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XI.

Weithin erstreckten sich die Weinanpflanzungen auf dem von der Sonne beschienenen Hügelabhang. Die knorrigen Rebenstöcke breiteten ihre kurzen, dicken Arme aus, an welchen vereinzelte weiße, krause Keime die graue Rinde unterbrachen. Am Fuße des Abhanges säumten die Häuser, Gärten und Lindenbäume das Ufer der Loire mit einem prächtigen Rande ein.

Eilig rauschte der schöne Fluß weiter, als hätte er dringende, unaufschiebbare Geschäfte dort im Westen. Der Westwind bedeckte seinen Spiegel mit glänzenden Schaumwellen, zuweilen auch zogen vier oder fünf Boote mit geblähten Segeln gruppenweise auf demselben dahin, die niedrigen Häuser hoch überragend. Zitternd durchschnitt der schwarze Rumpf der Barken die Wellen, während der regungslos an seinem Rade stehende Steuermann aufmerksamen Auges den Windungen des Flusses folgte.

Zu dieser Jahreszeit war das Flußbett stets stark angeschwollen; die Bäume, deren zarter Blätterschmuck noch blaßgrünlich schimmerte, schienen den Fluß mit einem durchsichtigen Spitzenschleier zu bedecken.

Theodor, der gemeinschaftlich mit seiner Mutter die Reben besichtigte, blieb unwillkürlich stehen, um das Landschaftsbild zu betrachten. Tausendmal hatte er dasselbe bereits gesehen, zu jeder Tageszeit gesehen, und dessenungeachtet konnte er sich daran nicht satt sehen.

»Wunderbar schön!« sagte er, während seine Mutter, über eine Rebe geneigt, dieselbe sorgfältig besichtigte, wie der Arzt, wenn er den Puls des Kranken befühlt.

Die alte Frau richtete sich empor, legte die Hand gleich einem Schirm über die Augen, blickte über den Fluß, über das Ufer dahin und sagte endlich:

»Ja, es ist eine schöne Gegend.«

Worauf sie in ihrer Besichtigung fortfuhr.

Ihre Reben waren mehr, als andere; sie waren ihre Kinder, noch dazu solche, die sie nur nach harten Kämpfen zu retten vermocht. Frau Benois betrachtete sich für die Mutter ihrer Reben, wie sich eine andere für die Mutter eines schönen, aber schwachen Kindes betrachtet, welches von einem ererbten Uebel bedroht wird und außerdem noch allerlei landläufigen Unglücksfällen ausgesetzt ist. Sie sprach nur selten über dieselben und dann nur zurückhaltend, wie von einem Glück, von welchem man nicht sicher ist, ob man es zu behalten imstande sein wird.

Vor einigen Jahren hatte ihr Sohn scherzweise zu ihr gesagt, er sei beinahe eifersüchtig auf die Reben, und da erwiderte ihm die alte Frau:

»Ja, die Pflege der Reben hat mir mehr Sorge gemacht, wie die deinige!«

Die Bindebänder aus sehr feiner, gestärkter Leinwand ihrer bis in die Stirne reichenden Kopfhaube umrahmten angenehme, regelmäßige Gesichtszüge, die Augen waren braun und lebhaft und die Gesichtshaut vom Regen und von der Sonne kaum wahrnehmbar gefurcht. Frau Benois trug stets ihre Bauernhaube, mit Ausnahme des Sonntags, da sie zur Messe ging und sich für dieselbe in schwarze Seide kleidete und einen schwarzen Spitzenhut aufsetzte. Sie wollte bleiben, was sie war: eine einfache Bauernfrau: doch besaß sie, wenn es dazu kam, ebensolch' ein Herz und Benehmen, wie eine Dame aus den höchsten Kreisen.

Ihr Sohn beobachtete sie, von einer merkwürdigen Unruhe bewegt. Er wußte nicht, ob er – nachdem er seine Mutter wiedergesehen – noch heute nach Paris zurückkehren oder aber zu Hause bleiben solle, bis seine Gedanken eine andere Richtung genommen. Die Unzufriedenheit, welche ihn gegen sich selbst erfüllte, machte ihm das Leben schwer und bereitete ihm allerlei Verdrießlichkeiten. Ob die Landluft daheim nicht all diesen kleinen Unannehmlichkeiten ein Ende bereiten wird?

Reckend richtete sich Frau Benois empor, wie es die Leute zu tun pflegen, die sich viel bücken.

»Wenn der liebe Gott, die Sonne und der Wind es so wollen, so werden wir kein schlechtes Jahr haben. Die Lese verspricht reichlich auszufallen.«

Und zufriedenen Auges überblickte sie den herrlichen Abhang, den braunen Humus, auf welchem sich kein Halm Unkraut zeigte, und weiter die schöne, fruchtbare Gegend. Dann ließ sie den Blick auf ihrem Sohne ruhen, doch vorsichtig, gleich dem Vogel, der sein Nest erst umflattert, bevor er sich aus dasselbe niederläßt.

»Und läßt sich das Jahr auch bei dir gut an, mein Sohn?« fragte sie mit einem halben Lächeln.

»Ich, liebe Mutter,« erwiderte Theodor, als wäre er zu einem plötzlichen Entschluß gelangt, »fühle mich sehr unbehaglich. Ich habe einen Freund verloren. Er starb eines bösen Todes und das bereitete mir eine Menge Scherereien. Ich empfand das Bedürfnis, dich zu sehen, um meine Ruhe und Gefaßtheit zurückzugewinnen.«

»Du tatest recht daran, nach Hause zu kommen,« sprach die alte Frau, zwischen den Rebengängen weiterschreitend. »Hier im Weingarten ist es besser, als in Paris, mein Sohn. Doch weshalb sagst du, dein Freund sei eines bösen Todes gestorben? Wurde er von jemandem getötet?«

»Nein, er tötete sich selbst.«

»Du sprichst von deinem Freunde Bertolles?« fragte die einfache Frau mit einem gewissen Stolz.

Sie wollte die Tochter des Volkes bleiben und blieb es auch; doch die vornehmen Verbindungen ihres Sohnes schmeichelten ihr und machten sie fast glauben, sie sei den vornehmen Leuten ebenbürtig.

»Du wußtest davon?« fragte Theodor überrascht.

»Man liest ja Zeitungen,« erwiderte Frau Benois ruhig, nicht ohne Spott. »Seitdem du in den vornehmen Kreisen verkehrst, lese ich den Figaro. Ich muß doch etwas von den Leuten wissen, mit denen mein Sohn verkehrt.«

Benois blickte seine Mutter zärtlich an. Sie schritten jetzt auf einem kleinen Rasenweg dahin, welcher zum Hause zurück und durch den Garten führte, in welchem die Blumenbeete verschämt die Gemüseanlagen verdeckten und Lavendel und Rosmarin dufteten, deren Lob die alten französischen Lieder verkünden.

»So kennst du bereits das entsetzliche Ende, welches mein unglücklicher Freund genommen?« fragte Theodor.

»Ja, ich kenne es. Und ich begreife auch, mein Sohn, daß du traurig warst, aber – –«

Sie vollendete nicht. Ihr helles Auge sprach aber klar und verständlich an ihrer Stelle und besagte:

»Aber dein Gesicht verrät die Spuren größeren Kummers, als welchen der Tod eines Freundes, und mag er noch so tragisch sein, verursachen kann.«

»Siehst du, Mama, es haben sich sehr peinliche Dinge ereignet, die dem Menschen viel Stoff zum Nachdenken geben.«

Frau Benois machte eine hastige Bewegung, als hätte sie stehen bleiben wollen; dann aber schritt sie in ihrer munteren rüstigen Weise weiter.

»Weshalb tötete er sich also, dein Freund? Vielleicht einer Jugendtorheit wegen, die mit einem Male über ihn hereinstürzte?«

»Wie kannst du das voraussetzen? Bertolles war ja die verkörperte Rechtschaffenheit!«

»Also eine Frauengeschichte?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Theodor sinnend. »Eine Frauengeschichte – – ja – – derlei mag es sein.«

»Du weißt nicht, was es war?«

»Nein.«

»Doch vermutest du es?«

Der junge Mann zögerte. Dann sprach er, wie von einem plötzlichen Entschlusse überkommen:

»Ich will dir alles mitteilen, Mama. Du bist eine so kluge Frau, Dein Urteil ist so scharf und zutreffend, daß mir niemand einen besseren Rat zu erteilen vermöchte.«

Und in gedrängten Worten berichtete er ihr über die Katastrophe, über die Schritte, die er nach derselben unternahm, die letzte Unterredung, die er mit dem Anwalt gepflogen, sowie über die Briefe.

»Du hast die Briefe behalten? Und den Umschlag auch? Weshalb hast du ihn nicht der Witwe zurückgegeben?«

Theodor blickte seine Mutter verwirrt an und gab keine Antwort.

»All diese Dinge gebühren rechtmäßig der Witwe und müssen ihr zurückgeschickt werden.«

Ziemlich verlegen legte der junge Mann dar, daß er infolge der absonderlichen Verhältnisse ihr noch gar keine Mitteilung über den Umschlag gemacht habe.

»Aber, lieber Sohn, sie hätte die erste sein müssen, die von demselben erfuhr! Gibt es denn etwas Heiligeres, als eine Witwe? – Wirklich, Theodor, ich wundere mich, daß du nicht daran gedacht hast.«

»Mutter,« sagte Benois lebhaft, »sie ist keine Witwe wie du!«

»Du willst damit sagen, daß sie nicht würdig sei – –«

»Nein – – o nein! – – doch – – sie liebte Bertolles nicht so, wie du meinen Vater.«

»Gleichviel, mein Sohn – – Niemand weiß, was in dem Herzen einer Frau vorgeht, wenn sie den Mann, dem sie Treue und Liebe bis in den Tod gelobt, tot vor sich liegen sieht. Um dies zu verstehen, muß man eine Frau sein.«

Theodor senkte den Kopf. Er war gerührt, doch nicht überzeugt.

»Was weißt du davon, was sie im Innern dachte? Was weißt du davon, was sie litt? Siehst du denn nicht ein, daß sie ein schwerer Schlag traf, wenn sie den Gatten nur einigermaßen liebte, und sich die bitterlichsten Vorwürfe machen muß, wenn sie ihn nicht liebte?«

»Weshalb?« fragte Benois lebhaft.

»Daß sie ihn nicht genügend liebte, um ihn durch ihre Liebe vor dem Schlechten zu bewahren, das ihm andere antun konnten!« erwiderte die Mutter mit beinahe feierlichem Ernst. »Glaube mir, diese Frau ist sehr bedauernswert!«

Theodor antwortete nicht. Seine Mutter beobachtete ihn forschend, ohne daß er es wahrgenommen hätte. So langten sie vor dem ehrwürdigen, netten, weißen Hause an, welches alt, doch nicht morsch, geräumig, doch nicht weitläufig war – das Haus einer Familie, die stets ehrlich und rechtschaffen gewesen.

»Du glaubst mir nicht?« fragte die Mutter. »Dein Haß gegen diese Frau ist also sehr groß?«

»Nein,« erwiderte Benois mit Anstrengung, »doch kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß sie irgendwelche Schuld an jenem Unglücke trägt!«

Frau Benois richtete sich empor und legte die Hand auf die Schulter des Sohnes. Theodor war groß, seine Mutter aber klein. Ihre kleine, braune, trotz der Arbeit niedliche Hand erschien so winzig auf dem dunklen Rock; ihre mütterliche Würde aber gelangte dessenungeachtet voll zur Geltung.

»Beschuldige niemals jemanden, bevor du weißt, womit du ihn beschuldigen kannst! Denke niemals etwas Schlechtes von einer Frau, bevor du weißt, daß sie es verdient! Und wenn diese Frau allein steht, wenn sie weder Vater, noch Bruder, noch Gatten hat, der sie beschützen könnte, so sei noch viel vorsichtiger, mein Sohn, denn in einem solchen Falle kommt die Ungerechtigkeit einer Sünde gleich. Und wir können ja nicht einmal ahnen, was jene Unglückliche leiden mag!«

Theodor erfaßte die kleine Hand, die ihn in ihrem Banne hielt, und küßte dieselbe ehrfurchtsvoll.

Sie traten in das geräumige, mit Holz gedielte Zimmer, in welchem der Kaffee bereits in den irdenen Gefäßen dampfte.

Sie waren allein. Frau Benois goß ihrem Sohn ein und reichte ihm die Tasse mit den gerösteten, warmen Semmelschnitten, die für ihn bereitet wurden, wenn er daheim war.

»Ist sie eine schöne Frau?« fragte die Mutter.

»Sehr schön.«

»Liebenswürdig?«

»So sagt man.«

»Dich behandelt sie kalt?«

»Ich glaube, sie kann mich nicht leiden.«

Frau Benois schwieg einen Augenblick, während sie den Blick auf ihren Sohn geheftet hielt. Plötzlich begegneten sich die Augen der beiden. Das Auge des Sohnes verriet eine so schmerzliche Angst, daß die Mutter bis in die Tiefe ihres Herzens bewegt ward. Sie erhob sich von ihrem Stuhle und zu dem Sohne hineilend, umschlang sie ihn mit beiden Armen.

»Oh, mein armer Sohn,« sprach sie leisen, gebrochenen Tones, »du liebst jene unglückselige Frau?«

»Ich liebe sie,« gab Theodor in demselben Tone zur Antwort, »ich liebe sie und vermag mich des Gedankens nicht zu erwehren, daß sie schuldig ist.«

Und er barg das glühende Gesicht am Busen der Mutter. Und die beiden Arme, die ihn einst gewiegt, umschlangen ihn, während aus ihren Augen zwei schwere Tränentropfen auf die Brustkrause rollten, welche ein so wackeres Herz bedeckte.


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