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Noch am Abend desselben Tages beschäftigte sich ganz Saint-Aubin mit Frau von Bertolles. Die traurige Begebenheit, die sich vor genügend langer Zeit zugetragen, damit sich niemand ihrer erinnere, hatte noch nicht Zeit gefunden, in gänzliche Vergessenheit zu geraten, und da jedermann zu mindest ebensogut unterrichtet zu sein wünschte, wie sein Nachbar, so erinnerte man sich der spärlichen Einzelheiten, die seinerzeit in den Blättern erschienen waren.
Während Frau von Montelar und ihre Nichte von den einzelnen Gruppen in Atome zerlegt wurden, promenierten sie ruhig am Meeresstrand und bewunderten den Sonnenuntergang. Ihre Gestalten hoben sich schwarz von dem purpurnen Hintergrunde ab, und ein goldener Lichtschimmer umfloß ihre Häupter.
Es war keine wohlwollende Aufmerksamkeit mehr, die sich auf die Beiden lenkte. Ihre Vornehmheit und zurückhaltendes Benehmen hatten schon vordem eine gewisse Gärung bei den wackeren Damen hervorgerufen, die im Seebade um jeden Preis Bekanntschaften schließen wollen und dasselbe auch nur aus diesem Grunde aufsuchen: denn gebadet wird ja nicht.
Im übrigen entsteht eine gewisse Voreingenommenheit gegen solche Personen, die nicht an der Table d'hote, sondern zu Hause speisen, denn es hat für viele Leute etwas Demütigendes, zu wissen, daß die Betreffenden ihre Speisen teurer bezahlen als sie.
Als die beiden Frauen nach Hause gingen und dabei die Gruppen der Badegäste passieren mußten, richteten sich aller Augen auf sie und allgemeine Stille trat ein. Ueberrascht hob Estelle den Kopf empor und begegnete mit einem Male wohl zwanzig Augen, die sich plötzlich auf sie richteten: neugierig von seiten der Frauen, beinahe spöttisch von seiten der Männer.
Einem eigentümlichen Gefühl Folge leistend, zog Estelle ihr Kleid fester um sich, als wollte sie mit dieser Bewegung die Gegner abwehren; doch schritt sie erhobenen Hauptes weiter, mit kalter Miene und der Geringschätzung einer Königin, die es nicht einmal beachtet, daß ihre Untertanen existieren. Frau von Montelar, die zum Glücke kurzsichtig war, bemerkte gar nichts.
Vor dem Gasthofe angelangt, drehte sich die alte Dame zurück, um noch einen Blick auf die scheidende Sonne zu werfen. Estelle folgte ihrem Beispiel und als sie das Auge über den Strand schweifen ließ, erblickte sie den Staatsanwalt Bolvin.
»Ah!« sprach sie zu sich, »nun verstehe ich! Doch was berechtigt diesen Menschen, von mir zu sprechen?«
Ihr Herz begann vor Unmut heftiger zu pochen. Ins Zimmer getreten, gewahrte sie, zum Fenster hinausblickend, eine so merkwürdige Wolkenbildung, daß sie sich nicht zu enthalten vermochte, dieselbe zu betrachten. Ihre Tante folgte ihr, und beide traten auf den Balkon hinaus.
Unten am Meeresstrand wurde das Gespräch fortgesetzt. Einige Personen standen kaum einige Schritte vom Hause entfernt. Die Luft war rein und ruhig, und man konnte einzelne Worte deutlich vernehmen. Estelle vernahm denn auch einige Worte, die etwas lauter als die anderen gesprochen wurden, und sofort ward es ihr klar, daß man von ihr und ihrem Gatten sprach.
»Armer Gauch!« sagte ein Herr lachend. »Es war vielleicht das Beste, was er tun konnte.«
Estelle fühlte einen tiefen, unergründlichen Ekel in sich aufsteigen.
Nicht nur des verstorbenen Raymond, sondern auch ihrer eigenen verletzten Person wegen ward sie von einem Zorn erfaßt, der den Frieden der unschuldigen Seelen gänzlich zu untergraben pflegt. Im Alter von zwanzig Jahren hat noch niemand Geduld gelernt, und Estelle verurteilte endgültig in ihrem Innern all diese Männer und Frauen, die, ihr ganzes Vergnügen im Besprechen eines Skandals findend, keinen Moment daran dachten, daß sie vielleicht zu bedauern sei und vielleicht noch mehr zu bedauern, als der arme Raymond, der bereits im Grabe ruhte.
Staatsanwalt Bolvin hatte dieses Feuer entfacht, und ihm zürnte Estelle am meisten. Er war ihr nicht sympathisch gewesen, als sie ihm zum ersten Male in dem Sterbezimmer ihres Gatten begegnet, und ein unbezwinglicher Widerwillen stieg auf in ihr nebst einer entsetzlichen Verzagtheit, die sich gleich einer starren Leichendecke über sie breitete.
»Jetzt beginnt es erst am Strande lebhaft zu werden,« bemerkte Frau von Montelar mit einem Male. »Wir, die wir außerhalb des Wirbels stehen, können uns daran vergnügen, die Leute von ferne zu beobachten. Sie bieten ein recht absonderliches Schauspiel. Du warst noch niemals in einem Seebade?«
»Noch niemals, Tante,« erwiderte Estelle, unablässig die Gruppen betrachtend, deren verschiedene politische Ansichten in dem gemeinsamen Boden des Klatsches versanken, auf welchem sie einander begegneten.
»Nun denn, du kannst das echte Badeleben, wenngleich nur im kleinen, hier beobachten,« fuhr Frau von Montelar ruhig fort. »Auch hier sieht man die voneinander abgesonderten Gruppen, und wir, auf unserem Balkon hier, sind über alle erhaben. Dies ist auch der angenehmste Standpunkt. Im übrigen hoffe ich, daß Frau Daubray, eine meiner Freundinnen, denen ich geschrieben, nächste Woche hier sein wird: sie wird uns über alles berichten, denn sie ist bewunderungswürdig agil.«
Estelle dagegen hätte am liebsten den Ort verlassen und wäre nach Saumeray zurückgekehrt, um all diesen Blicken und Klatschereien zu entgehen. Doch wie hiervon mit ihrer Tante sprechen, ohne auch des Anwalts zu erwähnen? Sie vermied es stets mit zitternder Scheu, über den Tod ihres Gatten zu sprechen, und zog es vor, zu schweigen.
Die Neugierde, welche die beiden Frauen erregt hatten, war nach drei, vier Tagen ziemlich geschwunden, doch nicht vollständig, indem die Abreise eines Gastes und die Ankunft eines anderen den Gegenstand immer wieder zur Sprache brachte. Zu Estelles größtem Leidwesen war das Wetter herrlich und der September viel schöner und milder, als es der Juli war, so daß die Badesaison viel länger als sonst währte.
Endlich langte auch die sehnlichst erwartete Freundin der Frau von Montelar an.
Es war das eine hohe, magere, dürre, doch liebenswürdige Dame von freundlichen, angenehmen Manieren, eine jener Frauen, die man unbedingt in jedem Hause antrifft, wo man Gastfreundschaft zu üben versteht, die der Hausfrau beim Empfang der Gäste behilflich sind, dieselben einander vorstellen, häßlichen Mädchen zu Tänzern verhelfen und mit Vorliebe Heiraten vermitteln. Ihre Urteilskraft ist gleich Null, eine gewisse Schalkhaftigkeit aber besitzen sie trotzdem. Sie sind viel zu wenig individuell, als daß sie nicht mit jedermann in gutem Einvernehmen stünden, und viel zu wankelmütig, als daß sie eine eigene Meinung hätten. Darum auch ändern sie ihre Ansichten je nach den Anforderungen der Verhältnisse, und zwar in so gutem Glauben, daß sie dadurch schließlich beinahe interessant erscheinen.
Frau Daubray war nicht die Freundin der Frau von Montelar, obschon ihr diese Bezeichnung in Gemäßheit der gesellschaftlichen Verhältnisse gebührt hätte. Es war das eine Freundschaft, wie sie von den in der Gesellschaft lebenden Damen gerne aufrechterhalten wird: man geht miteinander ins Theater, ins Seebad, begegnet einander in Gesellschaften, man plaudert, sieht sich beinahe täglich.
Frau Daubray war Witwe, vollkommen unabhängig und stets bereit, wo immer hinzugehen, wenn sie anderwärts nicht versagt war. Sie verbrachte ihre Zeit gerade sehr langweilig bei einer kranken Verwandten und war es ganz zufrieden, mit Frau von Montelar zusammenkommen zu können, die sie noch nicht zu trösten vermocht, da sie zurzeit des Trauerfalles gerade in Cannes weilte. Auch ergriff sie mit Freuden die Gelegenheit, mit Frau von Bertolles bekannt zu werden, die so schön und interessant war!
Was man von Estelle sprach, wußte sie nicht, da sie schon seit sechs Monaten nicht in Paris war und während dieser Zeit höchstens so lange dort verweilt hatte, um ihre Winterkleider gegen Sommerkleider umzutauschen.
Nachdem die Neuangekommene eine lange Unterredung mit Frau von Montelar gehabt, ging sie auf den Strand hinaus, um nach Bekannten auszuspähen. Es waren noch keine zwanzig Minuten verflossen, als sie schon fünf oder sechs Bekannte aufgestöbert hatte. Estelle, die zumeist auf dem Balkon saß, sah sie von einer Gruppe umgeben, in welcher sich auch Frau Barrière befand, deren Töchter gerade badeten.
Die Zungen rasselten, die Köpfe wurden einander immer näher gebracht und wiederholt sah Estelle neugierige Blicke nach dem Gebäude herüberfliegen. Sie war überzeugt, daß man von ihr sprach.
Es ist ein fürchterliches Gefühl, wenn wir wissen, daß man Schlechtes über uns spricht und wir die Betreffenden nicht zur Rede stellen, nicht zur Rechenschaft ziehen können! Wir wissen, daß man unseren Ruf, unsere Ehre in Stücke zerpflückt und können dafür niemanden verantwortlich machen, denn der Verbreiter der Verleumdung hat keinen Namen und ihr Verkünder ist jene gewisse unpersönliche Mehrzahl: »man sagt«, »es heißt«, die die Mitschuldige, die Hehlerin einer jeden Niedrigkeit, Lüge und Beleidigung ist!
Estelle kannte diese Bitternis und meinte, den Kelch schon mit dem ersten Zuge geleert zu haben. Sie täuschte sich; die Zukunft sollte sie davon überzeugen.
Zur Mittagszeit kam Frau Daubray, die mit den Damen zusammen speisen sollte, zurück. Ihr Gesicht hatte auch jetzt einen lächelnden Ausdruck, Frau von Bertolles gegenüber aber beobachtete sie eine gewisse Zurückhaltung. Dank ihrer Empfindlichkeit gewahrte Estelle diese Nuance sofort, und so kehrte sie ihre stolze Kälte hervor, die einen sehr schlechten Eindruck auf den Gast machte.
Dieser bewaffnete Friede währte zwei oder drei Tage, ohne daß Frau von Montelar etwas bemerkt hätte, – in solchem Maße freute sie sich, jemanden aus ihrer gewohnten Gesellschaft um sich zu haben.
Doch eines Abends konnte es ihr unmöglich verborgen bleiben, daß zwischen ihrer Nichte und ihrer Freundin durchaus kein gutes Einvernehmen bestehe.
»Gefällt dir Frau Daubray nicht?« fragte sie Estelle, die schweigend am Balkongeländer lehnte und in die Betrachtung des Himmels versunken zu sein schien.
»Ich habe keine Meinung über sie,« erwiderte die junge Frau; »dazu kenne ich sie zu wenig. Dagegen fürchte ich, daß ich nicht so glücklich bin, um ihr zu gefallen.«
»O, mein Gott, wann hattet ihr bereits Gelegenheit, euch nicht zu verstehen?« fragte Frau von Montelar sehr überrascht.
Trotzdem Estelle ihre Tante bedauerte und zu schonen wünschte, ward es ihr klar, daß sie jetzt schon sprechen müsse; sie blickte sie daher zärtlich an und legte ihre Hand schmeichelnd auf die schöne weiße Hand, die sich ihr entgegenstreckte.
»Liebe Tante,« sagte sie, »Sie haben mir bisher Ihren freundlichen Schutz zuteil werden lassen; doch nun ist der Augenblick gekommen, da Ihre Aufgabe schwer zu werden beginnt. Auch Sie wissen, daß man mich verleumdet hat; doch ist diese Verleumdung nicht verstummt, sondern hat sich sogar immer weiter ausgebreitet, und auch Ihre Freundin hat deren Widerhall vernommen. Das ist das Ganze.«
»Estelle, dies ist unmöglich!« rief Frau von Montelar erschrocken aus.
»Fragen Sie sie selbst.«
»Wie, du willst, ich solle sie fragen –«
»Ich will, daß Sie, liebe Tante, erfahren sollen, was ich seit einer Woche leide und welchen Unannehmlichkeiten Sie sich aussetzen, indem Sie eine Witwe, wie ich, begleiten. Ich bitte, ich flehe Sie an, sie zu fragen.«
Nach einigem Zögern ging Frau von Montelar wirklich zu Frau Daubray hinüber, die auf demselben Korridor wohnte.
»Seien Sie ganz aufrichtig, Liebste,« sagte sie zu ihr. »Haben Sie über meine Nichte etwas Unangenehmes vernommen?«
Frau Daubray war weder bösartig noch hinterlistig, und da sie begriff, daß die Sache ernst sei, gab sie eine bejahende Antwort.
»Aber wer konnte etwas gesagt haben?«
»Jedermann,« erwiderte Frau Daubray arglos.