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Die vornehme Welt von Paris, welche Zeugin der glänzenden Vermählung gewesen, wurde am nächsten Morgen durch die Kunde vom Tode des Bräutigams überrascht. Ein großes Morgenblatt, welches um Mitternacht von der Katastrophe Kenntnis erhalten, berichtete auf der ersten Seite über dieselbe.
Benois dachte an gar mancherlei; daran aber nicht, daß es so gut wie unmöglich sei, zehn oder zwölf Dienstleuten und zumindest ebensovielen Fremden, die unter den verschiedensten Vorwänden in einem so vornehmen Hause Zutritt haben, mit einem Schlage Schweigen zu gebieten.
Und die durch die geschwätzigen Mäuler erzielte Wirkung war tatsächlich eine überraschende.
Rittmeister Bertolles, der vormittags geheiratet hatte, war nachmittags gestorben?
Die bündige Erklärung, es liege bloß ein unglücklicher Zufall vor, konnte den Leuten nicht genügen. Das wäre ja gar zu einfach gewesen! Und wie sollte denn ein junger Ehemann unmittelbar nach seiner Hochzeit auf den Gedanken kommen, mit seinen Pistolen zu spielen?
Ob aus Interesse oder aus Neugierde, – aber die Leute drängten sich massenweise in den Palast Bertolles.
Es war strengster Befehl erteilt worden, man möge niemanden zu Frau Montelar oder der jungen Witwe führen; es gibt aber gewisse Leute, die mit unerklärlicher Leichtigkeit jedes Hindernis überwinden, jedes Verbot überschreiten. In dem Augenblick, da Estelle das Trauerkleid anlegte, welches sie abends vorher bestellt hatte, stand Baronin Polrey vor ihr, die, ohne auf die abwehrenden Ermahnungen des vor der Tür stehenden Dieners zu achten, mit den Worten ins Zimmer trat:
»Ich dachte, liebste Estelle, das Verbot erstreckte sich nicht aus mich?«
Und mit trauriger Miene, die mit ihrem für gewöhnlich so heiteren Gesichte gar nicht im Einklang stand, fuhr sie fort:
»Unter so traurigen Umständen kannst du dich nicht weigern, deine Freundin, die Mutterstelle bei dir vertrat, zu empfangen.«
»O, liebe Baronin!« erwiderte Estelle ein wenig kalt, »ich danke Ihnen recht sehr für die Teilnahme, die Sie hierher geführt.«
Baronin Polrey beobachtete sie neugierig, als wäre sie irgendeine Rarität gewesen. Diese gestrige Braut, die Witwe geworden, nach bevor sie Gattin gewesen wäre, wird wenigstens einige Wochen lang Gegenstand des allgemeinen Gespräches bleiben. Und welch ein Ruhm, sagen zu können: »Ich habe sie zuerst gesehen!«
Mit einem Male erinnerte sich die Baronin, daß sie diesen Besuch unter dem Vorwande ihrer mütterlichen Gefühle abgestattet habe, und sie breitete die Arme aus:
»Mein liebes Kind! In welcher furchtbaren Lage befindest du dich! In diesem Hause, in welchem du ja doch ganz fremd bist, benötigst du eine Freundin, der du dein Herz ausschütten kannst! Umarme mich doch, Kleine!«
Die Kleine schien aber derartigen Ergießungen durchaus nicht geneigt zu sein; dessenungeachtet umarmte sie die Baronin mit entsprechender Gefühlswärme, und da sie auf keine Zurückweisung rechnen zu müssen glaubte, bot sie ihr sogar einen Stuhl an.
»Dies ist dein Zimmer?« fragte die Baronin, indem sie sich niederließ und Rundschau hielt. »Schön, sehr schön. Die Draperien sind ein wenig zu dunkel. Ich hatte ein Zimmer blau mit Silber: doch ich bin ja blond. Na, laß doch hören, Estellchen, wie ging das zu? Du weißt, daß du mir vertrauen kannst: ich bin verschwiegen wie das Grab. Warst du dabei? Mein armes Kind, wieviel mußt du gelitten haben!«
»Ich war nicht zugegen,« erwiderte Estelle gelassen.
Seit gestern hatte sie bereits gelernt, daß man so wenig als möglich sprechen müsse. Ihr kurzes Gespräch mit dem Anwalt hatte eine Vorsicht in ihr geweckt, von deren Vorhandensein sie bisher gar keine Ahnung gehabt.
»Bertolles war also allein?« begann Frau von Polrey von neuem. »Der Unglückliche! Doch was hatte er nur mit den Pistolen zu tun? Welche Unvorsichtigkeit!«
»Und dann, unter uns gesagt,« fuhr Frau von Polrey fort, »denkst du nicht, daß ein Offizier mit dem Gebrauch von Waffen hinlänglich vertraut sein müßte, um die mit denselben verbundenen Gefahren vermeiden zu können? Meinst du nicht auch?«
»Ich weiß gar nichts,« erwiderte Estelle einigermaßen unmutig. »Auch kann ich mich niemals in derlei Auseinandersetzungen einlassen. Ich weiß nur das eine, daß ich gestern mittags ein Uhr heiratete und um sechs Uhr abends bereits Witwe war. Dies könnte auch stärkere Nerven als die meinigen erschüttern und ich gestehe Ihnen, liebe Baronin, daß ich vollkommen erschöpft bin.«
»Das kann ich sehr gut begreifen,« sagte die Baronin, ohne sich von ihrem Sitz zu rühren. »Mein armes Herzchen! Konntest du wenigstens weinen?«
»Wenn mich schwerer Kummer drückt, so kann ich nicht weinen,« gab Estelle zur Antwort.
»Und dennoch sind deine Augen so eingefallen! Entsetzlich! Und was sagt Frau Montelar zu der Sache?«
»Die arme Frau ist ganz gebrochen, und ich fürchte, daß sie sich gar nicht mehr erholen wird. Glücklicherweise war ein Freund Raymonds zugegen, der alle Obliegenheiten besorgte.«
»Dies ist ein wahres Glück. Zwei alleinstehende Frauen – ich weiß wirklich nicht, was ihr angefangen hättet. Und was werdet ihr denn jetzt tun?«
»Das weiß ich noch nicht; wir bedürfen Zeit, um nachzudenken.«
»Freilich, freilich! Vorläufig aber bleibt ihr hier, im Palais deines Gatten, nicht?«
»Natürlich,« erwiderte Estelle, die den Sinn der Frage nicht verstand. »Ist dies denn nicht mein Haus?«
»Ah!« seufzte Frau von Polrey auf, ohne daß man gewußt hätte, ob sie damit Staunen oder Erleichterung ausdrücken wolle. »Du bist hierzu entschlossen?«
»Vorläufig unbedingt.«
»Und ich war gekommen, um dich zu fragen,« sagte die Baronin sehr erleichtert, »ob du nicht zu uns zurückkommen und dein Mädchenzimmer von neuem einnehmen wolltest. Da du aber entschlossen bist –«
Estelle blickte ihr tief ins Auge und zugleich tief in die Seele.
Schon früher war sie mit ihrem Urteil über die Baronin im reinen gewesen und hatte ihre Seele mit Ausnahme der mütterlichen Liebe vollkommen leer befunden. Im übrigen war sie eine Frau, was man gewöhnlich eine »gute Frau« zu nennen pflegt.
Als Frau Brunaire starb, übernahm die Baronin die Erziehung Estelles. Weshalb gerade sie und kein anderer? Sie war durch keinerlei Freundschaftsbande an die Verstorbene gefesselt gewesen, die sich in ihren letzten Lebensjahren ohnehin um niemand mehr gekümmert und sich in einer Art Melancholie von der Welt zurückgezogen hatte. Baronin Polrey wurde mit der Erziehung des jungen Kindes betraut, weil sich sonst niemand um dieselbe bewarb. Erfreut, sich mit der Kleinen nicht beschäftigen zu müssen, überließ sie der Vormund willig der liebenswürdigen Frau, der Gattin eines wackeren Mannes und der Mutter dreier kleiner Mädchen, wodurch ihre Qualifizierung zur Erziehung der kleinen Waise zur Genüge dargetan war.
Das Verhältnis zwischen Estelle und – wie das schon Sitte ist zu sagen – ihrer zweiten Mutter war ein sehr einfaches. Baronin Polrey forderte weder Dank, noch besondere Rücksichten, sondern bloß die freundliche Höflichkeit, welche ein Erfordernis des gesellschaftlichen Verkehrs bildet.
Im Familienleben fiel Estelle der Baronin ebensowenig zur Last, als wäre in ihrem Käfig ein Vögelchen mehr gewesen. Die Mädchen wurden alle im Kloster erzogen; dort empfingen sie die Besuche der Mutter, verließen es gemeinsam und kamen während der Ferien gemeinsam nach Hause, und das alles mit lächelndem Gehorsam, welcher niemals Grund zum Aerger gab.
Als die Zeit gekommen war, da die Mädchen in die Gesellschaft eingeführt werden sollten, wurde Frau von Polrey eine kleine Enttäuschung zuteil. Wohl war Susanne, ihre älteste Tochter, eine vollendete Pariser Schönheit, wohl besaß die zweite, Odelle, überaus viel »Schick« (die dritte, Valentine, war erst vierzehn Jahre alt und konnte noch gar nicht in Betracht kommen); Estelle aber, abgesehen davon, daß ihr altmodischer Name die Aufmerksamkeit erregt, hatte eine so vornehme Haltung, ihre majestätische Schönheit war so auffallend, daß die beiden anderen Mädchen neben ihr in Wahrheit in den Hintergrund gedrängt wurden.
Nun begann die Baronin bereits zu bereuen, was sie getan, und auch Estelle fühlte sich nicht wohl im Hause. Diese unbehagliche Stimmung währte zwei Jahre, ohne daß sie sich durch ein äußerliches Zeichen verraten hätte. Dann geschah es, daß Raymond de Bertolles um Estelles Hand anhielt.
Die Baronin berührte dies peinlich, ohne daß sie es sich hätte merken lassen; Estelle aber wurde es klar, daß sie Unrecht daran getan, als sie ein Herz eroberte, welches Susanne zugedacht war, und ohne sich hierüber auch nur im mindesten zu grämen, sagte sie sich, daß die Baronin schließlich doch nur eine gewöhnliche Sterbliche und kein Schutzengel sei, wie sie es sich seit langer Zeit gegenseitig weiszumachen gewöhnt waren.
Nun war die Frage klar genug aufgeworfen worden: die Baronin brachte ihren Vorschlag erst vor, nachdem sie die Ueberzeugung gewonnen, daß Estelle denselben ablehnen werde. Dies war sehr klug von ihr gehandelt, denn ihre ehemalige Adoptivtochter hätte jetzt im Hause zu zahllosen Unannehmlichkeiten Anlaß gegeben: während sich die junge Witwe durch dieses Vorgehen verletzt fühlte, da sie aus demselben ersah, daß, wenn sie tatsächlich einer Zufluchtsstätte bedurft hätte, sie dieselbe bei der Baronin nicht gefunden haben würde.
Diese Wahrnehmung brachte ihrem jungen, unerfahrenen Herzen und Stolz eine schmerzliche Wunde bei. Sie konnte und wollte es vielleicht auch gar nicht verheimlichen, und die Baronin, die eine kluge Frau war, gewahrte dies auch sofort. Von diesem Moment an hatte jede wahre Neigung zwischen den beiden Frauen ein Ende genommen, wenn überhaupt jemals eine solche zwischen ihnen bestand.
All dies war das Werk eines Augenblicks.
»Ich bleibe hier,« sagte Estelle, »so lange meine Tante (sie sprach dieses Wort mit besonderem Nachdruck), Frau Montelar, der Pflege und Wartung bedürfen wird. Und hernach – wie Gott will. Meine Trauer hält mich ohnehin zwei Jahre von der Welt fern.«
»Du hast recht; das Beste, was du tun kannst, ist, daß du hier an der Seite der Frau Montelar bleibst,« erwiderte die Baronin leichthin und ein wenig maliziös. »Besonders unter den obwaltenden Umständen wirst du ihres Schutzes bedürfen.«
»Ihres Schutzes?« wiederholte Estelle, sich emporrichtend. »Doch nur ihrer Freundschaft.«
»Nenne das, wie du willst, Herzchen. Sicher ist einmal, daß eine junge Frau, deren Gatte eines plötzlichen Todes durch Erschießen stirbt, noch dazu am Tage seiner Vermählung, eines verläßlichen weiblichen Schutzes bedarf, wenn vielleicht in der Gegenwart nicht so sehr, in der Zukunft aber um so mehr. Du befindest dich in einer überaus peinlichen Lage, mein armes Kind!«
Estelle errötete, als wäre ihr eine schwere Schmähung ins Gesicht geschleudert worden; und die Baronin hatte recht. Nur brachte sie das zu scharfen Tones vor.
»Ich gebe zu, daß ich mich in einer schwierigen Situation befinde,« entgegnete Estelle, »doch rechne ich auch auf die Unterstützung meiner Freunde und Gönner.«
»Ganz gewiß, mein teures Kind; wir alle werden bemüht sein, dich zu unterstützen und zu verteidigen.«
Die Augen der jungen Witwe schossen Blitze. Sie vermochte nicht an sich zu halten.
»Zu verteidigen?« wiederholte sie. »Großer Gott, – gegen wen denn?«
»Gegen die Schlechtigkeit der Menschen, mein Kind. Du bist eine kluge Frau, Estelle, und wirst dir sagen können, daß deine frühe Witwenschaft zu zahllosen Auslegungen Anlaß bieten wird. Niemand wird glauben wollen, daß es bloß ein unglücklicher Zufall gewesen –«
»Und doch ist es so einfach,« sagte Estelle bitter.
»Nur zu einfach! Willst du die Wahrheit hören? Seit heute morgen vernehme ich sie schon zum zweiten Male, und es ist erst elf Uhr. Sieh, Estelle, ich war dir eine zweite Mutter, und ich schwöre dir, daß, wenn Aehnliches einer meiner Töchter widerfahren wäre, ich mir die Augen aus dem Kopf weinen würde.«
»Das würde Ihnen nicht viel nützen,« erwiderte Estelle »auch freut es mich, daß ich nicht zu den Personen gehöre, die Ihnen Kummer verursachen könnten.«
»Mein liebes Kind,« begann die Baronin, die bereits bereute, daß sie so weit gegangen, denn sie war ja nicht schlecht, sondern besaß nur eine lose Zunge, wie drei Viertel der Menschheit.
Doch hielt sie kurz inne, als sie sah, daß Estelle nicht geneigt sei, Rat oder Erklärung anzuhören.
Sie stand auf, um sich zu entfernen.
»Ist die Stunde des Begräbnisses bereits festgesetzt?« fragte sie. »Ich denke, daß es morgen stattfinden wird.«
»Ich glaube auch. Herr Benois entscheidet jetzt in all diesen Dingen. O mein Gott, sie sind ja auch so furchtbar, all diese Einzelheiten.«
»Es ist ein wahres Glück, daß Herr Benois hier war. als wäre er direkt hierher bestellt worden,« fügte die Baronin, bereits auf der Schwelle stehend, hinzu.
»Raymond hatte ihn ersucht, hier zu bleiben.«
Als Estelle sah, welchen Ausdruck das Gesicht der Baronin bei diesen Worten annahm, bereute sie bereits, was sie gesagt.
Da man ihr ja doch alles falsch auslegte, sagte sie sich, so wollte sie lieber gar nichts mehr sagen.
»Auf Wiedersehen, liebe Baronin; ich danke Ihnen,« sagte sie laut, während Frau v. Polrey im Treppenhause verschwand.