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Als Benois gemeldet wurde, sprang Estelle, die doch stets so zurückhaltend war, mit einem Ausruf der Freude von ihrem Stuhl empor.
Die Tür wurde geschlossen. Sie waren allein. Estelle ging Benois entgegen und blieb nach zwei Schritten stehen.
»Ah!« sprach sie mit tiefer Stimme, »ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Gerade wollte ich Ihnen schreiben. Wie gut, wie edel Sie sind!«
Benois war überrascht: er wußte nicht, was ihm geschehe. Estelle trat dicht an ihn heran und berührte mit den Fingern den Leinwandstreifen, der sein Handgelenk verdeckte, und dessen Saum unter dem Handschuh hervorging.
»Sie ließen sich verwunden – meinethalben,« sagte sie. »Ja, erstens meinethalben und dann, weil Sie wissen, daß ich Frau von Aulmoye lieb habe! O, leugnen Sie nicht! Ich habe alles verstanden, erraten!«
»Aber wer hat Ihnen gesagt –« begann Benois.
Estelle deutete auf ein Abendblatt, welches offen auf dem Tisch lag.
»Dort steht es unter den neuesten Nachrichten. Sagen Sie mir die Wahrheit, fand das Duell meinethalben statt? Der arme Mensch hat vielleicht etwas albernen Klatsch getrieben?«
Benois wußte nicht, was er antworten solle, und schwieg, ohne sein Auge von dem schönen Antlitz abzuwenden, welches von einem leidenschaftlichen Ausdruck belebt war und dadurch noch hundertmal schöner als gewöhnlich erschien.
»Und weiß Aulmoye, daß es meinethalben –« fragte Estelle weiter.
»Er weiß es nicht,« erwiderte Benois, »ahnt es nicht einmal.«
»Und Sie schonten, obschon Sie ihn hätten töten können! Ich las es zwischen den Zeilen! Man rühmt Ihre Höflichkeit.«
Benois ergriff das Blatt und durchlas die betreffende Notiz.
»Einer seiner Freunde oder er selbst sandte das ein. Es ist lächerlich.«
»Recht hatten sie, wenn sie es einsandten! Das freut mich!«
In Estelles Augen flammte ein eigentümliches Feuer, ihre offenen Lippen umspielte ein zitterndes Lächeln. Benois erfaßte ihre beiden Hände.
»Und ich bin glücklich!« sprach er. »Ja, ich zwang den Tropf zum Duell, da er in seiner Einfalt Schlechtes von Ihnen sprach. Dann aber schonte ich ihn, um seiner Gattin, die Sie liebt, und die auch Sie lieben, keinen Kummer zu bereiten; ich erhielt einen Ritz, der aber nicht der Rede wert ist. All dies ist wahr; doch tat ich das nur, weil ich Sie liebe, verstehen Sie? Ich liebe Sie und will, Sie mögen meine Gattin sein; dann werden wir sehen, ob jemand wagt, Sie zu verunglimpfen! Sprechen Sie, Estelle, wollen Sie die Meinige sein?«
»Ja, ich will!« erwiderte Estelle, ihm mit vollem Vertrauen ins Gesicht blickend.
Theodor preßte die beiden Hände, die er in den seinigen hielt, noch inniger, verharrte aber regungslos und sprach nichts. In ihren Blicken begegneten sich ihre Seelen, und sie waren sich nunmehr ihres Glückes bewußt.
Jetzt zog Estelle die Hände aus den seinigen.
»Ja, ich will,« wiederholte sie, »aber erst, wenn alles geklärt sein wird. Sonst niemals. Erhobenen Hauptes will ich in Ihr Haus eintreten können.«
Benois nahm den Briefumschlag aus der Tasche und legte ihn vor ihr auf den Tisch nieder.
»Was ist das?« fragte Estelle überrascht.
»In diesem Umschlag befand sich jener Brief; Sie wissen ja.«
Estelle blickte bald auf den Umschlag, bald auf Benois, ohne zu begreifen.
»Der Brief ist verschwunden, nur der Umschlag ist geblieben. Betrachten Sie, untersuchen Sie ihn genau. Es ist möglich, daß unser Lebensglück davon abhängt! Setzen Sie sich.«
Von einer merkwürdigen Erregung erfaßt, begann Estelle zu zittern. Benois rückte ihr einen Stuhl heran und ließ sich selbst neben ihr in dem Lichtkreise der Lampe nieder.
»Fürchten Sie nichts,« sprach er, ihre Erregung gewahrend. »Bis jetzt waren Sie ja so mutig.«
»Ja, weil ich bis jetzt nur für mich kämpfte. Jetzt aber fürchte ich mich bereits.«
»Weshalb?«
»Weil ich fürchte, daß es nicht gelingen könnte. Ich fürchte mich, dieses Papier anzublicken. Und wenn ich auf demselben nichts finde?«
»So werden wir in einer anderen Richtung suchen. Fassen Sie Mut und betrachten Sie es genau. Sehen Sie, hier in der Ecke der Poststempel von Laval. Besagt Ihnen derselbe gar nichts?«
Estelle schüttelte verneinend den Kopf.
»So betrachten Sie die Schrift möglichst genau. Eilen Sie nicht! Seien Sie nicht erregt! Trachten Sie, ruhig zu sein!«
Estelle neigte sich über den Umschlag und betrachtete denselben genau.
»Kennen Sie die Schrift?«
Nach einer Pause schüttelte Estelle abermals verzagt den Kopf.
»Hatten Sie niemals eine Person in Ihren Diensten, die Grund haben konnte, Ihnen übelzuwollen? Denn das ist die Schrift eines Dieners oder Bauers. Vielleicht ein Stubenmädchen?«
Estelle hatte das Papier mit beiden Händen ergriffen und betrachtete es mit einer gewissen Furcht in der Nähe.
»Stubenmädchen?« wiederholte sie, in ihren Erinnerungen suchend. »Nein. Bei der Baronin Polrey war mir ein Mädchen an die Seite gegeben, das weder lesen noch schreiben konnte.«
»Das ist noch kein genügender Grund. Und vordem?«
»Vordem war ich im Kloster –«
Estelle stutzte, als sie auf die Reihe der vergangenen Jahre zurückblickte. Und plötzlich schrak sie zusammen. Ein Schauder erfaßte sie.
Benois blickte sie an, wagte aber keine Frage an sie zu richten. Estelle zögerte einen Augenblick und erhob sich dann, um zu ihrem Schreibtische zu eilen.
Dort begann sie in einem Fache zu kramen, welches mit alten Erinnerungen, Andenken aus der Kinderzeit gefüllt war, und entnahm demselben ein in rotes Leder gebundenes kleines Gebetbuch, welches an den Ecken schon abgeschabt war. Dasselbe war innen mit zahllosen vergilbten, abgerissenen Heiligenbildern geziert. Die Papierspitze, die denselben als Rahmen diente, zerfiel in Staub, sobald sie vom Hauch oder den Fingern berührt wurde, während Estelle in dem Buche blätterte.
Endlich hielt sie vor einem Bilde an, welches mit Silberdruck geziert war, und nahm dasselbe aus dem Buche.
Das Bild stellte eine Heilige in Klostertracht vor, die, auf den Knien liegend, mit gen Himmel gewandtem Blick betete. Darunter stand in kleinen Lettern gedruckt: »Die Heilige Rosalie.«
Auf der Rückseite aber stand in unförmlichen, unsicheren Buchstaben geschrieben: »Estelle Brunaire zum Andenken von Rosalie Férol.«
»Rosalie!« sagte Estelle, die inzwischen ihre Ruhe wiedergewonnen. »Rosalie war es! Ich hätte es ahnen können!«
Und ein bitterer Zug erschien auf ihrem sinnenden Antlitz.
»Rosalie?« fragte Benois.
»Die Kammerfrau meiner Mutter. Ich bin überzeugt, vollkommen überzeugt davon, daß es ihre Schrift ist. Ich könnte auch gar nicht daran zweifeln. Sehen Sie doch diese absonderliche Form des B! Noch niemals sah ich jemanden ein solches B machen.«
In der Tat waren die Anfangsbuchstaben des Wortes Bertolles auf dem Umschlag und des Wortes Brunaire auf dem Bilde einander vollkommen gleich. Eine andere Hand hätte das große B nicht in dieser Weise zu verschnörkeln vermocht. Es war das das Werk einer ungeübten Hand, einer Hand, die noch jetzt die Schönheitsvorlagen der Kinderzeit nachzuahmen sucht.
»Und wohnte diese Rosalie in Laval?« fragte Benois gepreßten Herzens.
»In Laval? Nein. Sie zog sich nach Vitré in der Bretagne zurück. Wo liegt Vitré?«
»Nicht weit von Laval. Sicherlich beauftragte sie jemanden, der nach Laval ging, er möge den Brief dort zur Post geben. Nun begreife ich. Doch welchen Anlaß konnte sie zum Schreiben haben?«
Estelle stützte den Kopf nachdenklich in die Hand.
»Diese Person liebte mich nicht,« sagte sie dann; »hat mich niemals leiden mögen. Doch war sie ein rechtschaffenes Mädchen, unfähig zu lügen oder eine Ehrlosigkeit zu begehen. So glaubte ich wenigstens. Auf mich machte sie stets einen erschreckenden Eindruck, als wäre sie wahnsinnig gewesen. Doch war ich damals noch so klein.«
»Denken Sie, daß sie fähig gewesen wäre. Sie zu verleumden und dadurch das Unglück herbeizuführen?«
Estelle dachte einen Moment nach.
»Nein,« sagte sie dann. »Sie wäre unfähig gewesen, jemanden zu verleumden, denn sie fürchtet sich entsetzlich vor der Hölle. Sie fürchtete die Sünde mehr als den Tod. Sie hätte es nicht gewagt, eine so furchtbare Sünde zu begehen.«
Plötzlich entsann sich Estelle der merkwürdigen Erscheinung in dem Gotteshause zu Contances.
»Sie war es! Nun bin ich meiner Sache sicher! Sie war es und erkannte mich! Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, den ich niemals vergessen werde! Ein Ausdruck wie der einer um Gnade flehenden, zur ewigen Verdammnis verurteilten Seele.«
Und in einigen Worten berichtete sie Benois über ihren Besuch in der Kirche zu Contances und über den Eindruck, welchen jene in Trauer gekleidete bäuerliche Gestalt auf sie gemacht, die bei ihrem Anblick so erschrak und dann sofort verschwand.
»Mein Freund,« sprach sie darauf, »diesen Brief hat Rosalie geschrieben. Wir müssen sie aufsuchen. Ob sie mich verleumdete oder nicht, tut nichts zur Sache; doch sie hat den Tod Raymonds herbeigeführt.«
Sie schwieg. Wer von uns vermöchte zu beschwören, daß irgendein schwerer Schlag, der uns betroffen, späterhin nicht die Quelle einer großen Freude für uns werden könnte?
Estelle erschauerte, während sie sich vergegenwärtigte, welchen Kummer Raymonds Tod über sie gebracht. Wird dieses Unglück sie jetzt noch empfindlicher drücken oder wird sich ihr nunmehr eine heitere Zukunft erschließen, verklärt von dem strahlenden Schimmer einer glücklichen und gesegneten Liebe?
»Wie dem immer sei,« sagte Benois, der von dem Antlitz der jungen Freundin dieselben bewegenden Gedanken deutlich herablas, »was wir auch erfahren mögen, – wir müssen Rosalie aufsuchen und zum Sprechen bringen.«
»Ob sie aber wird sprechen wollen?« fragte Estelle. »Sie ist ein eigentümliches Geschöpf. Möglicherweise wird sie mir um keinen Preis sagen wollen, was sie dem Verstorbenen mitgeteilt.«
»Wir werden schon Mittel und Wege finden, um ihr Furcht einzuflößen,« erwiderte Benois, an Staatsanwalt Bolvin denkend. »Es ist bewiesen, daß der von ihr herrührende Brief den Tod Raymonds verursacht hat, und sollte sie sich weigern, uns gutwillig Rede zu stehen, so werden wir die Hilfe des Gesetzes anrufen.«
»Des Gesetzes?« wiederholte Estelle. »War es des öffentlichen Aergernisses noch nicht längst genug? Soll ich wieder der öffentlichen Neugierde als Beute hingeworfen werden? O, mein Freund, ich habe ja schon genug gelitten! Ersparen Sie mir, wenn irgend möglich, diese letzte Bitternis.«
»Um von jeder Verleumdung frei zu sein,« erwiderte Benois, »bedürfte es bis zu einem gewissen Grade denn doch der Oeffentlichkeit.«
»Wir werden ja sehen. Vorläufig aber bitte ich Sie dringend, alle unsere Schritte geheim zu halten. Wir wollen alles selbst besorgen, und wenn etwas Schreckliches ans Tageslicht kommen sollte, so wird es wenigstens nur uns allein bekannt sein. Wenn Sie wüßten, wie sehr ich mich jetzt vor allem fürchte! Ich habe nur den einen Wunsch, die Menschen mögen sich nicht mehr mit mir beschäftigen.«
»Das dürfte nicht so leicht sein,« erwiderte Benois lächelnd. »Doch wir werden ja später sehen. Sie wollen also nach Vitré reisen?«
»Sie kommen natürlich mit mir,« sagte Estelle ohne jede Befangenheit. »Allein kann ich mich einer solchen Aufgabe nicht unterziehen. Und wer sollte mir beistehen, wenn Sie nicht? Morgen früh brechen wir auf.«
»Sie wollen es? Haben Sie die Folgen bedacht?«
Mit einer Bewegung des Kopfes deutete Estelle an, daß sie hieran nicht einmal denken wolle.
»Dann reisen Sie nur allein. Ich reise noch heute, in einer Stunde schon ab, und Sie treffen mich morgen mittag in Vitré! Ich werde Sie bei der Bahn erwarten.«
Estelle blickte bedauernd auf ihn. Sie hätte es vorgezogen, sich gar nicht von ihm zu trennen. Sie fühlte sich sehr stark und sicher in seiner Gegenwart. Doch fühlte sie, daß er recht habe.
»Also morgen in Vitré,« sprach sie zum Abschiede und reichte ihm die Hand.
»Nehmen Sie das Bild und den Briefumschlag mit sich,« ermahnte sie Benois beim Weggehen.
Estelle schloß während der ganzen Nacht kein Auge. Am nächsten Morgen fuhr sie unter dem Vorwande, sie reise nach Saumeray, zur Bahn, und um drei Uhr nachmittags traf sie mit Benois in der Station von Vitré zusammen, wo er bereits auf sie wartete.