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Die sich jetzt aufdrängende Frage war die, ob sie sich zurückziehen sollten, um keinen neuerlichen Beleidigungen ausgesetzt zu sein, oder ob sie der Verleumdung keck entgegentreten und dieselbe ostentativ verachten sollten.
Frau von Montelar war der letzteren Ansicht.
»Wie?« sagte sie. »Du wolltest vor diesen bösen Zungen die Flucht ergreifen? Ihnen die Ehre erweisen, ihrem Geschwätz Bedeutung beizulegen? Aber, liebes Kind, diese Leute sind uns ja soviel, als wären sie gar nicht auf der Welt! Was kümmern wir uns um ihre Meinung?«
»Für uns sind sie nicht auf der Welt,« erwiderte Estelle traurig, »wir aber für sie doch. Sie kümmern sich viel zu sehr um unser Tun und Lassen. Sie sind zu Tausenden, wir sind nur unserer zwei.«
»Ei!« sprach Frau von Montelar ein wenig gereizt; »man sollte meinen, wir seien tatsächlich allein auf der Welt, gleich dem an seinen Felsen gefesselten Prometeus! Wir haben unsere Freunde in Paris, und sobald wir dahin zurückkehren, sammeln wir sie um uns. Inzwischen glaube ich aber, daß Baronin Polrey, die sich im Laufe des Sommers nicht sonderlich viel um dich kümmerte, endlich ein Lebenszeichen von sich geben und dich zu sich einladen dürfte.«
Estelle nahm einen Brief vom Schreibtisch, der tags vorher angelangt war, und reichte ihn ihrer Tante hin.
Es war ein Brief der Baronin, die, auf Estellens Brief antwortend, worin sie sie von ihrem Aufenthalte in Saint-Aubin in Kenntnis setzte, sie beglückwünschte, daß sie einen stillen Ort gefunden, wo sie, jedes Aufsehen vermeidend, die ersten Monate ihrer Witwenschaft verbringen könne.
»Ich hätte es zwar gerne gesehen,« schrieb sie zum Schluß, »wenn du zu uns gekommen wärest; doch wird es während der Weinlese in unserem Hause von Gästen wimmeln, und da auch die Jagd heuer sehr früh beginnt, so wird es bei uns so lebhaft und geräuschvoll zugehen, daß das mit deiner Trauer gar nicht im Einklang stünde. Sage also meiner guten Frau von Montelar, daß ich dafür nächsten Herbst um so bestimmter auf Euch rechne.«
Frau von Montelar mußte ihren Kneifer wiederholt auf ihrer Nase zurechtrücken, bis es ihr gelang, diese Zeilen zu Ende zu lesen. Ihr Blut kochte im wahren Sinne des Wortes, in solchem Grade hatte sie die ruhige Unverschämtheit erregt.
»Deutlicher und verständlicher kann man den Menschen schon nicht hinauswerfen,« sagte sie, indem sie Estelle den Brief zurückgab. »Ich werde ihr schon zeigen, wie schade es ist, sich mit den Leuten zu entzweien, auf die man angewiesen ist. Ihre drei Töchter sind, gottlob, noch nicht verheiratet, und die gute Baronin wird meiner Dienste noch sehr oft bedürfen. Doch sei versichert, daß sie geschlossene Türen antreffen wird! Hast du ihr vielleicht gesagt, daß du sie besuchen würdest?«
»Nein,« erwiderte Estelle, »doch fürchtet sie sich derart vor meinem Besuch, daß sie diese Vorsichtsmaßregeln für geboten hielt.«
»Welche Fürsorge!« spottete Frau von Montelar. »Wohlan, mein liebes Kind, wenn du meinem Rate folgen willst, so bleiben wir noch zwei oder drei Tage hier, damit dieses Gelichter nicht sagen könne, wir hätten vor ihm Reißaus genommen; dann wollen wir eine Reise antreten und hübsch gemächlich die Normandie und Bretagne durchziehen. Und wenn wir dann im Oktober nach Paris kommen, wollen wir erfahrenere Leute zu Rate ziehen.«
Estelle setzte sich neben sie und blickte sie zärtlich, bedauernd an.
»Liebe Tante,« sagte sie milden Tones, »Sie sind so gut, so edel. Ich aber glaube, daß es am vernünftigsten wäre, Sie von mir zu befreien und Sie Ihren Bekannten, Ihren Gewohnheiten, Ihrer regelmäßigen Lebensweise wiederzugeben. Im Grunde genommen bin ich ja Ihre Nichte gar nicht, wenngleich Sie mir diesen Namen beilegen. Sie kennen mich kaum in der Weise, wie man junge Mädchen in der Gesellschaft kennen zu lernen pflegt; und ich, die ich auf Ihre liebenden Gefühle keinerlei Anspruch erheben darf, bereite Ihnen soviel Aerger und Kummer, wie Sie noch nie im Leben erfahren. Wenn Sie also gestatten würden –«
»Du willst in ein Kloster treten?« unterbrach sie die alte Frau.
»Nein; hierzu verspüre ich in mir, offen gestanden, zu wenig Kraft,« erwiderte Estelle. »Es ist noch gar nicht lange her, daß ich das klösterliche Erziehungsinstitut verließ, und ein tiefes Bangen würde mich überkommen, wenn ich zu den Erinnerungen meiner Jugend zurückkehrte. Doch könnte ich nicht allein und bescheiden leben, wie es mit meiner Witwenschaft im Einklange stände?«
»Davon kann gar keine Rede sein!« sprach Frau von Montelar entschiedenen Tones. »Der Name, den du trägst, gestattet dir niemals solch eine unabhängige Lebensweise, die dir nur zum Schaden gereichen würde. Wir hatten davon geträumt, daß wir Verwandte in Frohsinn und Freude sein werden; das Verhängnis fügte es, daß diese Verwandtschaft der Urquell von Schmerzen wurde. Ergeben wir uns in dasselbe. Du bleibst bei mir, Estelle, so lange ich lebe. Weiterhin wird – dir der liebe Gott schon beistehen. Im übrigen,« fügte sie lächelnd hinzu, »habe ich dich viel lieber gewonnen, Estelle, als ich jemals gedacht hätte. Gar vieles an dir erinnert mich an Raymond und noch an jemanden, doch weiß ich nicht, an wen. Zwischen meinem und deinem Charakter herrschen viele Aehnlichkeiten. Mit einem Worte, ich hätte gewünscht, du mögest meine Tochter sein, so wie du bist. Sprich also nicht davon, mich zu verlassen.«
Estelle neigte sich über die schöne weiße Hand ihrer mütterlichen Freundin und küßte dieselbe ehrfurchtsvoll, während diese sie in die Arme schloß. Dann schieden sie von einander.
Sie konnten ihren Plan ohne Mühe verwirklichen. Bolvin reiste am nächsten Tage nach Paris zurück, äußerst aufgebracht über den Streich der Frau Barrière, den er nicht vorauszusehen vermochte. Aber auch Frau Barrière war sehr erschrocken; sie hatte nicht gedacht, daß ihre Verschlagenheit solche Folgen nach sich ziehen und ihr die übrigen blindlings nachkommen würden wie die Schafe dem Leithammel. Und nun gewahrte sie mit einem Male, daß sie für alles verantwortlich sei, was geschehen mochte.
Seit der Abreise Bolvins mußte sie von ihrer älteren Tochter fortwährend Vorwürfe anhören, und um die Aufmerksamkeit abzulenken, mußte sie Ausflüge veranstalten, damit die häufigen Begegnungen am Strande vermieden würden. Der unüberlegte Streich hatte jedermann erschreckt, und dies war der Grund, weshalb die beiden Frauen beim Verlassen von Saint-Aubin schon von allgemeiner Achtung umgeben waren und in den zurückbleibenden Badegästen ein Gefühl der Beschämung zurückließen, welches auf ein Haar Gewissensbissen glich.
Nach drei, vier Tagen fand Estelle bereits ein Vergnügen am Reisen. Unnütze Anstrengungen vermeidend, versäumte sie nichts, was in Wirklichkeit interessant war, und Frau von Montelar erwies sich in dieser Beziehung als ausgezeichnete Führerin, die in erster Linie darauf bedacht war, ihrer Reisegefährtin Zerstreuung zu bieten. Andererseits bemühte sich Estelle redlich, sich alles anzueignen, was ihr neu war. Unter der oberflächlichen Leitung der Baronin Polrey hatte sie sehr wenig gesehen, und nun lernte und instruierte sie sich nur um so lieber.
Sie besichtigten die alten Burgen, romantischen Kirchen und verschiedenen sonstigen Ruinen, die in der Normandie so häufig sind, und dann nahmen sie die Richtung nach dem Berge des Sankt-Michael, teils mit der Bahn, teils zu Wagen, wie es eben die Umstände oder ihre Lust mit sich brachten.
Eines Nachmittags fuhren sie in einer alten zweispännigen Kutsche über die Ebene von Jessay; sie hatten die wundervolle, in romanischem Stil gehaltene Abtei besucht und fuhren jetzt gen Contances. Ringsumher dehnte sich die mit Stechpalmen bedeckte Ebene aus, die einem wogenden Meere glich. Estelle atmete voll Wonne den feinen durchdringenden Duft des Thymians und Lavendels ein, welcher diese Gegend charakterisiert.
»Ich weiß nicht,« bemerkte sie auf einmal, »weshalb mir Rosalie, die Kammerfrau meiner Mutter, in den Sinn kommt. Vielleicht, weil ich die Vorstellung an sie mit einer solchen Einöde in Verbindung bringe, die ich zwar niemals gesehen, deren sie aber häufig Erwähnung tat.«
»Wohnte sie in dieser Gegend?« fragte Frau von Montelar.
»Nein, sie wohnte in der Bretagne irgendwo. Doch habe ich bereits vergessen, wo das gewesen ist, obschon sie es mir gesagt hat. Ich habe überhaupt so vieles aus meiner Kindheit vergessen und vermochte mich niemals an sie zu erinnern.«
Sie hatten endlich die freie Ebene verlassen und die Türme des Gotteshauses von Contances hoben sich, von einem Glorienschein umwallt, von dem im Sonnenuntergang goldig schimmernden Himmel ab.
Nachdem sich die Damen in einem entsprechenden Gasthofe einlogiert hatten, begaben sie sich in die herrliche Kirche, welche eine der vollkommensten der Welt ist.
Obschon es bereits ziemlich spät war, empfahl ihnen der Sakristan dennoch, den Turm zu besteigen, um den Untergang der Sonne zu bewundern. Frau von Montelar, die schon müde war, weigerte sich, dies zu tun, beredete aber ihre Nichte, allein hinaufzugehen. Estelle befolgte den Rat und schritt hinter ihrem Führer langsam die in die Mauer eingefügten Treppen empor, wobei sie nur dann gewahrte, daß sie immer höher gelangte, wenn sie an einer Oeffnung vorüberkam, durch die ein gelbliches Licht hereindrang.
Endlich hatte sie die Turmspitze erreicht und stand nun in der strahlenden Unendlichkeit da.
Es schien ihr, als wäre sie mit einem Flügelschlage des Rausches mit einem Male inmitten der azurblauen Fläche entführt worden. Neben ihr die schmale steinerne Balustrade, unter ihr die Stadt, die in einem Meer von Rauch und grauer Dämmerung halb verschwommen dalag, über ihr der blaßblaue, reine Himmel, ringsherum der verdunkelte Horizont, in welchem Wälder und Dünste in fahlen Linien verschwommen, und vor ihr der westliche Himmel, einem feurigen Ofen vergleichbar, mit flammendroten Flecken untermengt, gleich dem geschmolzenen Glase. Es war das Meer, auf welchem die kleinen Inseln gleich dunklen Flecken erschienen. Und das Ganze umwallte ein purpurner und violettfarbener Nebel, der allmählich Ort und Farbe veränderte.
Ein melancholisches Gefühl bemächtigte sich Estellens. Indem sie in das Flammenmeer vor sich starrte, dachte sie an die indischen Witwen, die sich neben dem Leichnam des Gatten lebend verbrennen. In der Ferne erschien eine große Insel in der Gestalt eines riesigen Mausoleums. Wäre sie nicht am liebsten mit Raymond in diesem gemeinsamen Aufflammen der Erde und des Himmels untergegangen? Wohl hatte sie keine Liebe für ihn empfunden; – wissen aber jene Witwen, die fast noch Kinder sind, was die Liebe ist?
»Ebensowenig wie ich,« sagte sie sich mit einem gewissen bedauernden Empfinden.
Sie sog Herz und Auge mit dem unvergleichlichen Anblicke voll; doch mußte sie hinuntergehen, sonst konnte sie auf der finsteren Treppe noch Schaden nehmen. Bedauernd wandte sie den Kopf ab, und nach einem schier endlosen Weg hatte sie die Steinfliesen des Kirchenschiffes erreicht.
Nach dem strahlenden Glanze des Himmels erschien ihr die Kirche überaus finster. Nur mit Mühe entdeckte Estelle Frau von Montelar, die in einem Stuhle eingeschlummert war. Ein bemaltes Fenster aus dem 16. Jahrhundert, durch welches noch ein schwacher Lichtschimmer drang, stellte eine Gruppe bereuender Sünder dar. Nackt, mit gefalteten Händen standen sie vor dem Tore des Himmelreiches, und ihre leidenden Mienen hatten einen so starken Ausdruck des Flehens und der Angst, daß Estelle ihr Blut in den Adern erstarren fühlte.
Während sie das Auge von diesem Bilde abwendete, fiel ihr Blick auf eine kniende Gestalt, die nur einige Schritte von ihr entfernt war.
Es war eine alte Frau, die nach normannischer Art in den faltenreichen Mantel der Witwen und Waisen gehüllt war, dessen tiefe schwarze Kapuze ihr über den Kopf gezogen war und selbst ihre Stirne halb verdeckte.
Estelle, der diese priesterhafte, feierliche Tracht auffiel, blieb stehen. Jetzt hob sie das von den schwarzen Fallen umrahmte Gesicht empor, und Estelle sah zwei dunkle Augen auf sich und ihr Trauergewand gerichtet.
Diese Augen nahmen, während sie sich forschend auf ihr Gesicht hefteten, mit einem Male einen erschrockenen Ausdruck an: die Züge des Gesichtes zogen sich zusammen und wurden jenen auf dem Glasgemälde sichtbaren so ähnlich, daß Estelle davor erschrak.
Zeit und Ort erfüllten sie mit einer Art heiliger Scheu, und während sie in jenen schmerzlich verzogenen Zügen zu lesen suchte, tauchte eine längst vergessene Gestalt in ihrer Erinnerung auf.
»Rosalie!« murmelte sie leise und streckte die Hand aus.
Die schwarzgekleidete Frauengestalt huschte zwischen den Bänken weiter und verschwand schweigend in der Dunkelheit.
Estelle strich sich mit der Hand über die flimmernden Augen, kehrte zu ihrer Tante zurück und führte sie ins Freie.
»Du siehst erregt aus,« sagte Frau von Montelar.
»Ich glaube, daß ich die einstmalige Kammerfrau meiner Mutter gesehen habe,« erwiderte Estelle. »Vielleicht war das Ganze bloß ein Spiel meiner aufgeregten Phantasie.«