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Nach den ersten zwei Wochen, welche von dem ebenso peinlichen als unerläßlichen Ordnen der Hinterlassenschaft in Anspruch genommen worden, machte Frau von Montelar Estelle den Vorschlag, sich in das Schloß Bertolles zurückzuziehen. Die Witwe aber erklärte mit der größten Schonung zwar, doch fest und bestimmt, daß sie dies nicht tun werde.
»Es ist schon genug, daß ich mit Ihnen allein in diesem Hause in Paris sein muß, wo wir zu dreien hätten sein sollen. Ersparen Sie mir den Schmerz, diese Heimsuchung von neuem in einem Hause durchkosten zu müssen, welches ich gar nicht kenne, und in welchem Sie von denselben peinlichen Empfindungen beschlichen werden müßten als ich.«
Diese Argumente waren zu triftig, als daß sich Frau von Montelar denselben hätte verschließen können.
Mütterlicherseits besaß Estelle in der Nähe von Chartres ein Landhaus, welches genügend geräumig war, um sich in demselben bequem einzurichten, und dennoch bescheiden genug, um zahlreiche Dienerschaft entbehren zu können. Hierher gedachten sich die beiden Frauen während der Sommermonate zurückzuziehen.
Estelle hoffte, sich von den schmerzlichen Erinnerungen losmachen zu können, sobald sie mit dem Palais und dem Schlosse Bertolles nicht mehr in Berührung kommt. Die Erinnerungen verfolgten sie aber auch hier. Fortwährend schwebte ihr der blutige Leichnam ihres Gatten und die sich an seinen Tod knüpfende furchtbare geheimnisvolle Frage vor. Selbst die Erlebnisse ihrer Kinderjahre, die sie für längst vergessen hielt, wachten in dem alten Heim von neuem auf.
So sehr sie auch wünschte, Frau von Montelar in der ruhigen, milden Stimmung nicht zu stören, welche sie nach der großen Erschütterung allmählich zu überkommen begann, vermochte sie ihre Empfindungen doch nicht zu verschweigen, als sie eines Abends in dem Garten promenierten, welcher fast so groß wie der Park war und an die Loire grenzte.
Acht Uhr war zwar schon vorüber, doch die Sonne noch nicht untergegangen. Zu dieser Jahreszeit, da die Tage fortwährend länger werden, sind die Abende überaus angenehm. Man merkt ihnen den Beginn der Vergänglichkeit an und kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß diese goldene Helle nicht mehr lange währen wird und die Tage gar bald wieder kürzer werden müssen.
Dieser Gedanke, welcher der Jugend nicht zu kommen pflegt, erwachte um so lebhafter in Frau von Montelar. Sie ließen sich vor dem Becken eines kleinen Springbrunnens nieder und die alte Dame betrachtete lange die goldenen Lichtstrahlen, welche das üppige Grün der Bäume mit warmem Schimmer übergossen und sich dann, immer mehr erblassend, zurückzogen, so daß sie jetzt nur mehr die Baumwipfel streiften.
»Nun verläßt er uns wieder, der warme Sommersonnenschein, der die Hälfte des irdischen Lebens ausmacht,« sprach sie. »Wer weiß, ob ich ihn das nächste Mal noch werde sehen können.«
»Teure Tante,« sagte Estelle, die Hand der alten Dame drückend, »denken Sie nicht an so traurige Dinge. Sie sind noch nicht in dem Alter, um sich mit denselben zu beschäftigen.«
»Wer kann von sich sagen, daß er morgen noch am Leben sein werde?« entgegnete Frau von Montelar melancholisch. »Raymond, an der Schwelle des Glückes, von Freude und Lebenslust erfüllt –«
»Teure Tante, ich bitte Sie –«
Stumm erwiderte Frau von Montelar den Händedruck ihrer Nichte und verharrte eine Weile schweigend, um die Tränen zurückzudrängen, welche ihr die Lider erfüllten. Dann wendete sie sich wieder zu Estelle.
»Erzähle mir etwas von dir,« sprach sie. »Ich liebe dich von ganzem Herzen, kenne dich aber sozusagen gar nicht. Wenn ein junges Mädchen Braut ist, kann man es nicht beurteilen – seither hatte ich Gelegenheit, deine Kaltblütigkeit, dein Zartgefühl, deine Herzensgüte würdigen zu lernen, und dessenungeachtet, liebstes Kind, kann ich mit gutem Gewissen behaupten, daß ich dich kaum kenne. Erzähle mir etwas von dir – – – lebtest du an der Seite deiner Mutter oder erinnerst du dich noch einigermaßen an sie?«
Estellens Antlitz verdüsterte sich. Mit einiger Anstrengung erwiderte sie:
»Ich erinnere mich sehr deutlich an meine Mutter. Hier verbrachte ich mit ihr den letzten Sommer ihres Lebens. Ich war damals acht Jahre alt, doch können die Eindrücke in diesem zarten Alter auch schon mächtige und nachhaltige sein.«
Frau von Montelar wartete darauf, sie würde weiter sprechen. Doch Estelle schwieg.
»Und dein Vater?«
»An ihn erinnere ich mich nicht. Aus den amtlichen Dokumenten habe ich erfahren, daß ich bei seinem Tode erst zwei Jahre alt war. Er war jahrelang auf Reisen. Er scheint eine unstäte Natur gewesen zu sein, die es nie lange an einem Orte litt. Er starb in Florenz vor achtzehn Jahren. Meine Mutter überlebte ihn bloß mit sechs Jahren.«
»Armes Kind!« murmelte Frau von Montelar unwillkürlich, mit zärtlichem Blick die junge Frau betrachtend, die das Auge auf den dünnen Wasserstrahl des Springbrunnens geheftet hielt.
»Armes Kind – – ja, das war ich wirklich!« sprach Estelle weiter mit leisem, fast empfindungslosem Ton, als hätte sie die Betrachtung der glänzenden Wassertropfen in einen magnetischen Schlaf versenkt. »Ich fühlte mich damals nicht unglücklich; begreife aber erst heute, daß ich es in Wirklichkeit war. Dieser Garten bildete mein Reich, in welchem ich gar wenig beunruhigt wurde. Von zehn Uhr morgens bis spät abends konnte ich nach Gutdünken in demselben umhertollen und nur zum Speisen rief mich die Glocke ins Haus – dieselbe Glocke, welche uns auch heute ruft.«
»So warst du immer allein?« fragte Frau von Montelar. »Und niemand beschäftigte sich mit dir?«
»Ah doch! Um acht morgens begab ich mich in das Zimmer meiner Mutter, um sie zu begrüßen. Sie küßte mich auf die Stirne und schickte mich hinaus. Mittags kamen wir bei Tische wieder zusammen und um sieben Uhr abends nahmen wir das Abendbrot gemeinschaftlich ein. Meine Mutter sprach fast niemals zu mir und fragte mich höchstens, ob ich mich tagsüber brav aufgeführt habe. Ich befleißigte mich stets einer tadellosen Aufführung und glaubte nicht, daß es viele Kinder gibt, die weniger zerrissen oder zerbrochen hätten, als ich. Im übrigen war da kein sonderliches Verdienst dabei, denn von Juni bis November konnte ich tun, was mir beliebte.«
»Und deine übrige Zeit!«
»Verbrachte ich in einem Erziehungsinstitut, welches von Nonnen gehalten wird und sich in unserer Nähe befand. Den Sommer aber liebte ich über alles! Das Sprießen der ersten Blätter entlockte mir Freudentränen, während ich, wenn die Baumblätter herabzufallen begannen, stundenlang in den einsamen Alleen verweilte und gepreßten Herzens das Herabfallen der vertrockneten Blätter beobachtete, ohne zu gewahren, daß mich der Wind durchkältete und der Regen durchnäßte – – Mit den fallenden Blättern verschwand auch all mein Glück – – Und wenn ich bei solchen Anlässen in das Haus zurückkehrte, wurde ich ausgescholten.«
»Von deiner Mutter?«
»Rein, meine Mutter schalt mich niemals, sondern von Rosalie, die ihre Zofe und meine Wärterin war und die sich auch viel mit mir beschäftigte, nachdem ich etwas größer geworden.«
»Ob sie mich liebte? Nein, das könnte ich gerade nicht sagen. Sie hegte eine offenbar ganz absonderliche Empfindung für mich; Liebe war es nicht und dessenungeachtet widmete sie mir viel Zeit und Mühe, streng genommen glaube ich sogar, daß sie mich haßte.«
»Weshalb?«
»Das weiß ich nicht. Möglicherweise war ich als kleines Kind sehr widerspenstig; ja es ist sogar wahrscheinlich, obschon es mir niemand sagte. Denn man sprach niemals über meine Kindheit mit mir.«
Frau von Montelar empfand im stillen tiefes Mitleid mit diesem armen Mädchen, welches noch so wenig Freude erfahren.
»Und deinen Vater kanntest du gar nicht? Armes Kind! Deine Mutter starb wohl in jungen Jahren noch?«
»Ich glaube, sie war vierunddreißig Jahre alt – – Seit meiner Geburt kränkelte sie aber fortwährend und man sagte, sie habe sich sehr verändert. Doch so viel ich mich noch erinnere, war sie trotzdem sehr schön.«
»Siehst du ihr ähnlich?«
»Nicht im mindesten. Sie war schmächtig, klein, blond und hatte magere, sehr magere Hände – – Arme Mama! – – Als sie gestorben war, führte mich Rosalie zu ihr – Sie schien nicht mehr tot zu sein, als sie im Leben war.«
»Diesen peinlichen Anblick hätte man dir ersparen können – – War es denn so nötig, diesen Eindruck in dir zu erwecken? Es war grausam, unmenschlich!«
»Ich sagte ja schon, daß mich Rosalie haßte! Als mich Baronin Polrey bei sich aufnahm, war es ihr erstes, Rosalie zu fragen, ob sie in ihren Dienst treten wolle, um während der Ferien über mich wachen zu können – – Rosalie geriet hierüber in solche Wut, daß die Baronin nicht wußte, was sie sich denken sollte.«
»Diese Rosalie war offenbar eine unverschämte Person,« bemerkte Frau von Montelar.
»Sie war bloß verwöhnt. Mama gab ihr alles nach, was sie wollte. Sie war ja so krank und schwach, die Arme, und bedurfte Rosaliens Dienste so sehr. Zuweilen blickte sie sie mit Augen an, daß ich am liebsten geweint hätte oder mit geballten Fäusten über Rosalie hergefallen wäre.«
»Sie war also eine schlechte Person?«
»Nein, sondern von einer ganz besonderen rauhen Rechtschaffenheit; sie war in solchem Maße gewissenhaft, daß sie sich der unbedeutendsten Dinge wegen Vorwürfe machte und außerdem ganz unglaublich uneigennützig – –«
»Woher weißt du denn alles?«
»Baronin Polrey sagte es, denn selbst hätte ich kein derartiges Urteil zu treffen vermocht. Ihre beschränkte Religiosität ging bis zur Grausamkeit bei sich selbst und anderen gegenüber. Wie oft schleppte sie mich des Abends zu den Andachtsübungen! Ich schlief regelmäßig auf meinem Stuhle ein, sie aber weckte mich auch zehnmal hintereinander auf, während ich viel lieber in meinem Bette geschlafen hätte. In der grimmigsten Winterkälte brannte kein Feuer in dem Zimmer, wo sie neben meinem Bette schlief, und wenn ich um fünf Uhr morgens erwachte, sah ich sie beim Licht der Nachtlampe im Hemde und barfuß auf der nackten Erde knien und beten.«
»Hast du mit Raymond nicht über diese Dinge gesprochen?« fragte Frau von Montelar nachdenklich, als wollte sie sich an etwas erinnern.
»O doch,« erwiderte Estelle lebhaft, die absonderliche Schlaffheit von sich schüttelnd, die sich ihrer bemächtigt hatte. »Ich erzählte Raymond, welch traurige Kinderjahre ich verbracht. Ich erzählte ihm auch – – Sieh, gerade an dieser Stelle trug es sich zu, an dieser Stelle, die ich so gerne aufgesucht. Wie heute war auch damals die Sonne untergegangen und beinahe plötzlich ringsum alles dunkel geworden. Ich hörte Rosaliens Schritte, hörte sie schreien, da sie nach mir suchte, um mich zu Bette zu bringen, und aus Mutwillen versteckte ich mich vor ihr, um noch einige Augenblicke zu gewinnen. Hinter den Gebüschen versteckt, hörte ich sie etwas murmeln. Ich schlich näher und vernahm die Worte: »Verflucht der Tag und verflucht die Nacht – – verflucht die Mutter, verflucht das Kind, verflucht der Vater! – –« Ich fühlte mich von Furcht erfaßt und lief hin zu ihr, damit sie nicht fortsetzen könne. Sie ergriff mich heftig am Arm und zerrte mich ins Haus,. Nur schwer vermochte ich in jener Nacht einzuschlafen!«
»Die Person war verrückt!« sagte Frau von Montelar. »Was geschah weiter mit ihr?«
»Ich glaube, sie ging in ihre Heimat zurück, nach der Bretagne. Vielleicht trat sie sogar in ein Kloster. Dies war immer ihr Wunsch.«
Die beiden Frauen standen auf und schritten weiter. Als sie in eine dunkle Allee einbogen, scheuchten sie einen großen Nachtvogel auf, der unter kläglichem Geschrei davonflatterte. Beide fuhren zusammen und die alte Frau erfaßte Estellens Arm.
»Du hast mich mit deiner Erzählung ordentlich furchtsam gemacht,« sagte sie. »Es ist ein wahres Wunder, daß du es nicht auch geworden.«
»Oh, ich war es,« erwiderte Estelle, »war es derart, daß ich gar nicht furchtsamer sein konnte. Doch das hörte allmählich auf. Man gewöhnt sich auch an Gespenster, wenn man mit denselben fortwährend in Berührung steht. Und Rosalie war zu mindest ein Gespenst.«