Und zugleich sollen sie sich in früheren Erdenleben ihr Schicksal verdient haben. Dann hätten sie sich doch hinaufgedient und verdient, in besseren Familien geboren zu werden. So meinen Sie es doch wohl?
Warum nicht? Es ist ja nicht gesagt, daß eine gute Familie und zeitliches Wohlergehen das beste, daß ein Leben ohne Qualen das beste sei. Sehen wir nach der andern Seite; manche können durch Leiden geradezu aufrecht erhalten und ernährt werden, sie können ihr Glück im Leiden finden.
Der Doktor konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, es war schwer, hier auf und ab zu gehen und höflich zu sein, seinem eigenen Besten gerade entgegen. Er sah auf seine Uhr, drehte sich jäh wieder nach Davidsens Haus um und machte ein paar rasende Schritte; aber der Postmeister ging mit. Als sie wieder zurückkamen, hatte das Gespräch eine andere Wendung genommen, der Postmeister hält jetzt eine soziale Rede.
Natürlich ist es der arbeitende Mittelstand, der das Leben am Aussterben verhindert, ich begreife nicht, wie da jemand widersprechen kann. Es ist nicht nur die Masse, obgleich sie es ist, die sagt: wir Arbeiter! O, die Masse, sie hat die Kunstgriffe gelernt, sie kann ihr Radaublatt lesen und hat den Gedankeninhalt bekommen, den sie braucht. Wir Arbeiter! Ist damit der Bauer, der Fischer gemeint? Nicht wahr, damit ist niemand anders gemeint, als der Industriearbeiter? Er ist der, der so laut schreit. Erinnern Sie sich, Herr Doktor, daß Sie und ich eine Zeit erlebt haben, in der es keine Industriearbeiter bei uns gegeben hat, jedes Haus aber seine Industrie hatte? Das Leben war damals nicht so ausgefüllt, daß wir nicht noch Zeit hatten, den Sonntag zu feiern; es gab nicht mehr zu essen, es gab nicht mehr Sorgen, die Lebensweise war einfacher, die Zufriedenheit größer. Dann bekam die Mechanik die Herrschaft, die Massenproduktion nahm ihren Anfang, der Industriearbeiter erstand – zu wessen Vorteil und Freude? Zur Freude des Fabrikanten, des Arbeitsherrn und keines anderen. Er wollte mehr Geld verdienen, er und sein Haus wollten größeren irdischen Luxus genießender glaubte nicht, daß er sterben müsse –
Nein, hören Sie, sagt der Doktor lächelnd, setzte er nicht viele Leute in Tätigkeit, schaffte er nicht Brot für hungernde Magen?
Brot? Sie meinen Geld zu Brot. Er verschaffte ihnen Fabrikarbeit– aber der Boden des Landes liegt unbebaut da. Ja, das tat er. Er lockte die Jugend von ihrem natürlichen Platz im Leben weg und nützte ihre Kräfte zu seinem eigenen Vorteil aus. Das tat er. Er stiftete einen vierten Stand in eine Welt hinein, die schon vorher zu viele Stände hatte, eine ganze Klasse Industrieleute, die unnötigsten Arbeiter des Lebens. Und dann sieht man, was für ein menschliches Zerrbild so ein Industriearbeiter wird, wenn er die Kunstgriffe der oberen Klasse gelernt hat: er verläßt das Boot, verläßt den Acker, verläßt Heimat, Eltern, Geschwister, verläßt das Vieh, die Bäume, die Blumen, das Meer, den hohen Gotteshimmel – dafür bekommt er Tivoli, Vereinshaus, Kneipen, Brot und Zirkus. Dieser guten Dinge wegen wählt er das Proletarierleben. Und dann brüllt er: Wir Arbeiter!
Also keinerlei Industrie?
Wie? Gab es denn vorher keine Industrie?
Aber also keinerlei Fabrikbetrieb?
Was soll man darauf sagen? Wir können uns einige wenige Ausnahmen denken.
Also doch!
Zum Beispiel die Fabrikation von Fensterglas.
Hahaha!
In heißen Gegenden ist diese Ware unnötig, aber in unserem Klima brauchen wir sie. Das habe ich gemeint.
O, dafür brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen, daß wir Menschen unter anderem auch Fensterglas brauchen.
Der Postmeister war bisweilen recht hilflos, sehr wenig gewandt, er kam dadurch öfters in die Klemme. Bei einer Gelegenheit gebrauchte er die Redensart: Die Letzten werden die Ersten sein! Ein junger Rechtsbeflissener, der beim Hardesvogt angestellt war, kam gerade vorüber, und da fragte der Doktor eben boshaft, ja, wie wenn es ihm ein Rätsel wäre: Aber was in aller Welt sollen dann die Ersten werden? Der Postmeister antwortete wieder ganz treuherzig: Die Ersten werden die Letzten sein.
Hahaha! lachte der Doktor wieder. Ei, zum Henker! Aber sagen Sie mir, Herr Postmeister, wie können Sie nur immer bei allem so glücklich sein?
Der Postmeister versteht jetzt wohl, daß er zum besten gehalten wird, und erwidert: Ich bin es nicht immer und nicht bei allem. Dann schwieg er.
Es muß Angewohnheit sein, sagt der Doktor. Sie können das Glück nicht entbehren. Wir andern aber von dieser Welt, wir müssen ohne es leben. Natürlich ist es eine Angewohnheit.
Der Postmeister war schweigsam. Der Doktor mußte seine Zuflucht wieder zu der Frage über die Nachkommenschaft nehmen, um ihn zum Sprechen zu bringen. Und hier wollte der Postmeister nicht auf sich herumtreten lassen, er machte unerwartet Halt. Waren nicht Sie es, Herr Doktor, der damals die Liebe nannte? Was verstehen Sie darunter? Sie hätten Triebleben, tierische Funktion sagen sollen, sie hätten Liederlichkeit sagen sollen, o, aber auch diese so klug, so vorbeugend, so kinderlos wie nur möglich.
Ei du große Zeit! rief der Doktor verwundert aus. Dann wurde er wieder der überlegene Mann und zeigte keine Lust zum Disputieren. Er sah auf seine Uhr. Plötzlich war der Postmeister nicht mehr für ihn da, er rief nur ins Lagerhaus hinein: Komm heraus, Oliver, ich will mit dir reden!
Als ob Oliver gleich käme, wenn ein Doktor rief! Er blieb in seinem Versteck im Lagerhaus sitzen, bis der Doktor fort war, dann schloß er ab und ging.
Aber er sollte diesem Zusammentreffen doch nicht entgehen; der Doktor paßte ihn in der ersten Querstraße ab, griff sogar mit einem Finger nach seinem Hut und sagte in ganz verändertem Tone: Guten Abend, Oliver, gut, daß ich dich treffe, kannst du mit mir in mein Sprechzimmer kommen?
Oliver ging mit; ob er nur seiner Neugier nachgab, oder ob er sich die Sache vom Hals schaffen wollte?
Hast du etwas dagegen, wenn ich deine Hüfte untersuche? fragt der Doktor.
Wie –?
Es ist der Wissenschaft wegen. Du bist ein gutes Objekt. Zieh dich aus!
Oliver zögert.
Es wird bald geschehen sein, fünf Minuten genügen, ja, zwei Minuten. Ich will mir nur deine Hüfte ansehen. Tut sie dir nie weh?
Nein.
Nun laß mich einmal sehen!
Nein, Oliver wollte nicht. Es sei Samstagabend, er müsse jetzt nach Hause.
Was ist das für ein Geschwätz, zwei Minuten!
Oliver weigerte sich, o nein, so weit war er gegangen, weiter ging er nicht. Der Doktor stand allerdings in hohem Ansehen in der Stadt, aber die Geschichte mit dem schwedischen Matrosen hatte es nicht gerade erhöht, im Gegenteil. Immerhin würde ihm wohl Oliver nachgegeben und sich ausgekleidet haben; aber er schien sich davor zu fürchten, er mußte einen besondern Grund haben, es nicht zu tun. Was hatte er nur? Sein Gesicht trug jetzt den bösen, verschlagenen Ausdruck, er sah den Doktor langsam an und sagte: Nein, das tu ich nicht.
Du bist ein Dummkopf, sagt der Doktor. Du hast auch keinen Bartwuchs mehr, woher kommt denn das? Und du wirst fett und glatt wie ein Frauenzimmer.
Mir fehlt nichts, sagt Oliver.
Gerade das wollte ich ja untersuchen. Du solltest nicht dabei verlieren, ich wollte etwas ins reine bringen, den Unterleib, es ist in einer einzigen Minute geschehen.
Nein, ich tu es nicht.
Der Doktor gab es noch nicht auf: Wie bist du denn damals zu Schaden gekommen?
Eine Trantonne kam auf mich zugestürzt.
Das versteh ich nicht.
Sie zerschmetterte mir das Bein, das dann abgenommen werden mußte.
Laß mich sehen, wie hoch es abgenommen ist!
Oliver deutete mit der Hand.
Ich meine, du sollst die Hose ausziehen.
Nein, erwidert Oliver zum drittenmal, ich tu es nicht.
Der Doktor sagte – und er legte einen tiefen, wertvollen Sinn in seine Worte: Wie du willst. Ich dachte übrigens nur daran, dir zu helfen.
Oliver wandert heimwärts; es ist spät geworden, und er hört die Tanzmusik vom Tanzsaal her, es ist ja Samstagabend. Da fällt ihm ein, er sei am Ende nicht gut genug angezogen, um an den Burschen und Mädchen in ihren Staatskleidern vorüberzugehen, und er macht deshalb einen Umweg. Welch ein Zufall – da steht ja Petra und spricht mit niemand anders als mit dem Schreiner Mattis. Die beiden sind sehr eifrig, der Schreiner sieht sogar höchst leidenschaftlich aus; und wieder spürt Oliver, wie ihm ein scharfer Stich durchs Herz fährt, er knirscht mit den Zähnen, während er näher tritt. Nun erblickt Mattis den herankommenden Oliver, da zieht er sich zurück und tritt in seine Werkstatt. Er tut auch klug daran, sich zurückzuziehen, zu verschwinden, denn in diesem Augenblick kommt Oliver zähneknirschend auf ihn zu. Und Petra tut auch klug daran, auf ihren Mann zu warten, hätte sie einen Augenblick daran gedacht, wie eine Hindin zu entfliehen, dann hätte dieser Mann, ihr Ehemann, sie mit einer Donnerstimme zurückgerufen.
Sie gehen nebeneinander. Oliver schweigt und knirscht mit den Zähnen.
Petra fühlt wohl, daß ein Gewitter im Anzug ist, sie ergreift die Offensive und murmelt: Hm! Ist das ein Zustand!
Ja, sagt auch Oliver, es ist ein Zustand. Und jetzt dreht er die Augen nach ihr hin.
Bei Mattis, mein ich. Du hast es wohl gehört? fragt sie.
Gehört? Was? Er hat nichts gehört, ist nur von seinem Eigenen erfüllt und erwidert: Du, du sollst etwas zu hören bekommen!
Was brummst du denn da? sagt sie unschuldig und sorglos. Na, dann hast du es also nicht gehört?
Es muß etwas Besonderes sein, die Neugierde bekommt die Oberhand bei ihm, die Stiche in seinem Herzen sind nicht mehr so heftig. Was willst du mir denn da weismachen? fragt er.
Das ist nun Petras günstigster Augenblick, sich ein wenig kostbar zu machen, sie tut sogar etwas gekränkt und sagt: Ich will dir gewiß nichts weismachen, ich werde schweigen.
Oliver mußte einen ganz andern Ton anschlagen, bitten, ehe Petra nachgab. O, aber die Neuigkeit ist doch zu gut, als daß Petra nicht die erste sein wollte, die sie erzählt; Petra kann sie nicht länger für sich behalten. Es ist Maren, sagt sie.
Was ist mit ihr?
Maren Salt.
Ja, hörst du –
Ja, sie liegt zu Bett; sie hat ein Kind bekommen.
Oliver wußte wohl nicht recht, wie er diese Neuigkeit aufnehmen sollte, jedenfalls war er nun wieder um eine kräftige Auseinandersetzung mit seiner Frau betrogen. Halb ärgerlich sagt er: Dann hast du also darüber mit ihm lange Reden gehalten?
Lange Reden gehalten? Er kam zu seiner Tür heraus und sagte es mir. Er ist ganz verstört.
Das geschieht ihm gerade recht.
Ach, du glaubst doch wohl nicht, daß der Mattis der Vater sei?
Na, das weißt du wohl?
Sie stritten sich darüber, bekamen ernstlich Streit. Wenn Mattis nicht der Vater war, dann wußte Oliver noch weniger, wie er es aufnehmen sollte. Aber jedenfalls war es Samstagabend und spät, Oliver war hungrig und ungnädig, er wollte so rasch wie möglich heim. Als er endlich zu essen bekommen und überdies viel bekommen hatte, lag das Leben wieder heller vor ihm, er lachte und fragte Petra genauer über Mattis aus, was er gesagt und wie er es aufgenommen habe.
Petra erzählte. Sie war sehr zufrieden, daß das Gewitter vorübergezogen war, nun war auch sie wieder in guter Laune, o nein, daran fehlte es nicht, sie äffte Mattis nach und machte sich über ihn lustig: Mattis habe die ganze Zeit verlangt, daß Maren aus dem Hause solle, ehe sie sich legen müsse, aber Maren habe eine spätere Zeit angegeben und ihn tüchtig angelogen, o, es sei noch lange bis dahin. Dann hört er in der Nacht plötzlich ein Kind schreien, Mattis fährt aus dem Bett und läuft nach der Hebamme, läuft auch zum Doktor. Der Doktor sagt ungläubig: Maren Salt, ist sie nicht vierzig bis fünfzig Jahre alt? Das ist doch wohl nicht möglich? – Mattis hatte geantwortet: Glauben Sie vielleicht dann, ich hätte ein Kind bekommen? – Bist du sicher, daß ein Kind da ist? fragt der Doktor. – Es schreit jedenfalls, es liegt drinnen. Kommen Sie und sehen Sie selbst nach!
Petra lacht, und Oliver lacht, und die Großmutter lacht, selbst die beiden kleinen Mädel merken gut, wie lächerlich der Schreiner Mattis sich benommen hat, und können nicht ernst bleiben.
Ihr hättet den Mattis sehen sollen, sagt Petra. Da stand er, trat von einem Fuß auf den andern und schnaubte mit der Nase, er war ganz verzweifelt, weil er die alte Person nicht bei Zeiten aus dem Hause hinausgebracht hatte. Es heißt, sie sei zwischen vierzig und fünfzig, aber sie ist mindestens sechzig, rief er, und ist das menschlich? Hingehen und mit den Nüstern wedeln genau wie mit Kaninchenohren, wenn sie schon in einem Alter ist, wo man zu Asche wird.
Dann war Petra verschmitzt gewesen und hatte gesagt: Ja, du wirst am besten tun, wenn du sie nimmst, Mattis. – Sie nehmen! schrie er. Ich? Warum sollte ich sie denn nehmen? Beim Satan werde ich! Und wenn je der Tag kommt, wo ich mich verändere, dann, das weißt du, ist es sicher nicht mit so einer Dirne! Das ist totsicher.
Das ganze Haus lachte.
Aber wie um wieder etwas Würde zu zeigen, faßt sich Oliver und sagt: Aber war nun all das etwas, um mit einem fremden Mannsbild zu schwatzen und dazu mitten auf der Straße?
Doch Petra ist jetzt sicher. Nein, ich hätte zu ihm hineingehen können, aber das wollte ich nicht.
Das hättest du nur probieren sollen!
Warum nicht? Er ist so gut und einfältig, es gibt keinen bessern Menschen als Mattis. Das weiß ich gewiß, wer mit dem Mattis verheiratet wäre, der könnte ein Kind nach dem andern ohne ihn bekommen; er würde gar nichts davon verstehen.
Das würde dir gefallen ... Geht zu Bett, Kinder! schreit Oliver plötzlich die zwei kleinen Mädchen an, die sofort verschwinden. Selbst die Großmutter verläßt die Stube. Ja, das würde dir gefallen, wiederholt Oliver.
Mir? versetzt Petra. Ist es der Mühe wert, mich zu nennen?
Du denkst wohl, du habest zu wenig Vergnügen, du darfst dich am Hafen nicht weit genug herumtreiben?
Ich? fragt Petra lachend. Hehehe! lacht sie. Nein, ich hab einen Mann, der auf mich aufpaßt. Das weiß ich ganz gewiß.
Oliver sieht sie mißtrauisch an, ob sie vielleicht ihren Spaß mit ihm treibt, er setzt eine düstere Miene auf.
Aber Petra wickelt ihn um den Finger: Übrigens, sagt sie einschmeichelnd, übrigens solltest du menschlich sein und mich etwas mehr dahin gehen lassen, wohin ich gerne wollte. Ja, das solltest du, Oliver. Denn du weißt, ich tu nichts Böses, ich seh mich nur um, seh mich nur um, gucke in die Fenster und schlendere umher.
Es paßt sich nicht für eine verheiratete Frau, die zu den besseren Leuten gehören sollte, erwiderte Oliver. Wo wolltest du denn hingehen, auf den Tanzboden? Das will ich gern glauben.
Und wenn ich auf den Tanzboden ginge? Wenn ich nur einen Augenblick zusehen würde?
Ja, und wenn du die kleinen Mädchen mitnähmst, spottete Oliver. Aber so lange ich Oliver Andersen heiße und so lange ich meine jetzige Stelle habe, wird das nicht geschehen. Da hast du meine Antwort.
Neinnein, erwidert Petra nachgiebig. Du hast hier zu befehlen, und wenn du nein sagst, dann ist es nein.
Ja, das ist es, entgegnet Oliver und schwillt auf.
Aber ich darf doch wohl einmal hingehen und nach Maren Salt sehen?
Oliver fährt auf. Es wäre mir sehr lieb, wenn du begreifen würdest, daß du nicht zu solchen Menschen gehen kannst, hörst du, und daß du nicht in dieses Haus gehen kannst. Keine Rede davon. Denn wenn dein Mann Vorsteher geworden ist, dann kannst auch du nicht überall hingehen, sondern sollst dich nach deinem Stand benehmen. Ich leide es nicht, und du mußt dir einfach klar machen, daß ich es nicht haben will.
Neinnein, seufzt Petra, und sie läßt ihn das letzte Wort haben.
Aber Oliver fühlte sich eigentlich geschmeichelt, daß seine Frau ihn um etwas weiteren Spielraum bat, ja, wirklich. Denn nicht alle Frauen baten darum, sondern viele machten schlechte Streiche, ohne ein Wort darüber zu verlieren.