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Benois befand sich in ziemlicher Verlegenheit, als er sich bei Frau von Montelar melden ließ. In seiner Brieftasche befand sich das kleine Bündel, welches ihm Staatsanwalt Bolvin übergeben, und in einer anderen Tasche der bewußte Briefumschlag. Wie oft hatte er sich gesagt, daß er auch dies zum übrigen geben müsse, und dennoch hatte er es nicht getan.
Frau von Montelar empfing ihn in ihrem eigenen Salon, und zwar mit einer gewissen Wärme, die sich ganz bedeutend von der ein wenig kalten Zurückhaltung unterschied, die sie früher ihm gegenüber bekundet. Auf den ersten Blick gewahrte Benois, daß sich Frau von Montelar sehr verändert habe: der Schlag, der sie mit dem Tode ihres Neffen betroffen, wirkte noch nach in ihr, als es den Anschein hatte, daß sie sich von demselben bereits erholt habe, und wer sie längere Zeit nicht gesehen, nahm an ihrem Aeußeren gewiß sofort wahr, daß ihre Gesundheit in hohem Grade erschüttert sei.
»Obschon ich Ihnen vielleicht bedeutende Ungelegenheiten bereite,« sagte sie, »mußte ich Sie so dringend ersuchen, zu uns zu kommen, da ich mich in einer überaus bedrängten Lage befinde, aus welcher ich mir allein keinen Ausweg mehr weiß. Nicht etwa als hätte ich niemanden, der mir einen Rat zu erteilen vermöchte: ich habe meine alten Freunde, meine Rechtsberater: doch habe ich die Erfahrung gemacht, daß sich meine Freunde nicht um mich kümmern, und ein Advokat hat mit diesen Dingen gar nichts zu tun. Sie haben Raymond geliebt, und was mich betrifft, so denke ich, daß ich Ihnen gegenüber stets so viel Achtung und Freundschaft betätigte, um einigermaßen Ihre Sympathie erworben zu haben. Helfen Sie, und Sie werden mich zu großem Dank verpflichten.«
Sie sprach all dies ruhigen Tones: ihre Stimmer zitterte aber ein wenig und ihr schönes Gesicht verriet eine tiefe Erregung.
Benois war bewegt.
Er versicherte Frau von Montelar mit einigen Worten seiner Ergebenheit und bat sie, ihm zu sagen, was sie von ihm erwarte.
Nun berichtete ihm Frau von Montelar über das Konzert in Saint-Aubin und die Art und Weise, in welcher sie von ihren Freundinnen empfangen worden.
»Es ist klar,« sprach sie zum Schluß, »daß uns das gesellschaftliche Leben in diesem Winter zur Unmöglichkeit gemacht werden wird. Ich aber werde den nichtswürdigen Verleumdern niemals den Triumph bereiten, mich aus dem gesellschaftlichen Leben zu drängen. Seit meiner Geburt bis heute schritt ich stets erhobenen Hauptes einher, und so werde ich auch sterben. Man will, ich möge Estelle verlassen. Das werde ich nicht tun. Sie trägt den Namen Bertolles, der auch der Name meines Vaters gewesen. Dies allein würde mir genügen, sie zu beschützen, wenn sie nicht auch sonst meines Schutzes würdig wäre.«
Benois hörte ihr achtungsvoll zu und es schien, als erwarte er, daß sie noch etwas hinzusetze. Da aber Frau von Montelar schwieg, richtete er die Frage an sie:
»Was wünschen Sie von mir, Madame?«
»Sie sollen mir beistehen, die Verleumdungen zu enthüllen und die Unschuld meiner Nichte bekannt zu machen. Dies muß im Bereiche der Möglichkeit liegen. Denken Sie nur nach darüber! Sagte man nicht, sie habe ihren Gatten ermordet, weil ihr Kleid blutig war? Und Sie wissen doch sehr gut, daß sie ihn nicht ermordet hat.«
Benois machte eine heftige Bewegung. Das Entsetzliche dieser Beschuldigung war von unbeschreiblicher Wirkung auf ihn. Er erschrak vor derselben.
»Nein, sie hat ihn nicht ermordet! Das getraue ich mich zu beschwören!« sagte er lebhaft. »Dies ist denn doch entsetzlich!«
»Ah! So werden Sie mir beistehen, sie zu beschützen?« rief Frau von Montelar aus.
Der junge Mann fühlte wieder das frühere Zögern über sich Herr werden.
»Ich soll Frau von Bertolles beschützen? Mit welchem Rechte? Mein Auftreten könnte eine sehr unangenehme Wirkung haben.«
»Wenn Sie Vertrauen zu ihr hätten, könnten Sie ohne Mühe ein Mittel ausfindig machen!« sagte Frau von Montelar mit einiger Bitterkeit. »Leider gehören Sie aber auch zu den Feinden meiner Nichte.«
»Verzeihen Sie –« begann Benois, um sich zu entschuldigen.
»Ich dachte, daß Ihr ritterliches Gefühl die absonderliche Antipathie, die Ihnen meine Nichte einzuflößen scheint, unterdrücken wird. Doch nun sehe ich, daß ich mich getäuscht habe.«
Frau von Montelar wandte sich ab und trocknete verstohlen eine Träne, die ihr über die Wange rollen wollte. Sie fühlte sich gedemütigt.
»Ich bitte Sie, überzeugt zu sein, gnädigste Frau,« sprach Benois, »daß mein Gerechtigkeitsgefühl stark genug ist, um mich einen etwaigen Irrtum erkennen zu lassen. Ich gestehe offen, daß ich der Ansicht gewesen, Frau von Bertolles wisse etwas Wichtiges, wovon wir keine Kenntnis haben und was das den Tod meines Freundes Raymond umhüllende Dunkel einigermaßen zu lichten geeignet gewesen wäre. Noch jetzt vermag ich mich mit dem Gedanken nicht zu befreunden, daß sie nicht mehr wisse, als wir. Von da aber bis dahin, eine Frau zu verurteilen, besonders wenn sich dieselbe in einer so überaus schmerzlichen und heiklen Lage befindet wie sie, ist es noch sehr weit, und ich bitte Sie, überzeugt zu sein –«
Benois geriet in Erregung, während er sprach. Er meinte, die Stimme seiner Mutter zu vernehmen, die ihn zur Klugheit und Gerechtigkeit ermahnte, und er fühlte, daß er sich nicht weigern dürfe, selbst der eigenen Befangenheit entgegen sich die gehörige Aufklärung zu verschaffen.
»Ich, Herr Benois, wünsche nur eines von Ihnen,« sagte nun Frau von Montelar lebhaft, »sprechen Sie mit meiner Nichte und bemühen Sie sich, sie kennen zu lernen. Estelle ist eine sehr zurückhaltende Natur, dabei aber die verkörperte Offenherzigkeit, und ich denke, daß Sie das alsbald herausgefunden haben werden. Wer weiß, ob sie Ihnen, sobald sie sehen wird, daß Sie ihr Freund sind, nicht irgendwelche Mitteilung machen wird, die, ohne daß sie es selbst ahnte, uns das entsetzliche Geheimnis näher rücken würde. Mag sein, daß Raymond solche Gründe hatte, welche – doch, was rede ich da durcheinander? Bitte, seien Sie bemüht, das Vertrauen meiner Nichte zu gewinnen. Sie ist zwar jung, doch überaus klug, zuweilen sogar klüger als ich, die ich eine alte Frau bin – ach, so sehr alt schon!«
Und matt ließ sie sich in ihren Fauteuil zurücksinken. Benois konnte deutlich gewahren, in welchem Maße sie von den Sorgen und Kümmernissen geschwächt worden.
»Es wird nicht leicht für mich sein, Frau von Bertolles' Vertrauen zu gewinnen,« sagte Benois. »Doch auf Ihren Wunsch, Madame, werde ich auch dies versuchen. Sie waren stets so gütig zu mir, so lange ich noch mit Raymond die Militärschule besuchte und er mich zuweilen mit sich hierherbrachte. Und auch seither –«
»Mein liebes Kind,« sagte Frau von Montelar und legte die Hand über die Augen, um ihre Tränen zu verbergen, die ihr wider Willen entstürzten, »es ist vielleicht unglaublich, was ich da sage: ich habe momentan außer Ihnen keinen Freund, und meine Nichte hat außer mir niemanden auf der Welt. Und beide müssen Sie uns gemeinschaftlich hinnehmen. Man kann uns nicht voneinander trennen, bis uns nicht der Tod trennen wird.«
Ohnmächtig sank die arme alte Frau in den Fauteuil zurück. Erschrocken sprang Benois auf und riß an der Klingelschnur. Die Zofe stürzte herein und dicht hinter ihr kam Estelle.
»Es ist nichts, Madame,« sagte Benois, indem er ihr entgegenging. »Frau von Montelar ist ein wenig unwohl.«
Estelle dankte mit einem Nicken des Kopfes für die erhaltene Aufklärung und eilte auf ihre Tante zu, die unter ihrer liebevollen Behandlung alsbald auch die Augen öffnete. Sie vermochte noch nicht zu sprechen und winkte nur Benois, der sie sofort verstand. Er wandte sich zu Estelle und sagte:
»Ihre Frau Tante wünscht, ich möge Ihnen mitteilen, welch beehrendes Vertrauen sie in mich setzt. Um mich dessen würdig zu erweisen, erkläre ich, daß ich ihr und Ihnen, Madame, meine hingehendsten Dienste gewidmet halte.«
Er sprach den letzten Satz zögernd aus, ohne die junge Frau anzublicken zu wagen. Jetzt aber hob er den Kopf empor und sah nun, daß ihn Estelle mit ruhiger Bestimmtheit anblickte.
»Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte sie einfach.
»Reiche ihm die Hand, Estelle,« sprach Frau von Montelar so leise, daß man ihre Worte kaum verstand.
Estelle reichte ihm die schöne, weiße Hand, während ihr Blick deutlich besagte: Meine alte Freundin wünscht, wir mögen uns aussöhnen. Ich tue es, nur um sie zu beruhigen. Doch bleibt Ihnen darum Ihre freie Ansicht unbenommen.
Das Auge des jungen Mannes hatte aber einen so traurigen Ausdruck, der sowohl einen stillen Vorwurf als auch Reue bedeuten mochte, – und noch etwas mehr, was sie aber nicht wissen konnte.
»Wir werden dieses Thema noch besprechen,« wandte sich jetzt Benois an Frau von Montelar. »Heute bedürfen Sie wohl vollkommen der Ruhe. Wenn Sie gestatten, spreche ich morgen vor.«
Frau von Montelar war noch zu schwach, um antworten zu können, und streckte schweigend die abgezehrte Hand aus, die Benois ehrfurchtsvoll an seine Lippen zog.
Estelle begleitete ihn aus dem Zimmer, und als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und allein mit ihm im Vorzimmer stand, blieben beide stehen und blickten einander schweigend an.
»Herr Benois,« begann Estelle, »ich glaube nicht, daß die Dinge, die Sie möglicherweise vernommen, Ihre Ansicht über mich geändert hätten; doch wenn Sie es meiner Tante zuliebe für Ihre Pflicht hielten, eine Sympathie für mich zu bekunden, welche Ihnen in Wahrheit fremd ist, so danke ich Ihnen in ihrem Namen. Seien Sie überzeugt, daß ich Sie nicht mißverstehen werde.«
»Gnädigste Frau,« erwiderte Benois, und er machte eine große Anstrengung, damit seine Stimme einen festen Klang habe, »Ihre Frau Tante gab dem lebhaften Wunsche Ausdruck, in mir ihren wahren Freund zu erblicken. Doch könnte ich ihren Erwartungen nicht entsprechen, wenn ich Ihnen nicht vollkommen aufrichtig entgegentreten würde.«
Estelle senkte den Blick und beide verharrten regungslos, von einer schmerzlichen, unerklärlichen Empfindung erfüllt, welche durch Worte nicht wiederzugeben, durch Gedanken nicht auszudrücken war.
Seit den vier oder fünf Monaten, während welcher sie mit einem an Haß gemahnenden Zorn einander gedachten, hatten sie sich den verschiedensten Gedanken übereinander hingegeben, deren sie sich nur allein bewußt waren. Jetzt drängte sich die Erinnerung an diese Gedanken zwischen sie und ließ sie nicht zu Worte kommen.
Endlich griff Benois in die Tasche und entnahm derselben sein Portefeuille. Dasselbe enthielt die Briefe, welche er von dem Anwalt erhalten und die er mit einigem Zögern Estelle überreichte.
»Ich hätte Ihnen dies schon längst übergeben müssen,« sagte er dabei. »Verzeihen Sie mir, daß ich so lange säumte. Diese Briefe sind die letzten, welche Raymonds Hand berührte.«
Estelle nahm die Briefe mit vollkommen ruhiger Miene an sich.
»Der Staatsanwalt übergab mir dieselben, nachdem er es vergeblich versucht hatte, die traurigen Umstände aufzuklären. Seinen Bemühungen lagen freundschaftliche Absichten zugrunde. Dieselben ergaben kein günstiges Resultat. Diese Schriften bilden Ihr Eigentum.«
Estelle blickte das kleine Päckchen an, welches so vieles hätte enthalten können und doch gar nichts enthielt, und blickte dann wieder auf Benois.
»Dies ist alles?« fragte sie.
Vor diesem rechtschaffenen, bitter-traurigen, doch unbeugsam stolzen Blick fühlte sich Benois von einer Empfindung der Scham erfaßt. Nervös spielten seine Finger mit der Brieftasche, und er war nahe daran, derselben auch jenen bewußten Umschlag zu entnehmen.
Doch er erinnerte sich der Worte Bolvins: »Behalten Sie ihn; es sollte mich nicht wundern, wenn der Brief einst noch aus freien Stücken in denselben zurückkehren würde.«
Er schob das Portefeuille in die Tasche zurück und sagte bloß:
»Das ist alles.«
Noch einen Augenblick standen sie einander schweigend gegenüber.
»Ich danke Ihnen, mein Herr,« sprach Estelle endlich und setzte nach kurzem Zögern hinzu: »Ich danke Ihnen hierfür, gleichwie für die meiner Tante gegenüber bekundete Sorgfalt und Fürsorge. Sie ist kränker, als es den Anschein hat. Die Ereignisse in Saint-Aubin waren ein furchtbarer Schlag für sie. Ich fürchte, sie bleibt mir nicht mehr lange erhalten. Dann werde ich ganz allein dastehen. Doch so lange sie lebt, seien Sie gut zu ihr, Herr Benois; sie ist Ihnen ja in warmer Sympathie ergeben.«