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Es war für Estelle ein ganz neues und eigentümliches Gefühl, sich ganz allein mit einem Manne fern von Paris, fern von alledem zu sehen, was sie bisher gekannt. Ihre erste Regung war dennoch die der Freude. Seit früh morgens im Eisenbahnwaggon sitzend, lastete die Einsamkeit so schwer auf ihr, daß ihr der Anblick des Freundes eine außerordentliche Freude bereitete.
Benois führte sie sofort in einen kleinen Gasthof, welcher zwar alt und sonderbar, doch sehr rein aussah und in der Nähe der Eisenbahn lag. Ueber eine ziemlich dunkle Treppe ins Stockwerk emporschreitend, gelangte Estelle in ein lichtes, freundliches Zimmer; Benois folgte ihr.
»Verzeihen Sie mir,« sprach dieser, nachdem er sie hineingeführt, »daß ich Ihnen keinen Salon anzubieten vermag. Doch existiert in ganz Vitré keine derartige Lokalität, und so muß ich Sie denn hier empfangen.«
Estelle lächelte unbefangen. Das schöne Gasthofzimmer mit seinem Spiegelkasten und runden Mahagonitisch erinnerte in nichts an ein Schlafzimmer. Selbst das mächtige, hohe, mit blaugewürfelten Vorhängen versehene Himmelbett schien eher ein für einen unbekannten Gebrauch bestimmter Gegenstand, denn eine Lagerstätte zu sein.
Estelle ließ sich auf das im Zimmer befindliche Sofa nieder, während Benois ihr gegenüber, am anderen Ende des Tisches, Platz nahm.
»Ich bin früh morgens hier angelangt,« begann er, »und habe bereits mit Gerichtspersönlichkeiten Rücksprache genommen. Ich fürchte, daß Rosalie in Vitré nicht zu finden sein wird.«
Das Gesicht der jungen Frau verlor den Ausdruck der Lebhaftigkeit und eine Blässe trat an die Stelle derselben, die Benois überaus schmerzlich berührte.
»Wenigstens finden wir aber ihre Spur hier,« beeilte er sich hinzuzufügen. »Ich habe gehört, daß sie tatsächlich hier gewohnt hat: doch hatte ich noch keine Zeit, in Erfahrung zu bringen, wann sie den Ort verließ, wenn sie tatsächlich nicht mehr hier sein sollte.«
»Es ist schon genug, wenn wir soviel wissen,« sagte Estelle, wieder mutiger werdend.
»Nun denn, wenn Sie wollen, können wir ein kleines Haus aufsuchen, welches man mir gewiesen und von einer alten Frau bewohnt wird, die Rosalie kannte, ja vielleicht mit ihr verwandt ist.«
»Gehen wir sofort,« erwiderte Estelle und stand auf.
Sie brachen auf und schritten miteinander durch die unebenen, hügeligen Gassen der Stadt, zwischen den alten Häusern dahin, in deren Fenstern früh aufblühende Topfgewächse, üppige Rosen und grünes Laub die Stelle der Vorhänge vertraten und die Neugierde von den sich innerhalb der Mauern befindlichen Frauen fernhielten, die, mit den verschiedensten Arbeiten beschäftigt, hinter dem Fenster saßen, wie das auf den Gemälden der alten niederländischen Meister zu sehen ist.
Estelle blicke nach rechts und links in die niedrigen Fenster, um nach Rosaliens Gesicht zu spähen, dessen Züge im Verlaufe der schlaflos verbrachten Nacht mit überraschender Deutlichkeit in ihrer Erinnerung erwacht waren. Zuweilen blieb sie beim Anblick eines Gesichtes plötzlich stehen: ein freundlich blickender Frauenkopf wandte sich ihr zu, neugierig Gesicht und Kleidung der Pariserin betrachtend, die gleichsam eingeschüchtert, gesenkten Hauptes weiterschritt.
So gelangten sie bis zum Hauptplatze, wo die mit einem herrlichen Erker geschmückte Marienkirche steht. Dort wandten sie sich um eine Ecke und kehrten in einem engen Hofe ein, dessen Steinpflaster stellenweise mit grünem Moos bedeckt war.
Benois öffnete eine Tür, und Estelle befand sich mit einem Male in einem hohen, geräumigen Zimmer, welches herrliche Ueberreste der Renaissancezeit aufwies.
Das rosige Fleisch der neben den Fenstern aufgehängten und erst vor ganz kurzer Zeit geschlachteten Schweine leuchtete in dem heiteren Lichte gleich einem kostbaren Zeug. Vor dem Kamine, dessen Aufsatz gleich einem prächtigen Goldschmiedekunstwerk ausgearbeitet war, dessen feine Einzelheiten aber von dicken Rauchschichten bedeckt waren, saß eine alte Frau auf einem Schemel und wärmte sich die knochigen, zitternden Hände an der eingebildeten Wärme einiger verkohlter Holzstücke.
Als sie im Türrahmen den hochgewachsenen Herrn mit der ihn begleitenden Dame erscheinen sah, heftete sie den beinahe erloschenen Blick der blaßgrauen Augen auf die Eintretenden. Estelle gedachte unwillkürlich der Parzen, die den Faden des menschlichen Geschickes in ihren Händen halten.
»Verzeihen Sie mir, gute Frau,« begann sie, da sie dachte, ihre Stimme werde die Alte angenehmer berühren, als die ihres männlichen Begleiters. »Sind Sie vielleicht mit Rosa Férol verwandt?«
Die »gute Frau« ließ ihren zitternden Blick von einem zum andern schweifen und endlich auf Estelle ruhen, ohne indessen eine Antwort zu geben.
Inzwischen war der dicke, heiter blickende Selchermeister in das Zimmer gekommen und ließ sich die Frage erklären.
»Rosalie war die Kammerfrau meiner Mutter,« sprach Estelle einigermaßen befangen, da sie stets gewöhnt war, die volle Wahrheit zu sagen, und es ihr daher schwer ankam, einen Teil derselben zu verschweigen. »Ich möchte gerne wissen, wo sie sich aufhält, da ich vieles mit ihr zu besprechen hätte.«
»Rosalie war Kammerdienerin der Frau Brunaire,« sagte plötzlich die alte Frau, von der man bisher hätte meinen sollen, sie höre oder verstehe gar nicht, was um sie her vorging. »Der Frau Brunaire,« wiederholte sie nachdrücklich.
»Das war meine Mutter,« erwiderte Estelle sanft. »Sie ist bereits tot.«
»Seit sehr langer Zeit!« sprach die alte Frau streng, ohne den Blick von ihr zu verwenden. »Diese Trauer tragen Sie nicht für sie.«
»Nein, sondern für meine Tante,« entgegnete Estelle, die Benois nicht anzublicken wagte.
Sie fühlte, daß sie sich in Begleitung dieses Mannes nicht als Witwe ausgeben könne. Glücklicherweise kümmerte sich die alte Parze gar nicht darum, da sie die beiden einfach für Mann und Frau ansah.
»Sie sind also das kleine Fräulein Brunaire?« fragte sie, noch immer unbeweglich verharrend. »Und was wollen Sie mit Rosalie?«
»Sagen Sie ihr, daß Sie ihr Geld zu geben gedenken.« flüsterte Benois seiner Begleiterin englisch zu.
Estelle richtete einen schmerzlichen Blick auf ihn. Benois begriff, daß diese Frau unfähig sei, ein unwahres Wort über ihre Lippen zu bringen.
»Die Dame ist großjährig,« sprach Benois daher selbst, »und erhielt das freie Verfügungsrecht über ihr Vermögen. Sie möchte demnach etwas für die treue Dienerin ihrer Mutter tun.«
»So?« fragte die alte Frau, indem sie ihren Blick von Estelle auf Benois gleiten ließ.
»Und darum,« fuhr dieser fort, »möchten wir wissen, wo Rosalie jetzt wohnt. Lebte sie nicht vordem in Vitré?«
»Doch,« sprach jetzt der dicke Mann, »indessen hat sie den Ort schon vor fünf Jahren verlassen.«
Estelle blickte Benois an.
»Ging sie vielleicht nach Laval?« fragte sie lebhaft.
Der Mann richtete einen erstaunten Blick auf sie.
»Nach Laval? O nein! Weshalb auch? Denke nicht, daß sie je im Leben in Laval gewesen.«
Estelle fühlte ihren Mut sinken. Benois trat näher zu ihr und berührte ihr Kleid, wie um ihr zu sagen, daß er ja bei ihr sei und sie nichts zu fürchten habe.
»Sie pflegen aber zuweilen nach Laval zu gehen?« wandte er sich lächelnd an den Mann.
Dieser lachte.
»Ich? Natürlich! Auf dem Markte zu Laval pflege ich ja meine Schweine zu kaufen.«
»Ich könnte wetten, daß vor gar nicht langer Zeit in Laval Markt war. Diese Schweine sind offenbar von dort,« sagte Benois.
»Nein, Herr, das sind hiesige Schweine,« erwiderte der Selcher, dem es schmeichelte, daß der feine Pariser Herr sich für seine Angelegenheiten interessierte.
»Die in Laval gekauften habe ich vorige Woche verkauft. Der Markt ist stets am ersten Montag des Monats.«
Mit einem Male war Estelle alles klar geworden. Ihre Vermählung war an einem Dienstag gewesen. Den Brief hatte also der Selcher am Montag in Laval zur Post gegeben.
»Verweilte Rosalie vergangenes Jahr lange hier?« fragte Estelle lebhaft.
»Gar nicht lange,« erwiderte der Selcher arglos. »Am letzten Tage des April kam sie für kurze Zeit hierher; dann, ich weiß gar nicht, was ihr in den Sinn kam, ging sie nach einer Woche wieder weg, kaum, daß ich vom Markt zurückgekommen war.«
»Und haben Sie den Brief aufgegeben?« fragte jetzt Benois, wider Willen erregt. »Vergaßen Sie es nicht?«
»Gewiß nicht, wie hätte ich das vergessen sollen?«
»Wußten Sie, an wen der Brief gerichtet war?« fragte Benois mit vor Erregung zitternder Stimme weiter.
»Nein, das weiß ich nicht; ich kann nicht lesen.«
Benois atmete tief auf.
Um dem Blick der alten Frau auszuweichen, schritt Estelle auf die andere Seite des Kamins, als betrachtete sie mit großer Aufmerksamkeit die Verzierungen desselben.
»Ein schöner Kamin!« sagte der Selcher. »Es kommen sehr viele Leute, um denselben zu besichtigen.«
Um ihre Verwirrung zu verbergen, betastete Estelle mit den Fingern die Konturen einer steinernen Arabeske. Ihr Herz pochte so heftig, daß sie fürchtete, sie könne überhören, was gesprochen wird.
»Rosalie wurde in diesem Hause geboren, nicht wahr?« fragte Benois.
»Nein; sie ist keine Hiesige, obgleich ihre Mutter hier wohnte, als das Mädel noch klein war.«
»Wohin ist sie also zuständig?«
»Nach Mont-Saint-Michel.«
»Ich dachte, sie wäre hierher nach Hause gekommen,« sagte Estelle zitternd.
»Nach dem Tode ihrer Dienstherrin kam sie tatsächlich hierher: doch ward sie des Hierwohnens überdrüssig, ich weiß nicht, weshalb, und so ging sie fort.«
»Wohin?« fragte jetzt Benois, da er fürchtete, die Aufregung Estelles könnte die alte Frau mißtrauisch machen.
»Ach, sie ging nach vielen Orten, bitte schön. Wenn sich die gnädige Frau noch erinnert, so wissen Sie, daß das ein sehr sonderbares Mädel war. Sie setzte es sich in den Kopf, eine Pilgerfahrt zu unternehmen, und soviel ich weiß, besuchte sie sehr viele Kirchen.«
»Doch was glauben Sie, wo könnte man sie finden? Wir möchten ihr je eher übergeben, was ihr gehört.«
»Das ist schon nicht meine Sache,« sagte der Selcher verwirrt. »Wissen Sie es, Mutter?«
Die alte Parze streckte die Hand nach Estelle aus, die fast ohnmächtig am Kamin lehnte.
»Sind Sie denn wirklich das Fräulein Brunaire?« fragte sie, sie mit den glanzlosen, hinterlistig argwöhnischen Augen anblickend.
»Ja, ich bin es,« erwiderte Estelle im Tone der Wahrheit.
»Schwören Sie darauf beim Vater, dem Sohne und dem heiligen Geiste,« sprach die alte Frau rauh.
»Ich beschwöre es,« sagte Estelle, die Eidesformel gehorsam wiederholend.
»Zeigen Sie ihr das Bild,« flüsterte Benois Estelle zu.
Diese nahm ein kleines Täschchen aus Korduanleder hervor, welches sie an der Seite hängen hatte, entnahm demselben das Gebetbuch, öffnete es und zeigte der alten Frau das Bild der heiligen Rosalie.
»Sehen Sie, sie selbst hat meinen Namen hierhergeschrieben.«
Die alte Frau und ihr Sohn drehten und wendeten das Bild mit sichtlicher Ehrfurcht in ihren ungeschickten Händen: dann reichte es der Selcher Estelle zurück.
»Wir können nicht lesen,« sagte er, »doch ist es offenbar die Schrift Rosaliens, da es die gnädige Frau sagt. Wir glauben es auch.«
Die alte Frau wurde gleichfalls freundlicher.
»Denn wenn Sie gekommen wären, um Rosalie zu quälen, so würde ich Ihnen gewiß nicht sagen, wo sie wohnt,« sprach sie. »Rosalie hat einen schwachen Kopf, doch ihr Herz ist gut. Jetzt wohnt sie in Mont-Saint-Michel, in dem Hause ihrer Großmutter. Sie erbte es erst vor kurzem. Sie können ihr schreiben. Gib her, mein Sohn, ihre Adresse – dort ist sie im Fache. Mont-Saint-Michel ist aber gar weit.«
Benois nahm jetzt den Arm Estelles und legte ihn fest in den seinigen, damit sie sich auf den Füßen zu erhalten vermöge.
»Ich danke Ihnen recht schön,« sagte er, während er das fertige Papier an sich nahm, welches ihm der Selcher überreichte. »Verzeihen Sie die Störung. Gute Nacht.« Als sie draußen waren, blickte Benois auf Estelle, die sich gleich einem kleinen Kinde führen ließ.
»Wie Sie zittern!« sprach er sanften Tones. »Bitte, treten Sie etwas fester auf, damit wir kein Aufsehen erregen.«
Hochaufgerichtet schritt Estelle bis zum Gasthofe, der glücklicherweise nicht weit war. In dem freundlichen Zimmer angelangt, sank sie indessen erschöpft auf das Sofa.
»Sie benötigen der Ruhe,« sagte Benois und wollte das Zimmer verlassen.
Estelle blickte ihn entschlossen an.
»Reisen wir nach Mont-Saint-Michel, noch heute abend, oder sofort, wenn der Zug verkehrt. Ich möchte nicht, daß man Rosalie noch früher unterrichten könnte. Sie würde die Flucht vor uns ergreifen. Nun bin ich überzeugt, daß die Person etwas Furchtbares getan, und ich werde nicht schlafen können, bevor ich sie gefunden.«
»Gut,« sagte Benois einfach und ging hinaus, um die nötigen Reisevorbereitungen zu treffen.