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Das nationale Gesicht

Es war einmal ein vornehmer Herr, der hatte sein halbes Leben schon hinter sich. Da plötzlich fühlte er, daß ihm irgend etwas fehlte, und er machte sich große Sorge deswegen.

Er betastete sich: anscheinend war alles heil und an der richtigen Stelle; sogar der Bauch war sehr üppig entwickelt. Er schaute in den Spiegel: Nase, Augen, Ohren und alles andere, was ein ernsthafter Mensch haben muß, war da. Er zählt seine Finger nach: es waren zehn; er zählte die Zehen: auch zehn. Aber trotzdem, irgend etwas fehlte!

»Eigentümliche Sache!«

Er fragte seine Gattin um Rat:

»Was meinst du, Mitrodora, – ist bei mir alles in Ordnung?«

Sie antwortete überzeugt:

»Ja, alles!«

»Mir kommt es aber so vor …«

Sie war ein frommes Weib und riet ihm:

»Wenn es dir so vorkommt, dann bete leise: ›Gott stehe auf und zerstreue seine Feinde!‹ …«

Seine Freunde fragte er das Gleiche. Die Freunde antworteten allerhand und musterten ihn argwöhnisch, als mutmaßten sie etwas in ihm, was strengste Ablehnung verdiene.

»Was ist das nur?« grübelte der Herr und wurde ganz trübsinnig dabei.

Er überdachte seine Vergangenheit. Anscheinend war alles in Ordnung. Er war früher einmal Sozialist gewesen und hatte die Jugend aufgehetzt; dann hatte er all das aufgegeben, und jetzt trat er mit Füßen, was er einst selbst gesät. Kurzum, – er lebte wie alle Menschen, ganz der Zeitstimmung und ihren Anregungen gemäß.

Lange grübelte er. Plötzlich hatte er es:

»Herrgott! Ich habe ja kein nationales Gesicht!«

Er stürzte zum Spiegel. Tatsächlich, – er hatte ein ganz unbestimmtes Gesicht, das fast wirkte wie eine blindlings, ohne Satzzeichen gedruckte Seite einer Übersetzung aus einer fremden Sprache, von einem unsorgfältigen, ungebildeten Übersetzer: niemand versteht, wovon die Seite eigentlich handelt, – ob sie verlangt, die eigene Seele der Volksfreiheit zum Opfer zu bringen, oder ob sie die unbedingte, restlose Anerkennung des Staates fordert?

»Hm, das ist ja eine tolle Sache!« dachte der Herr und kam schnell zu der Einsicht: »Nein, das geht nicht. Mit solchem Gesicht kann man nicht existieren …«

Er wusch sich nun tagtäglich mit einer ganz teuren Seife. Es half aber nichts: die Haut glänzte zwar, doch die Unbestimmtheit blieb. Er schleckte sich das Gesicht mit der Zunge ab – seine Zunge war nämlich sehr lang und gelenkig, denn der Herr war journalistisch tätig –, aber auch die Zunge brachte ihm keinen Nutzen. Dann versuchte er japanische Massage und bekam lauter Beulen, wie nach einer derben Prügelei. Aber Bestimmtheit des Gesichtsausdrucks stellte sich nicht ein.

Lange quälte er sich, ohne jeden Erfolg. Er nahm lediglich anderthalb Pfund ab. Da, plötzlich, hörte er zu seinem Glück, der Pristaw Vorsteher eines Polizeireviers Herr v. Judenfresser sei ein bemerkenswerter Kenner der nationalen Aufgaben. Er begab sich zu ihm und sagte:

»So und so, Euer Wohlgeboren, – könnten Sie mir nicht in meiner schwierigen Lage behilflich sein?«

Der Pristaw fühlte sich natürlich geschmeichelt, daß ein gebildeter Mann, der noch vor kurzem staatsfeindlicher Gesinnung verdächtig war, ihn jetzt so vertrauensvoll um Rat fragte, wie er sein Gesicht ändern könne. Er lachte laut und schrie freudig:

»Nichts ist einfacher, mein Lieber. Sie müssen sich nur an die Fremdstämmigen heranmachen, mein Goldener, dann kommt wahres Gesicht sofort zum Vorschein.«

Da freute sich der Herr, – ein Stein rollte ihm vom Herzen! Er kicherte sehr loyal und wunderte sich über sich selbst:

»Daß ich nicht selbst darauf gekommen bin!«

»Ja, das ist ja so einfach!«

Sie trennten sich als dicke Freunde. Der Herr eilte sofort auf die Straße, stellte sich an einer Ecke auf und wartete. Als er einen Juden nahen sah, sprang er auf ihn zu und machte ihm Vorhaltungen:

»Wenn du«, sagte er, »ein Jude bist, dann mußt du eben Russe werden! Und wenn du nicht selbst willst, dann …«

Die Juden aber sind, wie man aus allen Witzen weiß, sehr nervöse und ängstliche Leute. Dieser Jude war außerdem launisch und hatte nichts übrig für Pogrome. Deshalb drehte er sich um, gab dem Herrn einen derben Hieb auf die linke Backe und begab sich dann zu seiner Familie.

Der Herr stand da, lehnte sich an die Wand, rieb sich die Backe und dachte:

»Nun, das Zeigen des nationalen Gesichts ist aber mit recht unbehaglichen Empfindungen verbunden! Doch sei's so! Nekrassow war ein schlechter Dichter, er hat aber trotzdem sehr richtig gesagt:

»Nichts wird umsonst uns gegeben,
Opfer verlangt unser Schicksal …«

Plötzlich kam ein Kaukasier des Weges, ein gänzlich kulturloser, heißblütiger Mensch, wie ja auch alle Witze beweisen. Er schlenderte daher und gröhlte etwas in seiner Sprache:

»Mizchales sakles mingrule-e …«

Der Herr sprach ihn an:

»Nein,« sagte er, »erlauben Sie mal! Wenn Sie auch Georgier sind, sind Sie doch gleichzeitig Russe. Sie sollen nicht Ihre mingrelische Hütte lieben, sondern das, was man Ihnen befiehlt, und das Gefängnis sogar ohne Befehl …«

Der Georgier ließ den Herrn in horizontaler Lage liegen und ging weiter, um kachetischen Wein zu trinken. Der Herr aber lag und überlegte:

»Nein, aber so was! Nun gibt es auch noch Tataren, Armenier, Baschkiren, Kirgisen, Mordwinen, Litauer, – Herrgott, so viele! Und das ist noch nicht einmal alles: dann kommen noch unsere eigenen … unsere Slawen …«

In dem Augenblick ging ein Ukrainer vorbei und sang etwas Aufrührerisches in seiner Sprache.

»Nein«, sagte der Herr und erhob sich wieder auf die Füße. »Wollen Sie bitte so liebenswürdig sein und von heute an richtig russisch sprechen! Sie gefährden sonst nämlich die Einheit des Reiches …«

Lange erzählte er dem Ukrainer allerhand, und der hörte zu; denn wie aus allen Sammlungen kleinrussischer Witze unwiderleglich hervorgeht, sind die Ukrainer ein etwas langsames Volk; sie tun ihre Sache ohne jede Hast.

Der Herr aber war sehr klebrig …

Mitleidige Leute hoben ihn später auf und fragten ihn:

»Wo wohnen Sie?«

»In Großrußland.«

Sie schafften ihn natürlich auf die Polizeiwache.

Unterwegs betastete er sein Gesicht und fühlte nicht ohne Stolz, wenn auch unter Schmerzen, daß es sehr viel breiter geworden war. Er dachte:

»Ich glaube fast, jetzt habe ich es …«

Man brachte ihn vor Herrn v. Judenfresser. Der war sehr human zu seinen Leuten: er ließ den Polizeiarzt holen, und als der erschien, flüsterten sie ganz erstaunt miteinander, dann brachen alle in lautes Lachen aus, was ja eigentlich nicht zu dem Geschehnis paßte.

»Der erste Fall in meiner Praxis,« flüsterte der Arzt. »Ich weiß gar nicht, wie ich das verstehen soll?«

»Was mag das nur bedeuten?« dachte der Herr und fragte:

»Nun, wie steht es?«

»Das alte Gesicht ist ganz weg,« antwortete Herr v. Judenfresser.

»Hat sich denn mein Gesicht im allgemeinen verändert?«

»Zweifellos. Nur, wissen Sie …«

Der Doktor aber sagte tröstend:

»Sie haben jetzt so ein Gesicht, verehrter Herr, daß sie eigentlich – Hosen darüber ziehen müßten …«

Und so blieb es auch für sein ganzes Leben.

Eine Moral hat diese Geschichte nicht.


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