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Der Eisenbahnzug entführte Estelle und ihren Freund durch die Nacht. Allein saßen sie in ihrem Kupee 1. Klasse, – allein, zum ersten Male allein, seitdem sie wußten, daß sie einander liebten.
Sie saßen einander gegenüber. Estelle neigte ihren Kopf zurück und trachtete einzuschlafen. Doch nach wenigen Minuten öffnete sie die Augen, und dabei begegnete sie dem Blicke Benois', der mit einem Ausdruck der Zärtlichkeit an ihr hing, der sie tief rührte.
Benois wollte sprechen: doch war das Gerassel des Zuges so stark, daß man einander nicht hören konnte. Der junge Mann verließ seinen Platz und setzte sich neben Estelle, worauf beide schweigend durch das Fenster auf die vorübereilenden Wälder und Wiesen der Bretagne hinausblickten, welche die Mondsichel mit einem schwachen Lichtschimmer übergoß.
Die milde, laue Wärme der Frühlingsnacht durchschauerte sie, die blühenden Thymian- und Aurikelstauden glänzten in großen, bleichen goldenen Massen in der fahlen Beleuchtung. Aus den hinter Weidenbäumen verborgenen kleinen Bächen stieg ein feiner Nebel empor und schwebte zwischen den noch starren Aesten; schüchtern schritt die Erde ihrer Entwicklung entgegen, gleich einer jungen Braut, die noch der Brautschleier deckt.
In diesem Sinne betrachtete sich auch Estelle. Jetzt erst begann ihre Seele die Düsterkeit des Winters von sich zu streifen. Was fortan auch geschehen mag – sie wird geliebt, und auch sie liebt, und niemand vermag ihr den Reichtum zu rauben, welcher beinahe ihr Auge blendete.
Von der Bewegung des Zuges eingewiegt, schien es ihr, als brächte man sie an ein Ziel, welches nicht das Dorf war, nach welchem sie sich tatsächlich begaben, sondern das Reich der Liebe, und dies erschreckte sie nicht. Ihre Vermählung mag noch auf unbestimmt lange Zeit hinausgeschoben werden, doch focht sie das nur wenig oder gar nicht an, wußte sie doch, daß sie auch so geliebt und beschützt werde.
Die Sorgen der Vergangenheit zerstoben, und an ihre Stelle trat eine seelische Heiterkeit, welche nicht einmal die möglicherweise bevorstehende, vielleicht sogar furchtbare Entdeckung zu erschüttern vermögen wird.
Dunkel war sich Benois ihrer Gedanken bewußt, und er wagte dieselben nicht zu stören, so heilig und erhaben dünkten ihm dieselben. Von Zeit zu Zeit tauschten sie lächelnd einen Blick, um dann von neuem in ihre Phantasiegebilde zu versinken.
An einer Station, wo der Zug für einige Minuten hielt, drang ein frischer Luftzug in den Waggon; Estelles Haar bewegte sich leise in demselben, und das Lied der Lerche klang schmetternd, gleich dem Rufe einer liebenden Seele, durch die Luft.
Estelle richtete sich empor, seufzte leise und blickte dann hinaus. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung; noch vernahm ihr Ohr einige kräftigere Töne, und dann verschlang das rasselnde Rollen der Räder neuerdings jedes andere Geräusch. Estelle wandte sich um; vor ihr stand Benois, ihr beide Hände entgegenstreckend.
Mit einem glücklichen Gefühl überließ sie ihm ihre Hand.
»Du bist mein, Estelle,« sprach Theodor leise, und sie vernahm es dennoch. »Viel litt ich um dich, mehr als du um mich, denn ich haßte dich. Du aber besitzest ein viel zu gütiges Herz, als daß du zu hassen vermöchtest. Ich glaube, ich haßte dich schon an dem Tage deiner Vermählung, da Raymond mit mir über dich sprach. In einem gewissen Moment sagte ich mir, meine wahren Gefühle bemeisternd: es wäre sehr schade, wenn diese zwei herrlichen Menschen miteinander nicht glücklich wären. Doch gleich darauf erwachte ein schlechter Gedanke in mir, und ich wünschte nicht, ihr möget glücklich werden. Als ich Raymond tot auf der Erde liegen sah, da – kaum wage ich es auszusprechen – mengte sich meinem Schmerze offenbar auch eine Empfindung der Erleichterung bei. Ja, Estelle, dies dachte ich mir, nicht gerade in diesem Augenblicke, doch einige Minuten später sagte ich mir, daß du nicht die Seine geworden, und ich suchte mich zu überzeugen, daß mich eine instinktive Abneigung beeinflußte. Ich wünschte dir Schlechtes, verleumdete dich beinahe in meinem Herzen. Du lächelst, statt mich von dir zu stoßen. Oder solltest du begriffen haben, daß ich dich liebte, während ich dich zu hassen meinte?«
Estelle blickte ihn tränenfeuchten Auges an; draußen aber zogen die Landschaften der Bretagne unablässig an ihnen vorüber, nicht gerade sehr schnell, da auf diesen kurzen Linien keine Eilzüge verkehren.
Der Himmel blieb rein und mild und von der grauen Blässe bedeckt, welche die Eigentümlichkeit der Meergegenden bildet. Benois fuhr fort:
»Habe ich dich geliebt? Dieser Gedanke konnte mir gar nicht in den Sinn kommen. Es wäre der reine Wahnsinn gewesen. Und ich kann gestehen, daß ich gar nicht daran dachte. Aber wie sehr haßte ich dich! Ich mußte ja eine Erklärung dafür finden, daß meine Gedanken unablässig mit dir beschäftigt waren. Ich suchte mich zu überzeugen, daß meine Liebe zu Raymond mir die Pflicht auferlegt, dich zu verfolgen, und dies bereitete mir einen solch bösen Genuß, eine so bittere Freude, daß du es dir gar nicht denken kannst.«
Lächelnd, voll tiefen Vertrauens hörte ihn Estelle an. Wie sehr mag Theodor sie lieben, daß er ihr derart seine Seele erschließt!
»Und weißt du,« fuhr der junge Mann zu sprechen fort, »wie ich erfuhr, daß ich dich liebe? Meine Mutter sagte es mir! Du wirst meine Mutter lieben, Estelle, denn niemals besaßest du eine bessere Freundin als sie! Von dem Tage an, da ich sie von meinem Argwohn in Kenntnis setzte, hörte sie nie auf, dich zu verteidigen. Gleich beim ersten Anlaß sagte sie mir, ich möge dir den Briefumschlag übergeben, der mir schon so viel Kummer und Gewissensbisse bereitete. Hätte ich ihr gehorcht, so würde ich dir vielleicht viel Leid erspart haben! Doch in mir lebte ein dunkles Gefühl, daß ich, wenn ich ihn dir ausliefere, keinen Vorwand mehr haben werde, um dich zu verfolgen, jeden Moment an dich zu denken. Ich war blind, war von Sinnen. Ich haßte dich und betete dich an, Estelle!«
»Mein Freund!« stammelte Estelle und ließ es geschehen, daß Benois die beiden weißen Hände, die sie ihm überließ, an seine Lippen zog.
Dann aber zog sie dieselben sanft zurück. Die Lampe, die den Waggon erleuchtet hatte, war erloschen, und das Halbdunkel erweckte ihr Schamgefühl. Benois blickte in dieselbe Richtung, welche Estelles Augen nahmen: nach dem westlichen Himmel, wo sich noch ein schwacher Widerschein geltend machte.
»Die morgen aufgehende Sonne,« sprach er, »wird vielleicht dein ganzes Leben in Leid und Kummer hüllen; wird deine Person vielleicht mit einem Verbrechen in Verbindung bringen, und du wirst in dir niemals wieder die Person erblicken können, die du jetzt bist, weil vielleicht ein unvertilgbarer Flecken an dir haften wird. Doch bevor dieser Moment eintritt, will ich dir sagen, was ich auch nachher sagen würde und sagen werde: ich liebe dich, vertraue dir und du wirst meine Gattin!«
»Ach!« rief Estelle aus, die sich von neuem von ihrer Angst erfaßt fühlte, »weshalb verließ mich Raymond? Was auch sein Kummer, seine Schande oder sein Vergehen sein mochte, er hätte leben müssen, um mich zu beschützen, zu verteidigen! Obschon er gestorben, vermag ich ihm doch nicht zu verzeihen: indem er die Verantwortung für seine Tat auf mich wälzte, handelte er ebenso, als hätte er treulos seine Fahne verlassen! Ich weiß, was Sie sagen wollen, sagen Sie es nicht! Nichts wird diesen Mann für das gegen mich begangene Vergehen entschuldigen, gegen mich, die ich, ohne ihn zu lieben, seine Gattin wurde, nur damit er glücklich sei.«
»Er ist tot!« sagte Benois sanft.
Estelle ließ den Kopf sinken und schloß die Augen. Benois verstand, daß sie bete.
Der Zug begann langsamer zu rollen. Ein stärkerer Luftzug führte ihnen nunmehr den Hauch des Meeres zu. Der Himmel war von Sternen besät. Estelle schlug die Augen auf.
»Geliebte,« sprach Theodor, »wie sich unser Geschick auch wenden mag, der zur Neige gehende Tag hat uns unauflöslich aneinander gekettet. Von dieser Stunde an sind wir vor Gott und unserem Gewissen vermählt.«
»So sei es!« erwiderte Estelle ernst.
Der Zug hielt. Sie betraten den in der vorgerückten Stunde ziemlich verlassen daliegenden Bahnhof.
Obschon die Gasthofbesitzer sich eifrig um Benois bemühten, nahm er dennoch einen Wagen, und eine Viertelstunde später rollten sie auf dem sandigen Wege nach Mont-Saint-Michel dahin.
Aneinander geschmiegt, in einem Gefühle ruhiger Glückseligkeit, das ihre Befürchtungen einschläferte, fuhren sie in der hellen Mainacht, deren Luft rein und mild war, gleich dem Atemzuge eines kleinen Kindes. Ein schwacher Windhauch strich seufzend über die niedrigen Zäune, welche die dem Meere abgerungenen Grundstücke umgaben. Thymian- und Tamarindengruppen erhoben sich hier und dort inmitten der verlassenen Weiden. Die im Sonnenlicht einen traurigen Anblick bietende Gegend war im Glanze der zahllosen Sterne von einem sanften, mächtigen Zauber übergossen.
Langhin erstreckte sich die Milchstraße gen Südosten, gleich einem leuchtenden Wasserfall, der weitab von den Grenzen der Erde sich in eine unergründliche Tiefe ergießt. Sie schien so nahe zu sein, daß man sie meinte berühren zu können, während der Azur des Himmels noch einen tiefen Hintergrund hinter den Sternen erblicken ließ.
Plötzlich sah Estelle linker Hand den Mast und das Takelwerk eines Bootes hervortreten.
»Wir sind schon nahe,« sagte Benois leisen Tones.
Seit Pontoison hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Der Kutscher trieb seine Tiere mit Wort und Peitsche an. An einer Stelle beschrieb der Weg eine Wendung und gab die Perspektive frei.
»Sieh!« sprach Benois.
In überraschender Reinheit hoben sich die Umrisse von Mont-Saint-Michel vom nächtlichen Himmel ab. Es war die Zeit der Flut; die ruhig und glatt daliegende Wasserfläche berührte die alten Mauern und spiegelte die Sterne wieder, die am Himmel silbern erschienen, in der Tiefe aber in goldenem Glanze erstrahlten.
Die Hufe der Pferde klapperten auf dem Pflaster des Dammes. Und ehe sie es gewahrten, hatte sich das schwere Tor der Burgmauer vor ihnen geöffnet.
Obgleich die Nacht schon weit vorgeschritten war, fanden sie dennoch Unterkunft. Eine Viertelstunde später waren sie unweit der Bastei in einem Hause eingekehrt, und als sie sich für die Nacht voneinander trennten, wechselten sie bloß einen stummen Händedruck.
Estelle öffnete ihr Fenster und blickte hinaus. In einer gewissen Entfernung erschien die Erde gleich einem schwarzen Bande. Gen Norden gewahrte man eine Hügelreihe, in der Nähe funkelte das sternenspiegelnde Meer.
Ein bis zwei Minuten später gewahrte Estelle, daß das Meer rasch zurückweiche. Die Sterne verschwanden einer nach dem anderen und an ihrer Stelle blieb der fahlgraue Sand zurück. Hier und dort blieb in einer kleinen Pfütze das Spiegelbild eines einzelnen Sternes zurück; dann verschwand auch dieser. Ein sanftes Geräusch, gleich einem unterdrückten Schluchzen, begleitete die Bewegung der geheimnisvollen Wasser.
Ueber Estelle ertönte Benois' Stimme. Ihm war ein Stockwerk höher ein Zimmer angewiesen worden.
»Die Sterne verschwinden,« sprach er leise, inmitten der großen Stille der unvergeßlichen Nacht, »nacheinander ziehen sie hinweg, gleich müden Reisenden, die zur Ruhe gehen. So mögen auch deine Sorgen und Befürchtungen verschwinden. Dort oben aber verweilen in ihrer heiteren Ruhe die Himmelskörper, ähnlich der unsterblichen Liebe. Ruhe sanft, Estelle, und fürchte nichts.«
»Herzlichen Dank!« erwiderte Estelle leise wie ein Hauch.
Sie schloß das Fenster, begab sich zu Bette und schlief ruhig ein.