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X.

Als der Staatsanwalt Benois den Rat gegeben hatte, er möge den geheimnisvollen Briefumschlag verwahren, war dem jungen Manne dieser Rat sehr natürlich erschienen. Unter den Freunden des verstorbenen Raymond de Bertolles war er tatsächlich der einzige, der es unternommen hatte, die dem Selbstmord zugrunde liegenden Ursachen zu erforschen. Die Familie wurde faktisch nur durch die junge Witwe und Frau von Montelar repräsentiert, denn die wenigen männlichen Verwandten, die vorhanden waren, standen dem Verblichenen ganz fern und kümmerten sich so wenig als möglich um die ganze Sache.

Frau von Montelar befand sich aber nicht in der Verfassung, um die Nachforschungen zu betreiben, und was die junge Witwe anbetraf – –

Hierin lag der Fehler von Benois' Erwähnungen, Estelle hätte die erste sein müssen: sie hätte zu den Nachforschungen nicht nur raten, sondern dieselben sogar fordern müssen. Benois aber war nicht geneigt, das ihr zu überlassen.

Er war nicht geneigt dazu, und darum aufs höchste erbost, zugleich wünschte er aber von ganzem Herzen, Estelle möge ihn selbst auffordern, die begonnene Aufgabe fortzusetzen. Er wünschte es – – für wen denn? Seiner selbst willen? Er bedurfte keiner besonderen Aufforderung, um seine Nachforschungen eifrig fortzusetzen, zu welchen ihn im übrigen eine gewisse natürliche Neugierde auch antrieb. Demnach Estelles wegen?

Ja, ihretwegen! Ist es denn nicht die Pflicht der Witwe, alles mögliche aufzubieten, um in Erfahrung zu bringen, welche unvorsichtige oder verbrecherische Hand sie am Tage ihrer Vermählung zur Witwe gemacht! Und siehe, sie spricht nichts, ja, sie forscht nicht einmal nach! Frau von Montelar schrieb ihm wiederholt, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, während Estelle kein Lebenszeichen von sich gab.

Und es war doch, Gott weiß, eine schwierige Sache!

Schwierig in der Tat, denn die Nachforschungen, denen keinerlei bestimmte Frage zur Basis diente – denn bezüglich des Selbstmordes selbst obwaltete ja kein Zweifel – konnten nur von jenen Personen geführt werden, deren Interesse es erheischte, die Motive der unseligen Tat zu ergründen. Weshalb also erkundigte sich Estelle nicht? Wessen Interessen erheischten es mehr, die Wahrheit zu erforschen?

Diese und ähnliche, wenngleich weniger klar abgeleitete Kalkulationen ließen Benois den endgültigen Entschluß fassen, den Briefumschlag aufzubewahren. Doch kaum hatte er denselben achtundvierzig Stunden in seiner Brieftasche verwahrt, als er bereits bereute, daß er ihn nicht seiner rechtmäßigen Eigentümerin, der Witwe selbst, zurückgegeben.

Als er am Morgen des dritten Tages sein Lager verließ, beschloß er, ihr den Umschlag sofort zu überbringen, das heißt, sobald es die Besuchsstunde gestattet.

»Ich will von der ganzen Sache nichts mehr wissen,« sagte er sich. »Offen gestanden, weiß ich gar nicht, weshalb ich mich in die Angelegenheit mengte, die mich ja eigentlich gar nichts angeht. Mein Freund Raymond hat geheiratet und sich an seinem Hochzeitstage erschossen. Kein Zweifel, dies ist eine sehr traurige Sache. Und als sein Freund bedauere ich auch Raymond von ganzem Herzen. Doch was in des Teufels Namen kümmere ich mich um den Schmerz der Witwe, die ich ja kaum kenne und die sich mir gegenüber sehr unangenehm, beinahe grob benahm? Welchen Haß kann ich gegen eine Frau empfinden, die mir nichts und niemand ist? Weshalb also soll ich in einer Weise zu Werke gehen, als wollte ich ihren Schaden? Ich weiß gar nicht, wo ich meinen Kopf gelassen! Machen wir dem Ganzen noch heute ein Ende.«

Kein Zweifel, dies war sehr klug gedacht. Indessen erhielt er mit der Morgenpost einen Brief von Frau von Montelar, die ihr Bedauern darüber ausdrückte, daß sie ihn schon lange nicht gesehen und ihm mitteilte, daß sie während der Sommermonate in Saumeray Aufenthalt zu nehmen gedenke. Er möge sie dort besuchen, wenn er ihr etwas mitzuteilen oder überhaupt Lust dazu hätte.

Benois ward von Wut erfaßt, als er diesen Brief durchlas. Gleich allen Leuten, die sich nicht zur rechten Zeit zu entscheiden vermögen, beschuldigte er das Schicksal, daß es gegen ihn sei und schimpfte wie ein Rohrspatz darüber.

Es ist eine sehr heilsame Sache, das Schicksal zu schmähen, wenn man zornig ist, denn das beruhigt die Nerven; schließlich aber ist es die reinste Zeitverschwendung. Eine Viertelstunde später hatte Benois denn auch diese Wahrnehmung gemacht.

Er selbst war der Schuldige! Weshalb war er nicht sofort ins Palais Bertolles gegangen, als er den Anwalt verlassen? Er war ja unwillkürlich dort vorübergegangen, als er während des Gehens darüber nachdachte, was er jetzt anfangen solle. Nun kann er nichts anderes tun, als die Briefe und jenen Umschlag schön in Papier einschlagen und noch heute nach Saumeray senden.

Jawohl, doch hat Frau von Montelar nie etwas von jenem Umschlag gehört und die Witwe ebensowenig. Es ist demnach seine Pflicht, die Beiden von der hohen Wichtigkeit des Briefumschlages in Kenntnis zu setzen. Und wie sollte dies auf brieflichem Wege geschehen? Und wie eine Erklärung dafür finden, daß er bis heute darüber geschwiegen?

Benois gelangte zu der Wahrnehmung, daß es eine schwierige Sache sei, die Rolle des freiwilligen Untersuchungsrichters zu spielen, und nun schalt er sich selbst, daß er sich einer derartigen Aufgabe unterzogen. Er konnte nichts anderes tun, als Briefe und Umschlag zu behalten, bis er mit den beiden Frauen selbst zusammenkommen würde. Schließlich ändert dieser Aufschub nichts am Stande der Dinge, und inzwischen – – wer weiß, kann er vielleicht irgendwelche Entdeckung machen!

Derart beruhigt, unternahm Benois einen Spaziergang in die Stadt, und gegen vier Uhr sagte er sich, als empfände er das Bedürfnis einer kleinen, seelischen Erholung, daß es gut wäre, seine Mutter zu besuchen.

Die alte Frau Benois war eine sehr originelle Person. Sie war die Tochter eines reichen Weingartenbesitzers in Anjou und heiratete einen vermögenslosen Weingartenbesitzer, dessen Familie vom Weinschwamm zugrunde gerichtet worden war, noch bevor man von der Phylloxera Kenntnis hatte. Freudig und mit einer Empfindung der Achtung gab das Mädchen ihr Vermögen dem zugrunde gegangenen jungen Farmer hin, von dem sie wußte, daß er klug und arbeitsam sei – – und dann weil (und dies war mehr wert als alles andere) sie ihn liebte.

In der ganzen Gegend besaßen nur sie allein den Mut, die Rebenkultur eines ganzen Jahres in die Schanze zu schlagen und die Verbesserung des Bodens gründlich vorzunehmen, was ihnen auch vollkommen gelang.

»Freilich!« sagten die übrigen Farmer: »wenn man Geld hat und abwarten kann!«

Das Resultat war ein überraschendes. In wenigen Jahren hatte sich das Vermögen der Benois verdreifacht. Sie bekamen einen Sohn, der einzig blieb.

»Er soll Soldat werden,« sagte der Vater.

Theodor legte die Prüfungen mit gutem Erfolg ab und verließ Saint-Cyr zu gleicher Zeit mit Raymond, mit dem er bereits damals innige Freundschaft geschlossen. Der Sohn des Generals harmonierte ganz gut mit dem Sohne des Weinbauers: sie glichen einander in vielem und ebenso in vielem nicht und diese Gegensätze brachten sie einander noch näher.

Als der alte Benois starb, betrieb die Witwe den Weinbau auf eigene Faust weiter und es erging ihr damit durchaus nicht schlechter. Nach mehrjähriger Dienstzeit verließ Theodor das Offizierkorps, in welchem man ihn als braven Soldaten schätzte, ohne daß er hierzu aber einen besonderen Beruf bekundet hätte. Er warf sich auf das Studium des wissenschaftlich betriebenen Weinbaues, um den neuen Feind bekämpfen zu können, den man damals kennen zu lernen begann. So kam es, daß er den Winter in Paris verbrachte und nach Vouvray erst zurückkehrte, wenn seine Mutter seiner bedurfte.

Obschon jetzt keinerlei besonderer Grund vorlag, um nach Hause zu gehen, empfand er dennoch das Bedürfnis, ein liebendes Gesicht zu sehen und in aufrichtige, wohlmeinende Augen zu blicken. Der zweiunddreißigjährige Mann, der eine sehr mittelmäßige Erziehung genossen, sehnte sich mit einem Male danach, geliebkost und verhätschelt zu werden, wie im zarten Kindesalter, wenn ihn einer seiner Kameraden geprügelt oder sonstwie beleidigt hatte. Bei solchen Anlässen geht der Knabe sorgfältig gewaschen und getrocknet nach Hause und verrät um keinen Preis, was vorgefallen; doch wenn der Junge den Kopf schmeichelnd an die Schürze oder den Brustlatz (je nach seiner Größe nämlich) der Mutter reibt, fragt sie ihn sofort, denn man ist nicht umsonst Mutter:

»Was ist dir, mein Junge?«

»Gar nichts, Mutter: küsse mich nur.«

Benois sah, daß er bei entsprechender Eile am Abend schon daheim sein könne. Seine Vorbereitungen waren alsbald getroffen und gleich darauf saß er in dem nach Orleans rollenden Zuge.

Als er den Zug verließ, war es bereits finstere Nacht. Nur einige Sterne, welche zerstreut auf der endlosen Samtfläche schimmerten, wiesen ihm den Weg, den er auch mit geschlossenen Augen gefunden hätte. Und so langte er bei dem großen Tore an, ohne daß er ein einziges Mal an die Steine des Hügelabhanges gestoßen wäre.

Er nahm den Schlüssel aus der Tasche, den er für alle Fälle bei sich hatte, schloß die kleine Türe auf, welche sich aus dem großen Tore öffnete, und trat in den Hof. Der große Haushund erkannte ihn sofort, denn er streckte sich gähnend und zufrieden vor seiner Hütte und wedelte dabei freudig erregt mit dem Schweife.

»Ja, ja, Pollux, ich bin's, der Herr.«

Der Hund streckte den krausen Kopf vor, um die ihm gebührende Liebkosung in Empfang zu nehmen und verschwand dann kettenklirrend in seinem Häuschen. Hinter den Scheiben war Licht und das Fenster wurde sofort geöffnet. Ein Frauenkopf mit weißer Haube zeigte sich in dem hellerleuchteten Viereck.

»Du bist's, Theodor?« fragte die Mutter so ruhig, als hätten sie sich erst gestern gesehen.

»Ja, Mutter. Kommen Sie nicht herunter: ich habe den Schlüssel bei mir und brauche auch keine Kerze.«

»So komm herauf,« sprach Frau Benois und schloß das Fenster.

Im nächsten Augenblick standen sie einander bereits in dem hohen, geräumigen Treppenhause gegenüber, dessen aus mächtigen Eichenpflöcken geschnitztes Treppengeländer schon zahlreiche Weinbauergenerationen kommen und gehen gesehen.

»Guten Abend, Mutter,« sagte Theodor und küßte sie.

»Gott zum Gruß,« versetzte diese, den Kuß erwidernd.

Sie mußte sich an die Ränder seines Ueberrockes klammern, um seine Lippen zu erreichen, denn sie war klein gewachsen, und der Sohn mußte sich tief hinabneigen.

»Was ist dir eingefallen, hierherzukommen?« fragte die Mutter zärtlich, nachdem sich Theodor im Zimmer auf einen Strohsessel neben dem runden Tische niedergelassen hatte, auf welchem zwei Kerzen brannten. Frau Benois hatte dieselben soeben an der Flamme des auf dem Kamin stehenden altsilbernen Armleuchters angezündet.

»Bist du krank?«

»Nein, liebe Mutter,« erwiderte Theodor, der für seine unerwartete Heimkehr keine Erklärung abzugeben vermochte.

Seine Mutter blickte ihn mit den hellen Augen an, in welchen sich der Scharfblick der einfachen Bäuerin mit der Zärtlichkeit der Mutter paarte.

»Du bist nicht krank, es geht dir gut! Was ist dir also, mein Junge?«

»Nichts, liebe Mutter,« erwiderte der große Sohn und schloß die vierschrötige Gestalt der alten Frau in die Arme: »darum aber küsse mich nur.«


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