Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Frau von Montelar hatte den tödlichen Streich erhalten. Stark in ihren edlen Absichten und Entschlüssen, vermochte sie den Schwierigkeiten des sich fortwährend erneuernden Kampfes nicht Stand zu halten. Sie trat den unaufhörlichen Angriffen entgegen, so gut es ihr möglich war; doch in dem letzten Zusammentreffen zerbrach die Feder, welche ihre Kräfte bisher künstlich aufrecht erhalten.
Noch einige Tage spielte sie ihre Beschützerrolle weiter. Durch ihre Nichte ließ sie Briefe an Bekannte schreiben, die sie sich einlud. Sie kleidete sich an, das heißt, sie ließ sich ankleiden, um die geladenen Gäste empfangen zu können und in deren Gegenwart Estelle ostentativ mit einer Liebe und Achtung zu umgeben, mit welcher sie niemandem gegenüber sonderlich freigebig war.
Diese Anstrengungen erschöpften ihre letzten körperlichen und seelischen Kräfte und erhielten sie in einem fortwährenden Fieber. Mit den von schwarzen Rändern umgebenen fieberglühenden Augen war sie nur mehr der Schatten der einstigen schönen Frau von Montelar.
Estelle, die bis zu Tränen gerührt war, umgab sie mit kindlicher Liebe und Sorgfalt. Beide Frauen heuchelten eine ruhige, ja sogar heitere Stimmung, um die andere zu betrügen und, wohl wissend, daß dies keiner von beiden gelang, spielten sie diese schmerzliche Komödie festen Vertrauens weiter.
Eines Vormittags begab sich Estelle in das Zimmer ihrer Tante; ihr nach brachte man das Frühstück der Kranken. Sie fand Frau von Montelar regungslos, vollkommen unempfindlich auf einer Chaiselongue. Ihre Augen hatten keinen Glanz, ihre Züge keinen Ausdruck und der Arm hing schlaff an dem gänzlich hilflosen Körper herab.
»Liebe Tante,« rief Estelle entsetzt aus, indem sie sich vor ihr auf die Knie niederließ, »sehen Sie, daß ich hier bin? Hören Sie, was ich spreche?«
Die Kranke machte eine schwache Bewegung. Estelle erhob sich und flößte ihr in einem Löffel etwas stärkende Tropfen ein. Darauf schickte sie zum Arzt und kehrte zu der Kranken zurück.
Diese konnte zwar noch nicht sprechen, atmete aber bereits ruhiger. Ihr Auge drückte klare Vernunft und volle Zärtlichkeit aus. Instinktiv, ohne zu überlegen, was sie tat, eilte Estelle zum Schreibtisch hin, um Benois drei Worte zu schreiben: »Kommen Sie sofort.«
Sie unterschrieb und schickte das Blatt sofort weg.
Der Arzt war alsbald zur Stelle und gab wenig Hoffnung: die Lampe war dem Erlöschen nahe, das Oel erschöpft. Der Tod wird nicht schmerzlich sein, kann aber jeden Augenblick eintreten.
Als Estelle, nachdem sie den Arzt hinausbegleitet, ins Zimmer zurückkehrte, winkte Frau von Montelar sie mit dem Blicke zu sich.
»Er sagte, daß ich sterben werde?« fragte sie sehr reinen, doch dünnen, schwachen Tones. »Höre mich an, Estelle.«
»Ich flehe Sie an, teure Tante, strengen Sie sich nicht unnütz mit dem Sprechen an,« bat Estelle.
»Höre mich an,« wiederholte die Sterbende ungeduldig, »ich habe dir alles gegeben, was ich selbst besessen. Freunde aber kann ich dir nicht geben – ich habe selbst keine mehr! Du wirst allein, dessenungeachtet aber tapfer, unerschrocken sein, ich bin überzeugt davon. Du bist eine echte Bertolles gleich mir.«
Sie legte die Hand auf die Stirne ihrer Nichte. Der Druck der Hand bog das schöne Antlitz zurück, welches stolze Ergebung ausdrückte. Die schwarzen Augen der Sterbenden versenkten sich in die schwarzen Augen der jungen Frau, die von Tränen verdunkelt waren. Es schien, als wollte die alte Frau die Seele ihrer Nichte mit diesem langen Blick erforschen, welchen bloß ein gänzlich vorwurfsfreies Gewissen auszuhalten vermochte.
»So war auch ich,« sprach die Sterbende, die bereits zu phantasieren begann. »Doch das Leben hat mich erschöpft, abgenützt. Du bist noch jung; du wirst kämpfen, mutig, unentwegt, wie eine echte Bertolles, wie eine echte –«
Plötzlich wurde ihr Blick lebhafter. Sie zog das Gesicht, welches sie mit solcher Aufmerksamkeit betrachtete, näher zu sich und besichtigte es noch schärfer, wobei ein sonderbar unruhiger Ausdruck auf ihrem Antlitz erschien, welches sich mit einer lebhaften Röte bedeckte.
Zweimal schien sie eine Anstrengung zu machen, um etwas zu fragen, was ihren müden Geist aufregte; doch vermochte sie nicht zu sprechen. Dann sank ihre Hand herab, ihr Gesicht erbleichte, ein Seufzer trat über ihre Lippen, ihre Augen schlossen sich. Sie verharrte regungslos.
Estelle erschrak und neigte sich über sie. Geschlossenen Auges lag die Sterbende da und leisen Tones sprach sie:
»Mein Gatte – dann mein Bruder – dann Raymond – – alle verließen mich, die ich liebte. – Dann kamst du, und jetzt gehe ich. – Armes Kind!«
Ein zweiter, noch tieferer, schmerzlicherer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Dann schien es, als würde sie sich beruhigen und einschlafen.
Geräuschlos öffnete die Dienerin die Tür, um gar nicht mit Worten, sondern nur mit der Bewegung der Lippen zu melden:
»Herr Benois!«
Estelle blickte ihre Tante an und sah, daß sie sie unbesorgt der Obhut der Kammerfrau überlassen könne, die sie ihren Platz einnehmen hieß. Sie selbst aber ging hinaus und empfing den jungen Mann in dem anstoßenden Gemach.
Benois wartete unruhig auf sie, und als Estelle ihn anblickte, wußte er, daß die junge Frau auch ihre letzte Stütze verloren habe.
Erschüttert streckte er ihr beide Hände entgegen. Estelle legte ihre zwei Hände in dieselben und blickte ihn dabei unverwandt mit dem düsteren, beinahe verzweifelten Ausdruck ihrer Augen an.
»Nun habe ich nichts, niemanden mehr,« besagte dieser Blick. »Hilflos werde ich von den Wellen umhergeworfen, um an irgendeinen unbekannten Strand gespült zu werden. Nichts, niemand mehr.«
Plötzlich sah Benois in den großen schwarzen Augen etwas, wovon er vom Scheitel bis zur Sohle erschauerte.
War das eine Aufforderung? Er dachte nicht nach darüber. Mit beiden Händen, die Estellens zwei Hände gefaßt hielten, zog er sie an sich; darauf breitete er beide Arme und legte dieselben schützend um die Schultern der jungen Frau.
Estelle widerstrebte nicht. Sie senkte den Kopf und genoß die tiefe, ernste Freude, einen Beschützer gefunden zu haben. Die beschützenden Arme bildeten den Ausdruck der die Schwäche beschirmenden Stärke und bedeuteten keine bloße Umarmung.
Benois faßte es in demselben Sinne auf, denn seine Arme lösten sich sofort, während er selbst einen Schritt zurücktrat, ohne daß sein Gesicht etwas von seinem ernsten, beinahe rauhen Ausdruck verloren hätte.
Estelle blickte ihn neuerdings an, nunmehr aber mit sanfter Ergebenheit, wie Benois noch niemals ähnliche in den schwarzen Augen wahrgenommen, die jetzt so unsäglich bezaubernd waren.
»Meine Tante liegt in den letzten Zügen,« sagte Estelle, ohne den Blick von Benois abzuwenden.
Sie empfand eine unaussprechliche, betäubende Freude bei dem Gedanken, daß sie Benois liebe.
»Sie werden nicht allein bleiben,« erwiderte Benois. »Ich werde in jedem Augenblick, wann immer Sie es wünschen sollten, an Ihrer Seite sein.«
»Das kann nicht sein,« entgegnete Estelle, die der Instinkt ihrer Liebe mit einem Male vorsichtig und scharfblickend machte.
Sie errötete bei diesen Worten und senkte verwirrt den Blick zur Erde.
»Gleichviel,« sprach Benois ein wenig ungeduldig; »zu solchen Zeiten dürfen Sie nicht allein bleiben.«
Estelle hatte ihre Ruhe wiedergewonnen. Langsam streckte sie die erhobene Hand nach dem Arm des jungen Mannes aus, auf den sie dieselbe sodann sinken ließ.
»Ich fürchte mich nicht vor dem Alleinsein; auch nicht vor dem Anblick des Todes, doch fürchte ich mich vor den bösen Zungen.«
»Haben dieselben nicht schon hundertmal Schlechteres gesagt?« fragte Benois.
»Ja,« entgegnete Estelle lebhaft, »doch – sagten sie da nicht die Wahrheit?«
Und sie wich zurück, wie erschreckt darob, daß ein solches Wort über ihre Lippen treten konnte.
Die gute Erziehung verschließt unter gewissen Umständen den Mund von Mann und Weib mit einem unverletzlichen Siegel. Von alledem, was ihre Herzen erfüllte, konnten sie jetzt einander gar nichts sagen, und dessenungeachtet verstanden sie einander, als hätten sie ausführliche Unterredungen gepflogen.
»Frau von Montelar ist also endgültig verloren?« fragte Benois, als hätte er die ihn erfüllende große Freude verbergen wollen.
»Es handelt sich nur mehr um Stunden.«
»Dann bitte, geben Sie mir die Namensliste Ihrer Bekannten. Zu Hause werde ich alles Nötige besorgen. Gestatten Sie, daß ich sodann wiederkomme?«
»Gewiß – des Abends. Wenn sich früher etwas ereignen sollte, so werde ich Sie benachrichtigen.«
»Ich danke. Und nun bitte ich um die Namensliste.«
Estelle trat an den Schreibtisch, nahm von dort ein Buch und reichte es Benois hin.
»Jedenfalls mühte auch der alte Verwandte, Herr Mailly, benachrichtigt werden,« sagte sie dabei.
»Schreiben Sie ihm,« erwiderte Benois, »das weitere übernehme ich. Aengstigen Sie sich nicht und kümmern Sie sich um nichts.«
Estelle hörte ihm mit wohltuender Ruhe zu. So neu erschien ihr dieses Gefühl, so frisch und feurig fühlte sie das prickelnde Blut durch ihre Adern rollen, während diese ruhige Stimme zu ihr sprach, die ihr jetzt so melodisch und zärtlich deuchte.
»Ich danke Ihnen,« sprach sie, und tatsächlich verriet ihre Stimme in diesen drei Worten ein tiefes, inniges Dankgefühl.
»Lassen Sie sich nicht aus Ihrer Ruhe bringen, was auch geschehen mag,« sprach Benois von neuem. »Kümmern Sie sich nicht darum, was man auch sagen wird. Sie sind hier unumschränkte Gebieterin und werden sich Achtung zu erwerben verstehen, wie?«
»O, dafür bürge ich,« erwiderte Estelle mit stolzem Lächeln. »Weshalb blicken Sie mich so an?« fügte sie mit einem Male hinzu, da das ruhige und Zärtlichkeit bekundende Gesicht des jungen Mannes einen sonderbar verwirrten Ausdruck annahm.
»Ich weiß es nicht,« erwiderte Benois, mit der Hand über die Stirne streichend. »Ich bin gewiß erschöpft. Seit einiger Zeit scheint es mir, als wäre mein Auge geschwächt. Doch, es ist ja nichts.«
»Aber –« wandte Estelle ein.
»Ihre Augen erinnerten mich an etwas, doch in dem Moment, da ich es gewahrte, hatte ich bereits vergessen, woran ich gedacht. Dies pflegt häufig zu geschehen, – verzeihen Sie mir! Haben Sie Vertrauen zu mir? Sprechen Sie!«
»Ja,« erwiderte Estelle einfach.
»Also auf Wiedersehen heute abend!«
Mit einer eigenartigen Empfindung des Glanzes, der Heiterkeit kehrte Estelle in das Zimmer der Kranken zurück. Der Anblick dieser an der Schwelle des Todes stehenden schlafenden alten Frau wirkte nicht nur nicht erschreckend oder betrübend auf sie, sondern erhöhte sogar ihre merkwürdige Ruhe.
Es war das die Empfindung eines Schiffers, der nach zahlreichen Fährlichkeiten den sicheren Hafen erreicht, den Abschluß einer langen, ermüdenden Reise, die Ruhe nach den Kämpfen des Lebens.
Eine Stunde früher hatte Estelle ihre Tante beneidet, da dieselbe dem Tode so nahe stand, daß die ewige Ruhe bereits auf sie wartete. Jetzt empfand sie neue Kräfte in sich. Das Leben war es wert, daß sie für dasselbe litt und kämpfte, ihre Hände an den Dornen verwundete; möge der durstige Staub des Weges die aus ihren Wunden quellenden Blutstropfen aufsaugen, sie wird dennoch um die Ehre kämpfen und noch um etwas, das ohne Ehre gänzlich wertlos wäre und das die Ehre nur um so größer und hehrer gestaltet.
Und bei diesen Gedanken fühlte Estelle ihr Herz vor Freude und Keuschheit schwellen. Inmitten der Tränen, Demütigungen und Leiden aller Art war er dennoch gekommen, der unbekannte Gast, der stille Besucher, der nicht an die Tür pocht, sondern einem Herrn gleich dreist ins Haus tritt.
Die Witwe, die noch nicht Frau gewesen, in deren Seele noch alle jungfräuliche Empfindung unberührt geblieben, sie fühlte, daß sie liebe.
Der Groll, den sie seit einiger Zeit gegen das Andenken Raymonds empfand, war mit einem Male verschwunden, und an dessen Stelle tiefes Mitleid getreten, welchem sich eine gewisse Zärtlichkeit beimengte, obschon sich Estelle dies selbst nicht eingestehen mochte. Hätte sie in die Tiefe ihrer Seele zu blicken gewagt, so würde sie ihm dort vielleicht Dank dafür gesagt haben, daß er gestorben war und sie jetzt unbehindert – einen anderen lieben könne.