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Am nächsten Tage fiel ein feiner Regen, die ganze Stadt in einen Dunstschleier hüllend, und machte jedes Ausgehen unmöglich.
Estelle begab sich in das Gotteshaus und stellte den Sakristan energisch zur Rede. Wer jene Frau gewesen? Ob sie in Contances wohnte? Ob man sie öfter in der Kirche zu sehen pflege?
Der wackere Mann wußte nichts von ihr. Er hatte diese Frau so wenig beobachtet, wie andere. Es kommen viele fromme Frauen in das Gotteshaus, um dieses oder jenes Gelübde abzulegen, und verlassen dasselbe sofort wieder. Er kenne keine einzige derselben.
Estelle vermochte nichts zu erfahren.
Nach einigem Nachdenken war sie vollkommen überzeugt, daß sie sich nicht getäuscht, auch keine Halluzination gehabt habe. Sie hatte tatsächlich Rosalie gesehen und niemand anderen. Wohlvertraut mit den religiösen Neigungen der ehemaligen Kammerfrau, konnte man ohne weiteres voraussetzen, daß sie eine Pilgerfahrt nach Contances angetreten.
Doch weshalb hatte ihr Gesicht den schmerzlichen Ausdruck gezeigt?
Estelle war auch überzeugt, daß Rosalie sie ebenfalls erkannt habe. Ein derart zufälliges Zusammentreffen so vieler Aehnlichkeiten gehört zu den Unmöglichkeiten.
Hatte sie es vielleicht bereut, daß sie ihre freudlose Kindheit noch freudloser gestaltet? Diese Voraussetzung war sehr wahrscheinlich, und Estelle gab sich mit derselben zufrieden und bedauerte, daß sie mit dem Mädchen nicht hatte sprechen können.
Heute, da ihre Vergangenheit in einem ganz neuen Lichte vor ihr lag, hätte sie Rosalie über zahllose Einzelheiten in bezug auf ihre Eltern und sich selbst fragen mögen, und bedauernd verließ sie Contances, wie jemand, dem etwas mißlungen ist. Die Traurigkeit, die seit einigen Tagen von ihr gewichen war, bemächtigte sich ihrer mit erneuter Macht.
Nachdem die beiden Frauen drei Tage lang geduldig auf einen Umschlag der Witterung gewartet hatten, beschlossen sie, die Reise abzukürzen und nach Paris zurückzukehren. Dort würden sie wenigstens nicht unter der feuchten Kälte der nördlichen Gegend zu leiden haben.
Zu Hause angelangt, erkundigte sich Frau von Montelar nach denjenigen unter ihren Freundinnen, die sich in der Stadt und in deren Umgebung aufhielten. Die Zahl derselben war nicht groß. Sie besuchte dieselben der Reihe nach. Man empfing sie überall auf das Liebenswürdigste und versprach ihr die Erwiderung ihres Besuches. Estelle gegenüber benahm man sich anders. Die einen erkundigten sich mit schlecht verhehlter Neugierde nach ihr, die anderen bemühten sich, möglichst wenig von ihr zu sprechen. Mit einem Worte, Frau von Montelar machte überall die Wahrnehmung, daß ihre Nichte schwer kompromittiert sei.
»Hören Sie mich an, was ich Ihnen sage,« sprach sie zu einer ihrer ältesten Freundinnen, die sie in Saint-Germain besuchte: »wir kennen uns seit einigen vierzig Jahren, und Sie wissen hoffentlich, daß man mich nehmen muß, wie ich bin. Und ich lebe mit meiner Nichte, habe sie unter meinen Schutz gestellt und das wird so bleiben. Wenn Sie mich also lieben, müssen Sie uns beide völlig gleichförmig empfangen.«
»Meine liebe Frau von Montelar,« erwiderte die andere, »ich werde ebenso freimütig sprechen wie Sie. Wenn ich allein stehen würde, so würde ich der Welt entgegentreten und mich Ihnen anschließen. Ich habe aber eine verheiratete Tochter und eine Schwiegertochter. Diese zwei jungen Frauen kann ich nicht derartigen Unannehmlichkeiten aussetzen, von welchen man nicht wissen kann, wohin sie führen. Ich werde Sie sehr gerne besuchen, wenn Sie Ihren Empfangstag haben; doch fordern Sie nicht von mir, meine Tochter oder Schwiegertochter mit mir zu bringen.«
»Und ich soll meine Nichte nicht mit mir hierherbringen, ... ich verstehe,« entgegnete Frau von Montelar. »Vor einem Jahre oder einem halben Jahre hätten mich solche Worte erzürnt; seither habe ich aber gelernt, nachsichtig gegen derlei kleine – Schwächen zu sein, und ich muß hinzufügen, daß ich dies von Frau von Bertolles gelernt habe. Ich werde mich daher Ihrer Worte wegen gar nicht mit Ihnen entzweien; ja, ich danke Ihnen sogar dafür, daß Sie mich hoch genug achten, um nicht gänzlich mit mir zu brechen. Dessenungeachtet darf ich hoffen, daß Sie bei meinem Alter und nach unserer vierzigjährigen Freundschaft nicht glauben werden, daß ich in eine Frau verliebt bin, die meiner Achtung unwürdig ist, denn wenn ich gut verstanden habe, so ist ungefähr dies Ihre Auffassung.«
Nach einigem Zögern kam tatsächlich dies ans Tageslicht.
»Nun denn, meine Liebe, ich wünsche natürlich nicht, daß sich eine derartige Katastrophe jemals in Ihrer Familie ereignen möge; wenn dies aber doch einmal der Fall sein sollte, so wünsche ich Ihnen, Sie mögen es mit einer Frau zu tun haben wie meine Nichte. Und wenn Sie so freundlich sein wollen, mich zu besuchen, so werde ich Sie stets gerne sehen.«
Nach zweien oder dreien solcher Versuche hätte sich Frau v. Montelar eine ganz nette Kollektion solcher Personen zusammenstellen können, die bereit waren, ihr ein aufrichtiges Bedauern zu offenbaren, bekanntlich eine der verletzendsten Formen des Uebelwollens.
Sie war sich der Unhaltbarkeit ihrer Lage wohl bewußt. In einer Familie, die bloß einen männlichen Sproß besitzt, stürzt alles zusammen, wenn derselbe stirbt, und dies wäre das Los der Familie Bertolles gewesen, auch wenn Raymond keines so gräßlichen Todes gestorben wäre. Zwei alleinstehende Frauen bedürfen der Unterstützung eines männlichen Armes, und eine solche Stütze gab es für sie nicht.
Und nun, da sie sich nicht mehr zu helfen wußte und ohne gar Estelle zu fragen, die ihre Ansicht sicherlich nicht geteilt hätte, richtete Frau von Montelar einen langen Brief an Benois, worin sie ihn bat, sie zu besuchen, da sie mit ihm zu sprechen wünsche.
»Sie,« lautete eine Stelle des Briefes, »waren der beste Freund Raymonds, und hierauf gestützt, bitte ich Sie, kommen Sie mir, die ich bei ihm Mutterstelle vertrat, und seiner Witwe zu Hilfe.«
Als Benois diesen Brief erhielt, war die Weinlese im besten Gange. Nachdem er eine halbe Stunde etwa nachgedacht, suchte er seine Mutter auf, die, auf einem Strohsessel sitzend, die Arbeiter beaufsichtigte, die, unter der Last der hochgefüllten Gefäße gebückt, in langen Reihen nach dem Preßhause zogen.
»Mutter,« sprach er mit kindlicher Zärtlichkeit, die seinen männlichen Lippen gut anstand, »möchtest du dies nicht lesen?«
Und damit reichte er ihr den Brief hin.
Die alte Frau blickte »ihr Söhnchen« an, das den Kopf abwendete. Sie nahm den Brief und durchlas ihn langsam und aufmerksam. Nicht etwa, als hätte es ihr Schwierigkeiten bereitet, die großen Schriftzüge der Frau von Montelar zu entziffern, sondern weil sie sich über jedes, selbst das unbedeutendste Wort klar werden wollte.
»Ich denke, mein Sohn,« sprach sie und reichte ihm den zusammengefalteten Brief zurück, »daß dort Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten deiner warten. Doch weißt du, was ich dir gesagt: ich glaube nicht, daß die Witwe deines verstorbenen Freundes schuldig ist. Ihre Tante glaubt es auch nicht, und ich denke, daß wir beide doch recht haben. Obschon wir jetzt inmitten der größten Arbeit sind und ich dich nur schwer werde entbehren können, so leiste dem Rufe dennoch Folge und bringe in Erfahrung, was man von dir will; tue alles, was du kannst. Jene Damen stehen allein in der Welt da, und sie sind nicht nur verlassen, sondern werden von den Leuten schlecht behandelt. Sei ein Mann und vor allem: sei gerecht. Dann aber kehre zurück, sobald du zurückkehren kannst, denn es gibt riesig viel Arbeit, und ich bin schon zu alt, um alles allein zu besorgen wie früher.«
Sie beobachtete dabei die Arbeiter, deren Reihe ununterbrochen nach aufwärts zog, um dann raschen Schrittes, lachend und scherzend, zwischen die Reben zurückzukehren.
»Ich verstehe, Mutter,« sagte Benois und neigte sich zärtlich über sie, »und ich danke dir.«
»Warte, mein Sohn, noch ein Wort. Ich sagte vorhin, daß dort deiner Unannehmlichkeiten harren. Ich füge hinzu, daß diese Unannehmlichkeiten verschiedener Natur sein werden. Jene Dame gehört einer vornehmen Familie an und wird sich nicht sonderlich um dich kümmern.«
»Bah, Mutter,« unterbrach sie der Sohn ein wenig rauh, »davon ist ja keine Rede. Ich sagte ja schon, daß ich von jenem Gedanken nicht loskommen kann. Und sie weiß das sehr gut. Ich kann mir keine Achtung aufdrängen; doch weiß ich bestimmt, daß sie mich nicht leiden kann.«
»Wohlan, mein Sohn, trage dein Geschick. Und wenn es dich zu sehr drückt, so komme nach Hause und klage es deiner Mutter. Trösten wird sie dich nicht können, denn bei einem solchen Leid hilft kein Trost: aber lieben wird sie dich, und das ist's, was hilft.«
Vor den vielen lustigen Dirnen und Gesellen konnten sie einander nicht umarmen; sie blickten sich daher nur lange und zärtlich an.
»Ich reise mit dem um fünf Uhr abgehenden Zug,« sagte Theodor, »jetzt ist es vier Uhr, ich habe noch Zeit.«
Er begab sich in das Haus und trat alsbald reisefertig wieder aus demselben heraus. Den kastanienbraunen Samtanzug, welchen die Jäger und Grundbesitzer zu tragen pflegen, hatte er gegen ein mit Pariser Geschmack angefertigtes regelrechtes Herrenkostüm vertauscht.
»Ich sehe dich lieber als Farmer,« sagte seine Mutter, als sie ihn erblickte. »In diesem Anzug bist du mir zu vornehm, als Farmer aber mehr der Sohn deiner Eltern.«
»Ich bin und bleibe stets dein Sohn, Mutter,« sagte er und küßte sie zum Abschied.
Die Arbeiter blieben an der Schwelle des Preßhauses stehen, als sie eine Reisetasche in seiner Hand erblickten.
»Lebt wohl, Kinder,« rief er ihnen mit lauter Stimme zu. »Die Sonne steht noch hoch am Himmel: ihr könnt bis zum Abend noch viel Stoff in Sicherheit bringen.«
Sie erwiderten heiter seinen Gruß, und die Mädchen verschwanden von neuem zwischen den Weinstöcken.
»Morgen oder später kommst du zurück,« sagte seine Mutter zu ihm, während sie ihn hinausbegleitete. »Du weißt, was du zu tun hast. Mehr habe ich dir nicht zu sagen.«
Mit einem Ausdruck unendlicher Zärtlichkeit blickte Theodor sie aus seinen schönen Augen an.
»Du bist eine wahrhaft gute Frau,« sprach er leisen Tones zu ihr, »mein Vater wurde beglückt durch dich, und ich bin stolz, daß ich dein Sohn bin. Gehe, meine Mutter, und regiere über dieses Volk, welches dich liebt und ehrt. Mit deiner Leinwandhaube bist du viel mehr Königin als jene, die eine Krone tragen.«
Er küßte sie noch einmal und blickte ihr nach, wie sie den Abhang hinanschritt. Flinken Schrittes kehrte die alte Frau zu dem Preßhause zurück, unterwegs ein ermunterndes Wort an den einen, ein strafendes Wort an den andern Arbeiter richtend, doch stets mit demselben ruhigen, sich gleichbleibenden Ernste. Dann setzte sie sich zwischen den Körben und den Stößen von Weintrauben nieder, und in dem goldenen Schimmer, den die sinkende Sonne um sie her verbreitete, glich sie einer mit der ganzen Pracht ihrer Feldgottheit umschlossenen Dorf-Pomona.
»Meine teure, gute, angebetene Mutter!« sprach Theodor mit heiliger Andacht.
Das Dampfroß tauchte an der Krümmung der Loire auf: sein weißer Rauchkranz vermengte sich mit dem Laub der Bäume. Die Dampfpfeife ertönte, deren scharfe Töne das Echo des Hügelgeländes erweckten.
Benois machte sich hastig auf den Weg, langte mit dem Zuge gleichzeitig auf der Station an, und im nächsten Augenblicke rollte er bereits gen Paris, während die schwindenden Strahlen der Sonne die Weinberge in ein goldiges Licht tauchten.