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Donatello lebte schon in Zeiten hinein, wo größerer Reichtum an Werken der alten Kunst sich eingefunden hatte. Er brachte Cosimo auf den Gedanken, antike Statuen zu sammeln und öffentlich aufzustellen. Zerbrochene oder verstümmelte ergänzte er ihm. Dies waren die Anfänge des mit so viel Schätzen ausgestatteten Gartens von San Marco, in dem Michelangelo als Kind seine Studien machte. Was in Donatellos Jugend mehr eine unverstandene Liebhaberei einzelner gewesen war, hatte sich allmählich zum Geschmack des großen Publikums erhoben, und die Vorteile, welche er, und die anderen mit ihm, sich in der Jugend, ihrem Instinkt nachgehend, mühsam zusammenerwarben, wurden von nun an den folgenden Künstlern als eine unumgängliche aber bequem zu erreichende Übung überliefert.
Der Umschwung, der sich in Italien während des Lebens und Wirkens der vier Künstler vollbrachte, war ein alles durchdringender. Das Altertum brach in frischen Quellen aus der Erde und befruchtete die Welt. Die Päpste widersetzten sich dem nicht, sie und der weltliche und der geistliche Adel Italiens strebten um die Wette danach, das Wiederaufleben der antiken Kultur sich selbst zum geistigen Genusse auszubeuten. Die Buchdruckerkunst erweiterte die Wirkung der römischen und griechischen Autoren ins Unendliche. In Florenz fällt der Einbruch dieser Zeiten und die vollendete Herrschaft der Medici mit der Ausdehnung des Territoriums und bedeutender Erweiterung der Handelsbeziehungen zusammen. Aus allen Enden der Welt strömt Reichtum in die Stadt. Die Familien der großen Bürger haben fürstliche Mittel in Händen. Eine neue Generation wächst auf, aber es zeigen sich nun auch die ersten Spuren jener Weltanschauung, für welche der schöne Genuß des Lebens höher stand als die rasende Vaterlandsliebe und die Befriedigung des Triebes, sich frei zu fühlen, welche bis dahin die Geschicke der Stadt geleitet hatten.
Diese Zeiten aber sind uns bekannter und verständlicher. Sie haben nichts Mythisches mehr an sich wie die vorhergehenden, sie sind erfüllt von Charakteren, deren Handlungsweise wir verfolgen und begreifen, und die drei großen Künstler, welche in ihnen aufstehen und durch ihre Arbeiten sie verherrlichen, stehen als lebendige Menschen vor uns. Cimabue, Giotto und sogar Dante sind kaum mehr als große schwankende Schatten von Männern, deren gesamte Tätigkeit wir mit ihren Namen belegen; Ghiberti, Brunelleschi und Donatello erscheinen bereits voller und lebendiger, Donatello beinahe als erkennbarer Charakter, Leonardo da Vinci aber, der älteste der drei, von denen nun die Rede sein wird, streift alles Nebelhafte von sich, und obgleich wir, verglichen mit den beiden anderen, am wenigsten von seinen Schicksalen wissen und seine Wege oft versteckt und dunkel sind, empfinden wir doch in seinen Werken sein ganzes Herz und stehen ihm nah, als wären wir ihm begegnet.
Leonardo ist kein Mann, an dem man nach Belieben vorübergehen könnte, sondern eine Gewalt, deren Fesseln wir tragen und deren Zauber sich niemand wieder entzieht, der einmal von ihm berührt worden ist. Wer die Mona Lisa lächeln sah, den begleitet dieses Lächeln für immer, wie Lears Wut, Macbeths Ehrgeiz, Hamlets Trübsinn und Iphigeniens rührende Reinheit ihn begleiten.
Sind Künstler einmal so groß wie er, dann werden ihre Werke zu persönlichen Taten, und was irgendwie mit deren Entstehung auch im entferntesten in Zusammenhang steht, gewinnt höhere Bedeutung. Ihre Reisen sind keine bloßen Geschäftsreisen mehr, ihre Feindschaften oder Verbindungen keine äußerlichen Verhältnisse, keine ihrer Erfahrungen scheint ohne Einfluß auf ihr Schaffen geblieben zu sein. Mag Donatello in Venedig, Padua oder Neapel, in Kriegs- oder Friedenszeiten arbeiten, er ist überall derselbe. Ob Ghiberti, während er an seinen Türen modellierte, goß und vergoldete, glücklich oder unglücklich geliebt habe, ist eine Frage, deren genaueste Beantwortung uns wenig berühren würde. Selbst bei den lieblichen Frauenprofilen des Filippo Lippi steigt derartige Neugier nicht auf. Wir betrachten mit Rührung das Bildnis der schönen Simoneta, des jugendlich ermordeten Giuliano dei Medici junggestorbene Geliebte, aber wir denken nicht daran, mit welchen Augen Botticelli selbst sie angeblickt, als er diese zarten Linien zog. Dagegen die Frauen Leonardos – welch eine Luft umweht diese Gestalten, welch eine Begier erwacht, zu wissen, wieviel nur die bewußte Kunst hier getan, wieviel das eigene Herz des Malers an dem Reize des Bildnisses schuldig sei. Jene grübelnde Neugier wird tätig in unserem Geiste, die alsbald zu fragen und Vermutungen zu schmieden beginnt. So war uns gerade zumute bei Goethes Gedichten. So scheint unmöglich, daß sie nicht ganz und gar als Teile seines gelebten Lebens entstanden seien. Dieses rätselhafte Wesen, dies aller Erklärung spottende, unseren Scharfsinn dennoch stets wieder aufreizende Geheimnis ist der ausschließliche Besitz der Werke, die von großen Künstlern geschaffen worden sind. Das zieht uns mächtig an, und was bei geringeren Künstlern als eine so große Hauptsache gilt: ihre Technik, ihr Lernen, ihre Fortschritte in Auffassung und Behandlung, wird zu Nebensachen, die geringerer Betrachtung würdig scheinen.
Leonardo ist 1452 geboren, als der natürliche Sohn eines reichen Adeligen. Liest man Vasaris Nachrichten über sein Leben, so wird man versucht, sie für eine Reihe liebenswürdiger Geschichten zu halten, die sich auf Rechnung eines großen, aber ziemlich unbekannten Mannes in Florenz gebildet hatten. Denn Leonardo war die meiste Zeit seines Lebens weit abwesend von seiner Vaterstadt. Aber seine Werke stimmen mit den Seltsamkeiten überein, die Vasari mitteilt. In London, Florenz und an anderen Orten werden eine Fülle von seinen Zeichnungen aufbewahrt; es ist kaum zu beschreiben, welche Höllenfratzen hier auf das sauberste und in sorgfältiger Durchführung von Leonardos Hand gezeichnet zu sehen sind. Karikaturen mit wissenschaftlicher Genauigkeit erfunden. Eine nach der anderen, die folgende immer ungeheuerlicher als die vorhergehende. Einen Zweck, wie etwa die verzerrten Gesichter, welche Michelangelo in Zieraten anbrachte nach Art der Grotesken, können diese Bildungen nicht gehabt haben. Es sind bloße Versuche, das Häßliche so weit zu treiben als möglich wäre, fixierte Träume gleichsam einer auf Auswüchse menschlicher Formen gerichteten Phantasie. Da glaubt man Vasari gern, wenn er erzählt, Leonardo habe Tage lang einem auffallenden Menschengesichte nachlaufen können, nur um es von Grund auf aufzufassen und zu Papiere zu bringen. Oder er lädt eine Schar Bauern zum Essen ein, macht ihnen Mut, sich recht behaglich zu fühlen, reizt sie zum Lachen und weiß sie mit Hilfe guter Freunde so lange darin zu erhalten, bis sich die grinsenden Gesichter aufs festeste in sein Gedächtnis eingegraben haben. Nun stürzt er fort und beginnt zu zeichnen, worauf dann ein Bild fertig wird, das kein Mensch, ohne selber zu lachen, ansehen kann. Es ist, als hätte Leonardo das Bedürfnis eines schreienden Gegensatzes in sich empfunden gegen jene wahrhaft himmlischen Gestalten, die er zu schaffen fähig war. Er selber, schön von Antlitz, stark wie ein Titan, freigebig, mit zahlreichen Dienern und Pferden und phantastischem Hausrat umgeben, ein perfekter Musiker, bezaubernd liebenswürdig gegen Hoch und Niedrig, Dichter, Bildhauer, Anatom, Architekt, Ingenieur, Mechaniker, ein Freund von Fürsten und Königen, – dennoch als Bürger seines Vaterlandes eine dunkle Existenz, die, aus ihrem Dämmerlichte selten heraustretend, keine Gelegenheit findet, einfach und frei ihre Kräfte für eine große Sache einzusetzen.
Solche Naturen, die bei eminenten Anlagen dennoch nur zum Abenteuerlichen geschaffen scheinen, die mit den ernstesten, tiefsten Arbeiten des Geistes den Trieb zu einer Art kindlichen Spielerei bewahren, sind seltene, aber mögliche Erscheinungen. Solche Männer werden an hoher Stelle geboren; genial, schön, unabhängig und von unbestimmtem Tatendrange, glühend, treten sie in die Welt. Alles steht ihnen offen, unter keiner Gestalt naht wirkliche, drückende Sorge, sie richten sich ein Leben ein, das niemand außer ihnen selbst versteht, weil niemand gleich ihnen unter den Bedingungen geboren wurde, die auf diese Sonderbarkeiten fast wie ein notwendiges Schicksal hinleiten, dem nicht zu entrinnen ist.
Alfieri war ein solcher Geist, mit ungemeiner, aber völlig unbedingter Energie sich selbst überlassen, unfähig einen anderen Weg zu gehen als den, welchen seine Natur blindlings auffand, Lord Byron ähnlich organisiert, durch den Willen einer dämonischen Unruhe hierhin und dorthin gestoßen. Wie kam ein Mann von Leonardos Genie, der eine große, mächtige Partei für sich hatte, zu dem Entschlusse, sein geliebtes Florenz auf so lange Jahre aufzugeben und endlich wie ins Exil nach Frankreich zu gehen? Allen anderen überlegen, verzichtet er darauf, seine Stellung geltend zu machen. Mit den bedeutendsten Männern seiner Zeit in Kontakt, steht er doch zu keinem in natürlichen, offenbaren Verhältnissen. Leider ist Vasaris Beschreibung, in der ganze Epochen übergangen und die Dinge in Verwirrung gebracht sind, fast die einzige Quelle für die äußeren Schicksale Leonardos. Denn obgleich er selbst ganze Bände schriftlicher Arbeiten hinterlassen hat, empfangen wir daraus wenig Wissenswürdiges über die Wege, die er gegangen ist. –
Die gewöhnliche Laufbahn der florentinischen Künstler pflegte die zu sein, daß sie als Goldschmiedslehrlinge anfingen. Sie gewannen so die solideste Grundlage. Den Unterschied zwischen Kunst und Handwerk kannte man wohl, aber er bezog sich auf die Leistungen selbst, nicht auf die, welche die Werke hervorbrachten. In Frankreich unterschied man im vierzehnten Jahrhundert so: was für die Kirche und den König gearbeitet wird, ist ein Kunstwerk, das übrige Handwerkerarbeit. Die Absicht war in allen Fällen die, Geld zu verdienen.
Leonardo kam anders zur Kunst. Zeichnen und Modellieren machten ihm Vergnügen. Sein Vater, von dem er wie seine übrigen ehelichen Geschwister gehalten wurde, gab einige von seinen Zeichnungen dem Andrea Verrocchio, der Donatellos Schüler und nach dessen Tode der erste Künstler in Florenz war. Dieser drang in Messer Piero da Vinci, er müsse seinen Sohn Maler werden lassen, und nahm Leonardo in seine Werkstätte auf. Hier wurde gemalt, in Marmor gearbeitet, in Erz gegossen. Aus diesen ersten Zeiten will Vasari einige in Ton modellierte Frauenköpfe gesehen haben, deren Ausdruck ein lächelnder gewesen sei. Also gleich im Beginn dies Lächeln bei Leonardos Frauenantlitzen, das in so viel späteren Bildern wiederkehrt und endlich durch seine Schüler, Luini voran, zu einer stetigen Auffassung wurde, aus der sich gar kein Ausweg fand.
Neben den bildenden Künsten betrieb er mechanische und architektonische Studien. Sein Sinn war auf außerordentliche Dinge gerichtet, auf das Schwierige, auf Erfindung von künstlichen Mühlenwerken, Apparaten, um zu fliegen, Maschinen, um Tunnel durch Berge zu bohren oder ungeheure Lasten fortzuschaffen, Anstalten, um Sümpfe zu entwässern. Das großartigste von seinen Projekten war das, die Kirche von San Giovanni, welche durch die allmähliche Erhöhung des Pflasters ringsumher zu tief in den Boden hineingeraten war, emporzuheben, wie sie dastand, und einen Unterbau mit Stufen darunter zu setzen. Jeder wußte, daß dies unmöglich sei, bemerkt Vasari (der doch in solchen Dingen gern selber das Unmögliche geleistet hätte), allein wenn Leonardo vordemonstrierte, wie er zu Werke zu gehen gedächte, mußte man ihm Glauben schenken. Heute würde es sich bei dieser Sache vielleicht nur um die Kosten handeln.
Neben solchen Bestrebungen genoß Leonardo das Leben und seine Jugend. Besonders war er auf schöne Pferde und andere Tiere aus, an denen er seine Freude hatte. Diese Neigung für allerlei Getier finden wir wiederum bei Alfieri und Byron. Ich möchte sie einer ganzen Menschenklasse zuschreiben, mögen es nun geniale Geister oder unproduktive Ingenia gewesen sein. Es liegt ihr eine Art von Herrschbegierde zugrunde. Aus innerer Unruhe wissen sie geistige dauernde Gewalt über ihresgleichen nicht geltend zu machen, und weil sie weder Sklaven halten können noch als Fürsten geboren sind, so beschränken sie sich auf die unantastbare Herrschaft über ein Volk von Tieren, die in ihrer Fähigkeit, Treue zu bezeigen, ein Surrogat für die Menschen bilden, und weil sie niemals böse Behandlung nachtragen oder sonstwie ihre Persönlichkeit geltend machen, eine vorzüglichere Gesellschaft scheinen, mit der wohl auszukommen ist. Bei Vasari begegnen wir noch einigen Künstlern von geringerer Bedeutung, darunter Schülern Leonardos, die ähnliche Neigungen kultivierten.
Mit solchen Liebhabereien gingen Botanik, Anatomie, Astronomie und Astrologie Hand in Hand. Durch letztere besonders soll Leonardo sich dermaßen ketzerische Ansichten gebildet haben, daß ihn jedermann eher für einen Heiden als für einen Christen ansah. Doch findet sich diese Bemerkung nur in der ersten Ausgabe von Vasaris Werken. In der zweiten ließ er sie fort und tat, wie seine heutigen verdienstvollen Florentiner Herausgeber bemerken, wohl daran, da gewiß nur ein Mißverständnis an einer solchen Behauptung schuld gewesen sein könne. Unbefangen betrachtet, erscheint Leonardos Ketzerei im Einklang mit dem Charakter des Mannes und den Anschauungen seiner Zeit. Die klassischen Studien herrschten; als Sittenregel eine Auffassung der Dinge, die sich gegen Gut und Böse, Glauben und Unglauben im christlichen Sinne gleichgültig verhielt. Ihr huldigten der Adel und die höhere Geistlichkeit. Die Akademie von Florenz, dieser griechisch gebildete Hofstaat der Medici, erhob die platonische Philosophie zur zweiten Staatsreligion. Die, welche eine andere Richtung strenge bewahrten, standen als ein kleines Häuflein einsam mitten im Gewühl, und die Zeiten, wo dieser Zustand von Grund aus mit einer Tünche von anderen Gesinnungen überdeckt werden sollte, liegen weit hinter Leonardos Todesjahr. Wohl aber sind es die Jahre, in denen Vasari sein Buch verfertigte.
Bald übertraf Leonardo Verrocchio, seinen Meister. Auf einem Bilde, welches dieser für die Mönche von Vallombrosa malte und das die Taufe des Johannes vorstellte, stach ein Engel von der Hand Leonardos durch seine Schönheit dermaßen hervor, daß Verrocchio von der Zeit an das Malen ganz aufgegeben haben soll. Doch werden ähnliche Wendungen zu oft von Vasari erzählt, als daß man sie für buchstäbliche Wahrheit zu nehmen hätte. Die nächste Arbeit war die Zeichnung zu einem Teppich vor eine Tür zu hängen, der in Flandern für den König von Portugal gewebt werden sollte. Zu bemerken hierfür ist, daß die Verbindung zwischen Florenz, Lissabon und den nördlichen niederländischen Häfen längst eine gewöhnliche war; überall gab es florentinische Häuser. Auf diesem Teppich hatte Leonardo den Sündenfall dargestellt. Die Landschaft mit den Pflanzen und Tieren sowie der Baum mit dem Geäst und Blättern waren so fein und vollkommen ausgeführt, daß die Geduld des Künstlers ebenso bewunderungswürdig wie seine Kunst erschien. Zu Vasaris Zeiten war dieser Karton noch in Florenz vorhanden.
Man muß, wenn Sorgfalt und Ausführlichkeit in der Behandlung des Details hier besonders lobend hervorgehoben werden, die Arbeitender florentinischen Meister jener Zeit überhaupt vor Augen haben, bei denen miniaturartige Sauberkeit gewöhnlich ist. Leonardo leistete darin aber das höchste. Daher erscheint der Vorwurf, er sei mit seinen Bildern nie fertig geworden, er habe so viel angefangen und unvollendet stehen lassen, sehr natürlich. Die Sorgfalt, mit der er seine Farben und Öle bereitete, war eine außerordentliche.
Die Entstehung des furchtbaren Medusenhauptes, das ebenfalls eine seiner frühesten Arbeiten war, erzählt Vasari sehr anschaulich. Leonardo sammelt alles nur aufzutreibende giftige Krötengezücht, hält es in seinem Hause, reizt es zur Wut und beobachtet es, bis sich seine Phantasie für diese Malerei vollgesogen hat. Vollendet bringt er das Gemälde in ein verdüstertes Zimmer, schneidet ein Loch in den Fensterladen, so daß das rundeindringende Licht gerade den Kopf der Meduse trifft und mit leuchtender Helligkeit ausstrahlt. Damit werden dann die auf geheimnisvolle Weise hereingeführten Neugierigen in Schrecken versetzt. Sodann malt er für einen seiner Freunde den Gott Neptun. Auf diesem Bilde vereinte sich die Natürlichkeit der stürzenden Wellen, die Seltsamkeit der sie durchpeitschenden Seeungetüme und die prachtvolle Schönheit der Göttergestalt zu einem überraschenden Anblicke. Die Vorliebe für das Phantastische aber lag nicht sowohl im Charakter des Künstlers selbst, als sie überhaupt den Anschauungen der damaligen Welt eigen war, und manche Werke von Leonardos früheren Genossen entsprechen im Geiste den seinigen, wie sie von Vasari beschrieben werden, denn erhalten sind sie heute nicht mehr. Noch in seinen spätesten Bildern aber blieb er dieser märchenhaften Stimmung getreu, die aus ihnen herausredet wie aus den Versen Byrons, an den ich nicht denken kann, ohne daß mir Leonardo in den Sinn käme. So stark war das Launenhaft-Träumerische seiner Natur, daß er seinen Schülern ernsthaft rät, die feuchten Flecke alten Gemäuers, Asche und anderes zufälliges Naturgerümpel genau anzusehen: dabei stiegen die schönsten Gedanken für Gemälde auf. Und so groß war seine Kraft, die verborgene Tiefe eines Menschen zu erkennen und darzustellen, daß er mehr darin geleistet als irgendein anderer. Man muß den Frauenkopf des Augsburger Museums gesehen haben, um das zu ermessen, wo die Leidenschaft mit einer Wahrheit ausgedrückt ist, daß man die Schicksale zu kennen glaubt, die diese Züge gestalteten, und sich wie von einem furchtbar schönen Geheimnisse von dem Anblicke nicht losreißen kann.
Die Blüte seines Talentes entwickelte sich nicht in seinem Vaterlande. Er mochte etwas mehr als dreißig Jahre zählen, als er nach Mailand ging, wo Ludovico Sforza die Herrschaft inne hatte. Es wäre natürlich gewesen, daß man Leonardo einer bedeutenden künstlerischen Unternehmung wegen dahin gezogen hätte, doch davon wird nichts erzählt. Sforza liebte das Saitenspiel, er hatte gehört, welch ein Meister darin Leonardo sei, und ersucht ihn um seine Gegenwart. Dieser folgt dem Rufe. Er verfertigt sich eine silberne Leier, der er die Form eines Pferdeschädels gibt und zu deren Klange er im Gesang die Verse erfand, durch die er den Herzog und dessen prachtvollen Hof in Entzücken setzt. Dies war das erste Auftreten des schönen Florentiners in Mailand. Bald aber eröffnet sich ihm eine Tätigkeit, die ihn ebensosehr fesselt als die Zuneigung Sforzas. Er findet reichen Spielraum für seine Talente und nimmt als Künstler die erste Stelle ein. Wir verlassen ihn hier. Diese Jahre sind es, in die Michelangelos erste Entwicklung fällt.