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Vor ihrem Schreibtische sitzend, war Estelle eines Morgens mit der Durchsicht der Monatsrechnungen beschäftigt. Da ihr die Sache noch neu war, widmete sie derselben den größten Eifer und die größte Gewissenhaftigkeit; sorgfältig prüfte sie jeden, selbst den geringsten Posten, als hätte es sich zumindest um das Budget des Staates gehandelt.
»Wie schade,« sagte sie sich, inmitten einer langen Zahlenreihe innehaltend; »wie schade, wenn man so reich ist! Man weiß nicht, was mit dem Gelde anfangen, und so verausgabt man es auf lauter unnütze Dinge. Dieses große Haus, diese Menge Dienstleute, diese vielen Pferde, was soll mir das alles? Wäre man nicht gerade so glücklich, wenn man in einem halb so großen Hause wohnen und weniger Dienstleute, weniger prächtige Equipagen halten würde?«
Sie erinnerte sich eines heiteren Anblickes, welchen sie einst in der Nähe von Polrey auf der Landstraße gehabt. Es war das ein leichter englischer Wagen, davor ein flinker, leichtfüßiger Pony mit langer Mähne und silbernem Geschirr. Die Zügel führte ein junger Mann, neben ihm saß seine Gattin, noch ein halbes Kind, und blickte lachend zu ihm empor. Sie fuhren so rasch vorüber an ihr, daß sie sie gar nicht mehr erkannt haben würde.
Benötigt es mehr, um glücklich zu sein? Für das Geld der Brunaire und Bertolles kann man viele Wagen samt Geschirr und Pony kaufen; doch woher das glückliche heitere Lachen nehmen, welches der Wind über die reifen Aehren dahintrug, und woher jene sorgenlose Liebe?
Eine tiefe Melancholie umfing Estelle gleich einem Netz. Nirgends gab es einen Ausweg für sie. Jung war sie noch und einst auch heiter gewesen; doch was soll die Jugend, wenn man gleich alten Leuten lebt? Was ist die natürliche Heiterkeit wert, wenn man in ewiger Abgeschiedenheit leben muß?
Wer wird sie lieben? Wer würde sie heiraten?
Eine plötzliche Glut übergoß ihre Wangen, und von neuem vertiefte sie sich eilends in ihre Rechnungen, als hätten dieselben nicht warten können.
Die Tür des Zimmers wurde geöffnet, ohne daß sie darauf geachtet hätte, da sie glaubte, die Zofe sei eingetreten, um ein wenig Ordnung zu schaffen.
Plötzlich legten sich zwei kleine, fein beschuhte Hände auf ihre Augen und ein feiner Veilchenduft verbreitete sich um sie.
»Wer bin ich?« fragte ein absichtlich, doch nicht genügend verstelltes Stimmchen.
»Du bist's, Odelle? Süßes Herz!« rief Estelle freudig aus. »So früh? Woher kommst du?«
Die beiden Frauen küßten einander und ließen sich sodann, dicht aneinander geschmiegt, auf ein schmales Sofa nieder, sich gegenseitig an den Händen haltend. Die junge Frau, die in dem winzigen Hütchen und dem kleinen Schleier einer frisch aufblühenden Rose glich, blickte ihre einstige »kleine Mama« an und rief bewundernd aus:
»Wie schön du bist! Viel schöner, als früher!«
»Und du erst!« erwiderte Estelle lächelnd. »Du hast dich ganz verändert, du bist sogar gewachsen!«
»Das hat das Glück zuwege gebracht!« sagte die junge Frau leichtfertig.
»Ueberall waren wir: in Rom, in Florenz, in Venedig, Arbes und in Dijon, im Schloß der Großeltern. Na, dort ist's im Winter nicht besonders amüsant. Doch zum Glück hatte ich meinen Mann dort.«
Sie sprach die Worte »meinen Mann« mit so drolligem Ernst und solcher Zärtlichkeit aus, daß Estelle zu gleicher Zeit hätte lachen und weinen mögen.
»Mein Mann ist ein überaus liebenswürdiger Mensch,« plauderte Odelle weiter. »Er betet mich an.«
»Und du ihn?«
»Ich ihn natürlich auch! Nur daß ich es ihm nicht sage. Dabei sehe ich aber, daß er es sehr gut weiß. Er ist ein sehr schlauer Patron!«
Und sie lachte herzlich bei diesen Worten. Darauf blickte sie umher.
»Hier bei dir ist's sehr hübsch,« sagte sie. »Viel hübscher als bei uns. Indes, wenn unser Heim auch nur ein bescheidenes ist, so fühlen wir uns doch behaglich darin. Weißt du, mein Mann ist noch sehr jung, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, und die Uniform des Husarenleutnants kleidet ihn trefflich. Es ist das aber auch ein herrliches Kleid. Ich lasse mir eine blaue Tuchtoilette anfertigen aus demselben blauen Tuch, weißt du, mit schwarzer Verschnürung, gleich einer Marketenderin, um die Farben des Regiments zu tragen. Mein Mann läßt sich jetzt versetzen, und wir bleiben in Paris.«
»Seid Ihr schon lange hier?« fragte Estelle. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie so aufgeregt sei.
»Seit gestern. Mama und Papa erwarteten uns bei der Bahn. Heute abend sind wir bei ihnen. Hubert ging seinen Geschäften nach, kaum daß er aufgestanden war. Weißt du, welcher Art Geschäfte das sein können? Ich getraute mich nicht, ihn zu fragen. Ich stellte nämlich schon so viel Fragen an ihn, daß es mir selbst nicht mehr recht ist! Er sagt, ich hätte ihn mitunter so absonderliche Dinge gefragt. Und ich frage ihn doch nur, was mir gerade durch den Kopf schoß; er aber lachte wie närrisch darüber. Nun bin ich aber vorsichtiger geworden, und ich suche mich von anderer Seite zu informieren. Er ging also seinen Geschäften nach und ich beeilte mich, hierher zu kommen. Meine Schwester weilt mit ihrem Mann in Spanien. Dort frieren sie jetzt. Recht geschieht es ihnen! Ich kann meinen Schwager nicht leiden. Er ist ein großer Pedant, und, unter uns sei es gesagt, ich glaube sogar, daß er ein großer Einfaltspinsel ist! Er wird bei meiner Schwester einen sehr schweren Stand haben.«
Lächelnd lauschte Estelle diesem Wortschwall, welchen von Zeit zu Zeit ein kindliches Lachen unterbrach. Diese unschuldige Freude, dieses Vertrauen in die Liebe und das Leben eröffneten ihr die Aussicht auf eine sonnenbeschienene liebliche Gegend. Aus ihrem Gefängnisse, in welchem sie nunmehr seit zehn Monaten schmachtete, erblickte sie eine lachende grüne Wiese, von glücklichen Menschen belebt.
Ihre gütige Natur, ihr überaus zartes Empfinden ließen sie nicht den leisesten Neid ob dieses Glückes empfinden, welches nicht für sie vorhanden zu sein schien. Voll Freude vernahm sie das Geplauder ihrer ehemaligen »kleinen Tochter«, und diese Freude verlieh ihrem jungen Antlitz einen rührenden mütterlichen Ausdruck.
Sie strich mit der Hand über das goldene Haar, welches sie im Erziehungsinstitut so häufig gekämmt und geglättet. Wer hätte ihr damals gesagt, daß ihr diese Zeit des Lernens und der Abgeschiedenheit zehn Monate nach ihrer Verheiratung in lieblichem Lichte erscheinen werde?
»Und nun ist die Reihe an dir,« sprach die junge Frau und küßte Estelle von neuem. »Sieh, da brachte ich dir einen Veilchenstrauß, den ich für dich kaufte. Denke dir nur, ich kam zu Fuß! Zu Fuß und allein, ohne Zofe, während ich früher nicht einmal meine Nasenspitze ohne Begleitung ins Freie zu führen wagte! Es ist aber auch so drollig! Pflegst du allein und zu Fuß auszugehen?«
»Nein,« erwiderte Estelle, sich daran erinnernd, daß es ihr noch niemals in den Sinn gekommen war, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen. »Doch bei mir ist das etwas ganz anderes.«
»Ja, das ist wahr,« sagte Odelle, auf ihre noch immer ganz in Trauer gekleidete Freundin blickend. Sie zögerte ein wenig und fuhr dann fort: »Sage mal, Estelle, ist es wahr, was man sich erzählt?«
»Was denn, mein Kind?« fragte Estelle heftig pochenden Herzens.
»Daß sich dein Mann an deinem Hochzeitstage erschoß?«
»Ja, es ist wahr?«
»Gleich, nachdem ihr aus der Kirche nach Hause gekommen?«
»Ungefähr. Bald, nachdem ihr fortgegangen seid.«
»Und du weißt nicht, weshalb er sich erschoß?«
»Nein.«
Die kleine Frau Aumoge war verwirrt.
»Weißt du, daß man sehr viel Schlechtes von dir spricht?« fragte sie endlich, gleichsam gegen ihren Willen.
»Ich weiß es.«
»Ich glaubte niemals ein Wort davon,« fügte Odelle lebhaft hinzu. »Und meine »kleine Mama« ist mir heute gerade so lieb, wie früher.«
Ein Kuß besiegelte diese Worte. Dann fragte Odelle, ohne Estelle anzublicken und ihren Muff hin und her drehend:
»Aber dann befindest du dich ja in derselben Lage, als wärest du niemals verheiratet gewesen?«
»Ungefähr!« erwiderte Estelle.
»Arme Estelle! Du hast auch immer nur Kummer erfahren. Wenn ich meinen Hubert verlieren würde – oh!«
Sie erschauerte und ihre Wangen erbleichten.
»Du bist also glücklich?« fragte Estelle von neuem, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben.
»Glücklich? Es scheint mir, als befände ich mich im Himmelreich! Denn die Ehe ist ja ein Himmelreich! Ich weiß übrigens nicht, ob meine Schwester derselben Ansicht ist! Die mit ihrem verschlafenen Tölpel von Gatten! Weißt du, daß er kahlköpfig ist und einen Backenbart trägt, der ist so lang. Er sieht aus wie ein Notar, doch nicht wie ein geistreicher Notar! Dagegen hat er viel Geld; viel mehr als wir! Er besitzt ausgedehnte Weinanlagen und pflegt es hochmütig zu betonen, daß er Weingartenbesitzer ist. Du solltest mal hören, wie er damit prahlt! Na, mir ist ein Husarenoffizier lieber als ein Weingartenbesitzer! Nun muß ich aber eilen. Denke dir doch, wenn mein Gatte nach Hause kommen und mich nicht daheim antreffen würde! Niemand weiß, wohin ich gegangen.«
»Wirst du ihm sagen, wo du warst?« fragte Estelle, mit einem Male ernst werdend.
»Gewiß, gewiß,« erwiderte Odelle leichthin. »Mein Dejeuner ist bereits bestellt. Hoffentlich wird meine Köchin die weichen Eier nicht zubereiten, bevor ich zu Hause bin. Auf Wiedersehen, kleine Mama! Und bald! Ich muß schon einen Wagen nehmen. Das wird auch sehr lustig sein. Noch nie im Leben habe ich einen Mietwagen bezahlt! Ach, ich werde doch meine Börse nicht verloren haben? – Nein, da ist sie!«
Mit komischer Angst suchte sie in der Tasche. An der Tür blieb sie stehen und blickte nochmals im Zimmer umher.
»Arme Estelle, immer allein! Mich würde jetzt schon der Kummer umbringen, wenn ich allein sein müßte. Du aber hattest ja sozusagen keinen Gatten. Zwei oder drei Stunden verheiratet zu sein, das ist ja nichts! War er schon tot, als du ihn sehen konntest?«
»Ja,« erwiderte Estelle ernst.
»Schrecklich! Und man kann nicht wissen – – er war doch nicht bei Verstand, wie?«
»Ich hoffe es,« antwortete Estelle, doch Odelle hörte das nicht mehr.
Nachdem ihre kleine Freundin gegangen, kehrte Estelle in das von Veilchen durchduftete Zimmer zurück. Sie ist in der Tat immer allein. Zwei oder drei Stunden verheiratet zu sein, das ist nichts. Ihr Leben ist tatsächlich ein verfehltes Leben.
Langsam kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück und nahm neuerdings ihre Rechnungen vor. Die begonnenen Addierungen wollten durchaus nicht vonstatten gehen, die Gedanken der Rechnerin schweiften immer wieder ab, hin zu Odelle, in das neu eingerichtete, elegante, bequeme Nest, wo ein Husarenleutnant die junge Frau erwartet. Mit glänzenden Augen, geöffneten Lippen kehrt Odelle heim; der Gatte lacht, daß der Morgenspaziergang sie derart erhitzte; auf dem Speisezimmertisch stehen Blumen, welche der Gatte gebracht hat; in den Kristallgefäßen blinkt das Wasser und der Wein, wenn die Sonne darauf scheint. Beide setzen sich vor dem Tisch nieder und lachen; die weichen Eier sind inzwischen schon hart geworden, und darüber lachen sie von neuem.
Estelle schob die Rechnungen beiseite, stützte beide Arme auf den Tisch und, das Gesicht in die hohle Hand stützend, vergoß sie bittere Tränen, gleich einem bestraften Kinde.