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XXVII.

Der Trauerzug hatte die Kirche noch nicht verlassen, als Estelle in der Vorhalle das Rauschen eines Frauenkleides und bekannte kleine Schritte vernahm.

Sie öffnete die Tür und fing ihre kleine Freundin in den Armen auf.

»Meine liebe, kleine Odelle!« sagte sie, indem sie diese mit ihrer Umarmung beinahe erstickte. »Wie vermochtest du trotz meines Verbotes hereinzugelangen?«

»O, ich sagte dem Diener, daß, als du das Verbot erteiltest, sicherlich vergessen hattest, daß du mich hierherbestelltest. Und so gelangte ich herein! Meine arme, kleine Mutter, du bist also schon wieder verwaist?«

Diese kindlichen Worte drangen Estelle so zu Herzen, daß sie in Tränen ausbrach. Eine Weile hielten sich die beiden Frauen umarmt. Beiden tat es unaussprechlich wohl, daß sie miteinander weinen konnten.

Nach einigen Minuten trocknete Odelle ihre Tränen und sagte:

»Mein Mann ist zum Leichenbegängnis gegangen. Mama hat ihm erklärlich gemacht, daß er von demselben fern bleiben müsse. Papa ist auf dem Lande – wirklich schade! Doch gleichviel – Hubert wird seiner Obliegenheit getreulich nachkommen. Er hat es mir versprochen, und ich bin hierhergekommen. Ich konnte es nicht länger aushalten und wollte dich um jeden Preis sehen.«

»Dein Gatte ist ein guter Mensch, und ich bin ihm Dank schuldig,« sagte Estelle. Doch in demselben Augenblick fiel es ihr ein, daß Aulmoye sie weder besucht, noch ihr seine Karte geschickt habe, und sie fügte lebhaft hinzu: »Weiß dein Gatte, daß du hier bist?«

Odelle senkte den Kopf.

»Er weiß es –« erwiderte sie dann verwirrt, »das heißt – Aber ich bitte dich, Estelle, blicke mich nicht so an! Du weißt ja, daß ich niemals lügen konnte, wenn du mir so ins Auge schautest. Nein, er weiß es nicht. Doch was tut das? Ich bin eine verheiratete Frau und habe das Recht, zu tun, was ich will! Ich kann ihm doch nicht der Reihe nach alle Kaufläden bezeichnen, welche ich zu besuchen gedenke? Und verhält es sich mit dem Besuch bei dir nicht ebenso?«

Estelle verfolgte ihren Gedankengang, während ihr Odelle mit ein wenig fieberhafter Redseligkeit auseinandersetzte, wie sie ihr Leben in aller Unschuld derart eingerichtet habe, daß sie nach Gutdünken handeln könne, ohne darum zur offenen Lüge ihre Zuflucht nehmen zu müssen.

»Meine liebe, kleine Tochter,« sprach Estelle mit ruhiger Ueberlegenheit, als ihrer jungen Freundin endlich der Atem versagte, »weshalb sagst du deinem Gatten nicht, daß du bei mir gewesen?«

»Weil – weil – willst du die Wahrheit wissen? Nun denn, Hubert ist ein schlechter Mensch! Das heißt, er ist gar nicht im mindesten schlecht, aber seine Zunge ist boshaft! Ach, Estelle, du hast gar keinen Begriff, welche Klatschereien im Offizierkorps an der Tagesordnung sind! Man erzählte ihm Dinge, Dinge, sage ich dir, daß man eine Gänsehaut bekommen könnte! Und er hat alles geglaubt, was man ihm sagte! Und wer derlei Dummheiten glauben kann, ist doch kein sehr gescheiter Mensch! Genug an dem, wir zankten uns – es war unser erster Zank –, und das tat mir so weh.«

Und bei der Erinnerung an diesen ersten Zank begannen die Tränen der jungen Frau in reicher Menge zu fließen. Lächelnd und gerührt blickte Estelle sie darob an, daß sie so leicht zu weinen vermöge.

»Man hat ihm also Schlechtes über mich berichtet?« fragte sie ruhig.

»Schreckliche Dinge. – Doch das weißt du ja selbst. Er hat aber kein Recht, so ohne weiteres von anderen Leuten Schlechtes zu glauben. Das ist sehr häßlich, und ich sagte es ihm auch. Er aber spottete über mich, und das brachte mich in Wut. Ich sagte ihm, daß es feige sei, eine Frau anzugreifen, die niemanden hat, der sie verteidigen würde. Und ich hatte recht. Das ist doch klar, wie? Und dennoch wollte er recht behalten. Er sprach in einem Tone mit mir, wie du es dir gar nicht denken kannst! Ich ließ mich natürlich nicht einschüchtern, und da sagte er mir, er begreife nicht, wie ich so wenig Stolz in mir haben könne. Ich! Und du weißt doch, wie stolz ich bin! Schließlich sagte er, er werde niemals erlauben, daß ich dich besuche. Sage mir also, ob ich ihm damals sagen konnte, daß ich gerade jetzt bei dir gewesen?«

»Vielleicht hättest du es sagen können,« sagte Estelle, die Hand ihrer kleinen Freundin drückend.

»O nein! Du hast leicht reden; doch wärest du nur an meiner Stelle gewesen! Genug daran, daß ich es ihm nicht sagte und auch gar nicht sagen werde, dessenungeachtet aber zu dir kommen werde, so oft es mir Vergnügen macht.«

Estelle küßte zärtlich das Gesicht der jungen Frau, die eher noch ein Kind, als eine Frau war, und die dementsprechend behandelt werden mußte. Wie sollte sie nun diesem Geist eine Pflicht begreiflich machen, die ihr, wie es schien, niemand gelehrt?

»Höre mich an, Odelle,« sprach sie sehr sanft, »du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich will dir also etwas sagen: von allen Frauen und Mädchen, die ich kenne, hat mir keine einzige irgendwelche Sympathie bezeugt. Und heute, da auch Frau von Montelar mich verlassen hat, gibt es auf der ganzen Welt vielleicht nicht eine einzige Frau mehr, die an mir Interesse nähme. Du kannst dir also vorstellen, daß mir deine Freundschaft sehr wertvoll ist. Paß' also gut auf und verstehe mich recht: mehr noch als deine Freundschaft bewegt mich deine Achtung. Du, mein armes Herzchen, bist ein gutes, unschuldiges Gemüt, glaubst nicht an Verleumdungen und empfindest das Bedürfnis, zu achten, wo du liebst. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen. Doch könnte ich dich nicht länger achten, wenn du deinem Gatten gegenüber heucheln würdest.«

»Heucheln?« fragte Odelle überrascht, beinahe verletzt.

»Ja, mein liebes Kind, heucheln. Dein Gatte muß von jedem deiner Schritte unterrichtet sein; du hast kein Recht, ihm auch nur einen einzigen zu verheimlichen.«

»Wie denn nicht! Berichtet er mir etwa alles, was er tut? Sagt er mir immer, wohin er geht und wo er war? Und wenn ich ihn frage, lacht er mich aus.«

»Das ist nicht dasselbe. Sieh, Odelle, es ist nicht nötig, daß du ihm die unbedeutendsten Einzelheiten deiner Lebensweise mitteilst; doch mußt du derart leben, daß du ihm, wenn er dich fragt, stets ohne Erröten die Wahrheit sagen kannst.«

Verwirrt ließ Odelle den Kopf sinken. Die in ihren Kreisen herrschenden Begriffe von Moral und Sitte hatten sie nicht derartiges gelehrt, und dessenungeachtet fühlte sie, daß Estelle recht habe.

»Du wirst ihm sagen, daß du bei mir gewesen,« fuhr Estelle fort.

»Niemals, niemals!« rief Odelle heftig aus.

»Doch! Du wirst es ihm sagen. Nun, nicht sofort, sondern wenn die Rede davon sein wird. Du mußt es ihm sagen, denn wenn er es auf anderem Wege erführe –«

»Durch wen denn?«

»Das weiß ich nicht; Dienstleute können ein Wort fallen lassen. Und wenn er es erführe, so wäre das eine fürchterliche Demütigung für dich. Dein ganzes Leben wäre vergiftet, denn dein Gatte hätte niemals wieder Vertrauen zu dir; und wenn dem so wäre, mein Kind, so wäre dir wohler, in der Blüte deiner Jugend und Schönheit zu sterben.«

Sie schlang ihre mütterlichen Arme um die erschauernden Schultern ihrer »kleinen Tochter« und hielt sie an sich gedrückt, während sie, Raum und Zeit überbrückend, von neuem den Moment vor sich sah, da Benois' rauher Blick sich auf sie heftete, wie der des Richters auf den Angeklagten.

»Das Vertrauen, Odelle, ist die erste Bedingung des glücklichen Ehelebens. Der Mensch kann irren, kann Fehler begehen: doch wenn jeder Teil weiß, daß ihn der andere niemals belügen wird, so gehören die menschlichen Verirrungen nur zu jenen unausweichlichen Sorgen, auf die wir in der Welt vorbereitet sein müssen, und Ehegatten lieben sich, auch wenn sie zuweilen miteinander streiten. Du liebst deinen Gatten?«

»O ja, ich liebe ihn – wenn er nämlich nicht schlecht ist.«

»Er ist nicht schlecht, nur jung und wird sich noch bessern; du wirst dich davon überzeugen. Und nun weinst du nicht mehr, wie? Einmal, wenn er bei guter Laune sein wird, wirst du ihm sagen, daß du hier warst, daß du damit nichts Schlechtes zu tun meintest, – und dann kommst du nicht wieder, Odelle. Gar niemals. Außer, er wird dich selbst hierherbringen.«

»Du willst mich nicht mehr sehen?« fragte Odelle, sich betroffen emporrichtend.

»Ich beraube mich meiner einzigen Freude,« erwiderte Estelle und drückte ihr überzeugend die Hand. »Doch ist dies meine Pflicht, mein Kind, und auch die deinige.«

Odelle blickte tief in die Augen ihrer »kleinen Mutter« und las so viel Resignation, so viel Selbstaufopferung in denselben, daß sie bis in die Tiefe ihrer Seele gerührt war. Eine Seelengröße, von welcher sie bis jetzt keine Ahnung gehabt, stand mit einem Male enthüllt vor ihr, ein Gefühl der Ehrfurcht in ihr erweckend, das beinahe an Furcht grenzte.

Sie ergab sich ohne weiteren Widerstand.

»Du wirst meinen Gatten hassen!« sprach sie, es ein wenig bereuend, daß sie ihn vorhin getadelt.

»O nein,« erwiderte Estelle mit jener Ruhe, die ihre Güte so mild und unwiderstehlich machte. »Ich zürne ihm nicht im geringsten. Und nun, mein Kind, gehe nach Hause, um deinem Gatten keinen Aerger zu bereiten, sofern er dich nicht zu Hause anträfe. Laß das – ich liebe dich; ich würde dich ja nicht wegschicken, wenn ich dich nicht lieben würde.«

»Ich werde dich nicht wiedersehen,« sagte Odelle mit vor Tränen erstickter Stimme.

»Das ist wohl möglich; doch was verschlägt das, nachdem du doch weißt, daß ich dich liebe!«

»So werde ich wenigstens mit dir korrespondieren.«

»Nein, denn du müßtest deine Briefe verheimlichen. Gar nichts. Das ist das Beste.«

Schluchzend sank Odelle in die Arme ihrer Freundin.

»Meine süße kleine Mutter. Gott segne dich!«

»Auf Wiedersehen, mein Herz!«

Sie begleitete Odelle bis zur Treppe und blickte ihr nach, wie sie die Stufen hinabstieg. Sie war so zart, so schmächtig, so wenig noch Frau, so wenig für die Kämpfe des Lebens gestählt. Ihre Augen begegneten sich noch in einem letzten, tränenumflorten Blick, und dann schloß sich die Tür hinter Estelles letzter Freundin.

Estelle kehrte in ihr Zimmer zurück und saß mit im Schoß ruhenden Händen dort, an unzählige Dinge denkend, an den Tod, an Entsagung, an ein langes, aller Freuden bares Leben. Und trotzdem war sie nicht traurig, denn in ihr lebte ein unsichtbarer Stern, dessen Strahlen sie deutlich empfand.

Kurz vor sechs Uhr fand sich Benois ein.

Verwundert sah Estelle, wie erregt und ruhelos er sich heute benahm, er, der sonst von so ruhigem, gelassenem Benehmen war. Nachdem er ihr in einigen kurzen Worten mitgeteilt, daß das Begräbnis seinen programmgemäßen Verlauf genommen, fragte er:

»Bei Ihnen war natürlich niemand?«

»O doch, ich hatte einen Besuch,« erwiderte Estelle mit einem schwachen Lächeln. »Eine Freundin ist mir doch geblieben – eine Gespielin aus meinen Kinderjahren, die eine Tochter der Baronin Polrey, Frau von Aulmoye.«

»Frau von Aulmoye?« wiederholte Benois, der schlecht zu hören gemeint.

»Ja, Frau von Aulmoye. Ihr Gatte ist Husarenleutnant und hat sich erst vor kurzem nach Paris versetzen lassen.«

Benois war sehr ernst geworden.

»Und Sie sagen, daß die Gattin dieses Herrn Ihre Freundin ist?«

»Das will ich meinen, das arme Kind! Zweimal war sie insgeheim bei mir. Sie glaubt an mich, doch ist sie auch die einzige. Ich sagte ihr auch, sie möge nicht mehr hierherkommen. Sie werden ja wissen. Die Kleine ist erst seit einigen Monaten verheiratet und ihr Gatte ist ganz so wie die anderen, – hat keinen Grund dazu, mich zu lieben. Das Frauchen ist jung, kaum achtzehn Jahre alt, beginnt erst zu leben, und es wäre schade, wenn sie sich das Leben gleich zu Beginn verbittern würde, zumal sie so glücklich ist, ihren Gatten zu lieben.«

»Sie liebt ihren Gatten?« fragte Benois.

»Sehr! Und ihr Gatte auch sie. Es war eine Heirat aus Liebe. Das arme Kind! Für die Teilnahme und tatsächlich ritterliche Hingebung, die sie mir gegenüber an den Tag gelegt, wünsche ich von Herzen, ihr einmal dankbar sein zu können! Vorläufig leistete ich ihr bloß den einen Dienst, der in meiner Macht stand: ich sagte ihr, sie möge nicht mehr hierherkommen! Sie nennt mich auch jetzt noch ihre »kleine Mutter«, wie ehedem im Kloster. In der Tat, ihre Anhänglichkeit hat mich tief gerührt!«

»Sie interessieren sich also für sie?« fragte Benois neuerdings.

»Wie für mein eigenes Kind oder meine Schwester. Doch weshalb fragen Sie?«

»Aus natürlicher Neugierde. Die Personen, die Sie lieben, sind so spärlich vertreten, daß es kein Wunder ist, wenn ich mich für dieselben interessiere.«

»Ja, das ist wahr,« entgegnete Estelle mit einem so bezaubernden Lächeln, daß Benois alle Kaltblütigkeit verlor.

»Ich gehe nach Hause,« sagte er. »Ich bin müde. Bitte, reichen Sie mir die Hand.«

Estelle reichte ihm ihre schöne Rechte, in welche Benois voll Vertrauen die seinige legte. Auf diese Hand legte Estelle noch ihre Linke und drückte dieselbe herzlich.

Ehrfurchtsvoll zog Benois jede der beiden Hände an seine Lippen und entfernte sich ziemlich erregt.


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