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Des Morgens erweckte sie das Läuten der Glocken. Vor allem eilte sie ans Fenster. Draußen lachte heiterer Sonnenschein, zwitschernd hüpften die Vögel von Zweig zu Zweig, die von den Basteimauern geschützten Gärten erfüllten die Luft mit Wohlgeruch, und unter triumphierendem Geschrei schossen die Schwalben um die alten Mauern.
Rasch kleidete sich Estelle an.
Das Stubenmädchen trug den Kaffee auf, welchen es in dem anstoßenden Zimmer, das der Gast auch als Salon benutzen konnte, auf einem Tische servierte.
»Ich werde Ihrem Bruder sagen, Madame, daß er zum Frühstück bereits herunterkommen könne,« sagte die Magd.
Estelle lächelte. Es ist ja wahr; da Benois nicht ihr Gatte war, konnte er nur ihr Bruder sein. Diese Voraussetzung, welche Achtung vor ihrer Reinheit verriet, berührte sie ebenso, als wären ihr von unschuldvollen Händen Blumen angeboten worden.
Benois kam herunter. Auch er hatte sich ausgeruht und sein Geist seine volle Klarheit, seine volle Bestimmtheit wiedererlangt, deren er bedurfte, um das zweifelhafte Unternehmen, welches ihm bevorstand, zu einem gedeihlichen Ende zu geleiten.
In einigen Worten legte er seinen Plan dar.
»Gib den Briefumschlag mir,« sagte er. »Wenn sich Rosalie zu sprechen weigern sollte, so vermag ich sie besser einzuschüchtern als du. Werden wir etwas Schmerzliches erfahren, so werde ich es dir in milderer Form wiederbringen können, – sofern es dir recht ist, daß ich überhaupt etwas davon wisse.«
»Ich kann kein Geheimnis besitzen, welches dir verborgen bleiben müßte,« erwiderte Estelle bestimmt. »Gehe genau so zu Werke, als würde es sich um dich handeln. Ich erwarte dich hier.«
Benois schwieg.
In der frühen Morgenstunde saßen beinahe in allen Türen der alten, niedrigen Häuser der einzigen Straße des Dorfes zwei oder drei blonde, feiste Kinder, die mit gutem Appetit die länglichen Butterbrote verzehrten und den auf sie zukommenden fremden Herrn ohne Mißtrauen betrachteten.
Vor der kleinen Kirche blieb Benois zögernd stehen. In der Tür eines einzigen Hauses, welches vollständig den übrigen glich, sah man keine Kinder; ebensowenig in dem Fenster. Es war überall fest verschlossen und schien gänzlich unbewohnt zu sein.
»Wo wohnt Rosalie Férol?« fragte er eine Nachbarin, die gerade ihren Hühnern Futter streute.
»Dort,« erwiderte die Frau, auf das traurige Haus deutend. »Jetzt ist sie in der Messe, doch wird sie bald zurückkehren.«
Benois dankte für die erhaltene Aufklärung und wartete. Etwa zehn Minuten später begann sich die Kirche zu leeren.
Aufmerksam betrachtete Benois die Herauskommenden. Nach alledem, was er von Rosalie wußte, war er sicher, daß er sie erkennen würde.
In einen schwarzen Mantel gehüllt, kam auch Rosalie bald zum Vorschein. Die ehemalige Zofe hatte in Tracht und Benehmen gleicherweise das Wesen der Bauern angenommen. Sie war magerer und blässer, als Benois gedacht.
»Ein Herr wartet auf Sie, Rosalie,« rief ihr die bereitwillige Nachbarin zu.
Rosalie blieb stehen und betrachtete den Mann, der sie grüßte. Ihre Lippen und Wangen waren mit einem Male ganz farblos geworden; nur ihr Auge behielt seine dunkelgraue Farbe bei und nahm den Ausdruck an, wie das eines verfolgten Wildes.
»Sie wünschen mit mir zu sprechen, mein Herr?« fragte sie ängstlichen Tones.
»Ja.«
Rosalie blickte umher, als wollte sie sehen, nach welcher Richtung sie entfliehen könne. Dann nahm sie mit einem plötzlichen verzweifelten Entschluß den Schlüssel aus der Tasche, und Benois gar nicht anblickend, sagte sie:
»Ich bitte.«
Sie traten in das sehr einfache, kalte und ärmliche kleine Haus, in welchem peinliche Sauberkeit herrschte.
Rosalie schloß die Tür und sprach:
»Bitte, Platz zu nehmen.«
Sie befanden sich in einem schmalen, niedrigen Zimmer, dessen einziges Fenster aus sehr kleinen, grünlichen Glasscheiben bestand. Ein großer Kamin nahm beinahe eine ganze Wand des Raumes ein; ein Tisch, vier Stühle und ein mächtiger Schrank bildeten die gesamte Einrichtung.
Durch eine offene Tür konnte man in ein zweites Zimmer sehen, welches größer und besser eingerichtet war und in welchem ein mit veilchenblauen Kattunvorhängen versehenes altertümliches Bett stand.
Rosalie ging in dieses zweite Zimmer und kam auch sofort wieder zurück; sie hatte nur ihren Mantel abgelegt. Ihr eckiges Gesicht war jetzt von einer einfachen weißen Battisthaube umrahmt; über das schwarze Kleid trug sie eine dunkelblaue Schürze und ein zum Zeichen der Trauer weißbedrucktes schwarzes Tuch.
Ihr Gesicht hatte noch immer den an ein erschrecktes Tier gemahnenden Ausdruck, trotzdem sie eine große Anstrengung machte, um ruhig zu erscheinen. Ihre Stimme aber verriet sie und sie bewegte mehrmals die Lippen, bevor sie die Frage auszusprechen vermochte:
»Was wünschen Sie von mir?«
Benois nahm den Briefumschlag, welchen Estelle ihm gegeben, aus der Tasche und legte ihn schweigend auf den Tisch.
Wie bezaubert sah Rosalie seinem Beginnen zu. Sie neigte sich näher, um das Kuvert besser zu sehen, und als sie die eigene Schrift erkannte, fuhr sie zusammen und wich bis zum Fenster zurück, sich mit dem Rücken an dasselbe lehnend, gleich einem bedrängten Tiere. Von dort blickte sie auf ihren furchtbaren Gast.
»Kennen Sie dies?« fragte Benois, der vor diesem Schrecken beinahe selbst erschrak.
Rosalie nickte bejahend mit dem Kopfe.
»Haben Sie es selbst geschrieben?«
Rosalie blickte starr auf den Umschlag, gab aber keine Antwort.
»Was stand in jenem Briefe?« fragte Benois streng.
»Sie wissen es ja!« sagten ihre Lippen, doch tonlos.
»Sagen Sie es mir!« forderte Benois.
»Ich sage es nicht!« erwiderte Rosalie mit entschlossener Geberde. »Genug, daß ich es geschrieben; sagen werde ich es nicht.«
»Sie müssen es aber sagen!« rief Benois gebieterischen Tones. »Kommen Sie hierher.«
Rosalie verharrte regungslos. Benois ging hin zu ihr, erfaßte ihre Hand und drückte sie auf einen Stuhl nieder, ohne daß sie sich widersetzt hätte. Dabei fielen schwere Schweißtropfen von ihrer Stirne auf das Busentuch.
»Sagen Sie mir, was in jenem Briefe gestanden!«
»Niemals!« entgegnete Rosalie und kreuzte die Arme auf der schmalen, flachen Brust.
»Sie haben den Tod eines Menschen herbeigeführt!« sprach Benois drohenden Tones.
Rosalie erschauerte; ihre Lippen bewegten sich, ließen aber keinen Laut vernehmen.
»Bertolles beging einen Selbstmord, weil er den Brief las,« fuhr Benois unbarmherzig fort. »Sie haben ihn getötet!«
Rosalie schlug ein Kreuz; wieder bewegten sich ihre Lippen, ohne aber ein Wort vernehmen zu lassen.
»Frau von Montelar erlag vor einer Woche ihrem Kummer, – auch das haben Sie verschuldet! Kannten Sie sie?«
Rosalie machte eine verneinende Bewegung.
»Sie war die Tante des Herrn von Bertolles. Sie liebte den Neffen wie den eigenen Sohn. Kannten Sie Herrn von Bertolles?«
Rosalie wiederholte ihre frühere Bewegung.
»Weshalb also haben Sie jenen Brief geschrieben?«
Rosalie verharrte regungslos, mit fest zusammengepreßten Lippen.
»Antworten Sie!« herrschte sie Benois an, »sonst werden Sie den Behörden überliefert!«
»Die Gesetze der Menschen haben keine Bedeutung,« entgegnete Rosalie langsam, »nur die des Himmels.«
Benois blickte sie mit verhaltenem Grimm an. Er wird sie also nicht zum Sprechen bringen können.
Rosalie aber war von ihrem eigenen Schrecken in Anspruch genommen und achtete nicht auf ihn.
»Wissen Sie, was Sie getan haben?« fragte Benois erhobenen Tones weiter. »Den Brief haben Sie geschrieben; Ihrethalben starb der Rittmeister Bertolles, und nun klagt man eine unschuldige Frau an, daß sie ihn gemordet hätte.«
Rosalie blickte ihn an, und ihr Gesicht färbte sich dabei etwas lebhafter.
»Ja,« fuhr Benois fort, »man beschuldigt seine Frau, ihn getötet zu haben! Und das haben auch Sie getan!«
Das Gesicht der Unglücklichen nahm einen furchtbaren Ausdruck an. Erstickten Tones stieß sie hervor:
»Estelle?«
»Ja, Estelle! Sehen Sie, so schlecht waren Sie! Fürchten Sie sich denn nicht vor Gott?«
Doch Rosalie fiel ihm ins Wort.
»Man sagt, Estelle habe ihn getötet? Es ist nicht wahr! Ich habe den Brief geschrieben! Estelle kann es nicht einmal wissen.«
»So sagen Sie mir, was Sie geschrieben haben, damit Estelles Unschuld ans Tageslicht gebracht werden kann,« sagte Benois, als er sah, daß er die Oberhand zu gewinnen begann.
Rosalie schüttelte verneinend den Kopf.
»Unmöglich,« sagte sie, »man darf die Wahrheit nicht wissen.«
»Aber Estelles Ehre erheischt es.«
»Estelle möchte es selbst nicht wünschen.«
Verzweiflungsvollen Gesichtes versank Rosalie neuerdings in ihr Schweigen und preßte die Lippen zusammen.
Der Schrecken hatte sie im ersten Moment so niedergeschmettert, daß sie gar nicht darüber nachdachte, wer der Fremde sei und mit welchem Recht er sie zur Rede stelle. Der Anblick des Briefumschlages hatte sie förmlich gelähmt.
»Aber Estelle ist unglücklich; man beschuldigt sie und das haben Sie zu verantworten. Schämen Sie sich denn nicht?«
»Das weiß ich. Ich habe sie in Contances gesehen. Es schien mir, als hätte ich mit einem Male meine Verdammnis vor mir erscheinen gesehen.«
»So gestehen Sie die Wahrheit.«
»Das kann ich nicht.«
Benois stand auf. Nun mußte zu den äußersten Mitteln gegriffen werden.
»Sie haben das alles vor Gott und den Menschen zu verantworten.«
Rosalie unterbrach ihn heftig.
»Vor den Menschen? Die wissen gar nichts. Vor Gott? Ich habe bereits gebeichtet und die Absolution erlangt.«
»Der Mann, der Ihnen Absolution erteilte, wußte nicht, daß Ihres Vergehens wegen ein Unschuldiger angeklagt wird! Das haben Sie ihm nicht gesagt, und das hat Ihnen Gott auch nicht verziehen! Und nehmen Sie sich in acht, Rosalie: wenn Ihnen Estelle nicht vergibt, so kommen Sie in die Hölle!«
Bei diesen Worten schien das arme Mädchen plötzlich wie gebrochen.
Benois sah, welchen Schrecken sie empfand.
»Beruhigen Sie Ihr Gewissen,« sprach er und trat näher zu ihr. »Gestehen Sie die Wahrheit. Wollen Sie sie mir nicht offenbaren? Möchten Sie sie lieber Estelle sagen?«
»Estelle darf von derselben gar nichts wissen,« ächzte Rosalie und barg das verstörte Gesicht in den knochigen Händen. »O, mein Gott, habe ich denn nicht schon genug für die Vergehen anderer gelitten? Gehen Sie, entfernen Sie sich! Ich kenne Sie gar nicht! Sie haben hier nichts zu suchen! Und was Estelle betrifft, so kann ich nichts für sie tun. Es tut mir leid, ja, es tut mir leid, daß sie darum Kummer hat; doch Sie gehen von hier!«
»Gut,« sagte Benois kalt. »Ich kam mit friedlichen Absichten hierher; doch wenn Sie lieber ins Gefängnis kommen wollen –«
»Was ficht das mich an!« versetzte Rosalie gleichmütig.
»Und von dort in die Hölle. Denn Sie haben Herrn von Bertolles ermordet! Für diese Sünde können Sie keine Absolution erhalten haben! Sie hatten dem Priester aber auch nicht gesagt, daß Herr von Bertolles einen Selbstmord verübte, als er Ihren Brief las!«
Er hatte das Richtige getroffen; Rosalie war vernichtet.
»Nun sehen Sie,« fuhr Benois triumphierend fort, »Sie wollten die göttliche Gerechtigkeit hintergehen! Doch sollen Sie darum der verdienten Strafe nicht entgehen.«
»Ich wollte Herrn von Bertolles nicht töten,« erwiderte Rosalie beinahe heftig. »Ich hoffte bloß, jene Ehe verhindern zu können, und tat wohl daran! Wenn er einen Selbstmord beging, so bin ich unschuldig daran!«
»Das ist bloß leeres Gerede; das ist Lüge, eine Lüge ist es!«
»Ich habe noch niemals gelogen!« rief Rosalie erbittert aus.
»Eine elende Lüge ist es! Das werden Sie mir niemals nachweisen können. Eine schändliche Lügnerin sind Sie!«
Benois beobachtete genau die Wirkung seiner Worte auf dem Gesicht des unglücklichen Mädchens. Bei den letzten Worten stand Rosalie auf.
»Eine schändliche Lügnerin? Ich? Nun gut! – Schließlich kann es mir gleichgültig sein! Hier, nehmen Sie es mit sich und lassen Sie mich in Frieden!«
Während sie dies sagte, hatte sie die Tür des Schrankes aufgerissen und unter einem Stoß Bettlaken ein vergilbtes Stück Papier hervorgenommen, welches sie zornig auf den Tisch warf.
Benois nahm es hastig an sich und entfaltete es.
Es war das ein auf gelbes Papier geschriebenes, mit Korrekturen und Tintenflecken besätes Konzept eines Briefes, der mit den Worten begann: »Herrn Raymond von Bertolles.«
Der Brief war, wie es Staatsanwalt Bolvin gesagt, von selbst in seinen Umschlag zurückgekehrt.
»Gehen Sie, mein Herr,« sagte Rosalie, »verlassen Sie mein Haus.«
Benois ergriff seinen Hut und entfernte sich, den Brief mit sich nehmend; er taumelte wie ein Trunkener und wußte nicht, wohin seine Schritte lenken. Durch einen engen Gang begab er sich auf die Bastei, wo er in einer halbkreisförmigen Nische eine steinerne Bank fand und sich auf derselben niederließ.
Und dort unter dem blauen Himmel, bei dem heiteren Gezwitscher der Vögel, die über seinem Haupte in den Zweigen eines Feigenbaumes ihr Wesen trieben, las er den Brief, welcher Raymonds Tod herbeigeführt.