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Der alte Fischer erzählt …

Die Insel schläft, in tiefe Stille gehüllt, das Meer schläft auch, als wäre es gestorben, es ist, als hätte jemand mit starker Hand diesen schwarzen, seltsam geformten Stein vom Himmel auf die Brust des Meeres herabgeworfen und jedes Leben darin getötet.

Wenn man weit draußen vom Meere, dort wo der goldene Bogen der Milchstraße das dunkle Wasser berührt, auf die Insel blickt, so erscheint sie wie ein breitstirniges Tier: den zottigen Rücken gekrümmt, hat es sich mit seinem riesigen Rachen ans Meer festgesaugt und trinkt schweigend das ölglatte Wasser.

Diese totenstillen, schwarzen Nächte kommen im Dezember sehr häufig vor; sie sind so seltsam still, daß man gar nicht anders als flüsternd oder halblaut sprechen kann; man hat das Gefühl, daß ein lauter Ton das stören könnte, was da vielleicht im Geheimen in der steinernen Stille, unter dem blauen Samt des nächtlichen Himmels heranreift.

Und halblaut sprechen auch die beiden Menschen, die an dem steinigen, zerklüfteten Ufer der Insel sitzen; der eine ist ein Zollwächter in einer schwarzen, gelb eingefaßten Jacke, mit einem kurzen Gewehr auf dem Rücken; er muß aufpassen, daß die Bauern und Fischer nicht das Salz sammeln, das sich in den Ritzen der Steine bildet; der andere ist ein alter Fischer mit einem dunklen, wie bei einem Spanier ausrasierten Gesicht, mit einem silberweißen Backenbart, der von den Ohren bis an die Nase reicht; seine Nase ist groß und krumm wie bei einem Papagei.

Die Steine sehen aus wie versilbert und vom Meer oxydiert.

Der Soldat ist jung und spricht natürlich von dem, womit man in seinen Jahren am meisten beschäftigt ist. Der Alte antwortet nur ungern, bisweilen sogar ärgerlich:

»Wer wird denn im Dezember Heben? Um diese Zeit werden doch schon die Kinder geboren.«

»Ja aber! Wenn man jung ist, dann wartet man doch nicht.«

»Man muß warten.«

»Hast du gewartet?«

»Ich bin doch nicht Soldat gewesen, mein Freund, ich habe gearbeitet, und alles, was der Mensch durchmachen muß, habe ich seiner Zeit durchgemacht.«

»Ich verstehe nicht.«

»Später wirst du's verstehen …«

Nicht weit vom Ufer spiegelt sich der hellblaue Sirius im Wasser; wenn man den trüben Lichtfleck auf dem Wasser lange betrachtet, so sieht man dicht daneben eine Korkboje, die rund ist wie ein menschlicher Kopf und ganz unbeweglich daliegt.

»Warum legst du dich nicht schlafen?«

Der Alte machte seinen alten, fadenscheinigen Mantel auf und sagte hüstelnd:

»Wir haben doch Netze ausgeworfen. Siehst du die Boje?«

»Aha!«

»Vor drei Tagen wurde das Netz einer Gesellschaft losgerissen und ganz und gar in Unordnung gebracht.«

»Die Delphine?«

»Jetzt im Winter? Aber nein. Vielleicht ein Haifisch, ein Tümmler, … wer kann's wissen?«

Unter den Füßen irgendeines Tieres löste sich ein kleiner Stein und rollte raschelnd durch das trockene Gras den Abhang hinab zum Meere, wo er mit hellem Klang im Wasser aufschlug.

Die schweigsame Nacht nahm dieses leise Geräusch gut auf und hob es liebevoll aus ihrer Tiefe hervor, als wollte sie es sich für lange Zeit einprägen.

Der Soldat singt leise ein spöttisches Liedchen:

»›Warum mögen alte Leute wohl schlecht schlafen?
Errat es mal, Umberto, überleg' dir's doch!‹
›Weil sie in den jungen Jahren
Zuviel Wein getrunken haben …‹«

»Bei mir stimmt das aber nicht,« brummte der Alte.

»›Warum schlafen schlecht die Alten?
Nun, Berguito, sag' es mir!‹
›Weil sie, als sie jung noch waren,
Nicht so liebten, wie sie sollten …‹«

»Ein feines Lied, Onkel Pascale, nicht wahr?«

»Das wirst du ja selber merken, wenn du erst sechzig bist … wozu fragst du da?«

Lange saßen sie schweigend in der friedlichen Nacht, dann nahm der Alte die Pfeife aus dem Mund, klopfte sie an einem Stein aus, lauschte den harten, kurzen Schlägen und sagte:

»Ihr Jungen könnt gut lachen, aber ich weiß nicht, ob ihr so zu lieben versteht, wie man in alten Zeiten liebte.«

»Ach! Ein altes Lied! … Man liebt immer gleich, glaube ich.«

»Glaubst du! Mußt es ja wissen. Dort, hinter dem Berge, wohnt die Familie Senzamane. Laß dir mal von ihnen die Geschichte des Großvaters Carlo erzählen. Das wird deiner Frau nützlich sein.«

»Was soll ich fremde Leute fragen, du kannst mir die Geschichte doch auch erzählen.«

Unsichtbar fliegt ein Nachtvogel vorbei, ein eigenartiges, seltsames Geräusch vibriert in der Luft, als reibe man mit einem Wolltuch eilig die trockenen Steine ab.

Die Dunkelheit auf der Erde wird immer dichter, feuchter und wärmer, der Himmel wird immer tiefer, und immer heller funkeln die Sterne im silbernen Nebel der Milchstraße.

»Früher wurden die Frauen viel höher geschätzt.«

»Na? Nicht das ich wüßte.«

»Die Menschen haben viel Krieg geführt.«

»Da gab es ja viele Witwen.«

»Und dann die Seeräuber, die Soldaten, und fast alle fünf Jahre neue Herrscher in Neapel, da mußte man die Frauen schon hinter Schloß und Riegel halten.«

»Das könnte jetzt auch nichts schaden.«

»Sie wurden geraubt wie die Hühner.«

»Wenn sie auch den Füchsinnen ähnlicher waren.«

Der Alte verstummte und zündete seine Pfeife an; eine weiße Rauchwolke hing in der unbewegten Luft. Das Feuer flammte auf und beleuchtete die krumme, dunkle Nase und den kurz geschnittenen Schnurrbart darunter.

»Na und weiter?« fragte der Soldat mit schläfriger Stimme.

»Wenn man zuhört, muß man schweigen.«

Der Sirius flimmert und flackert so stark, als wolle der stolze Stern den Glanz aller andern verdunkeln. Das Meer ist mit Goldstaub besät, und dieser kaum merkbare Widerschein des Himmels belebt die schwarze, schweigende Fläche, verleiht ihr einen schimmernden, durchsichtigen Glanz. Es ist, als blickten aus der Tiefe des Meeres tausende phosphoreszierende Augen in den Himmel …

»Ich höre ja zu,« unterbrach der Soldat ungeduldig das beleidigte Schweigen des Fischers, und bedächtig, mit halblauter Stimme, begann der Alte seine Erzählung:

»Vor hundert Jahren etwa lebten dort auf dem Berge, wo die dichten Kiefern stehen, die Griechen Ekellani. Der bucklige Alte war ein Zauberer und Schmuggler und sein Sohn Aristido ein Jäger; damals gab es noch Ziegen auf der Insel. Die reichste Familie hier bei uns waren zu der Zeit die Gagliardis. Jetzt tragen sie den Namen ihres Großvaters Senzamane. Die Hälfte aller Weinberge gehörte ihnen, sie hatten acht Weinkeller und mehr als tausend Fässer. Damals wurde unser Weißwein sogar in Frankreich hoch geschätzt, wo man, wie ich gehört habe, nichts außer Wein zu schätzen versteht. Diese Franzosen sind ja alle Spieler und Trinker. Sie haben doch sogar den Kopf ihres Königs dem Teufel verspielt.«

Der Soldat begann leise zu lachen, und wie als Antwort darauf, hörte man ganz in der Nähe das Wasser plätschern; mit gereckten Hälsen lauschten sie beide gespannt.

»Der Seeteufel versucht wohl den Köder an den Haken.«

»Weiter.«

»Ja … also die Gagliardis. Es waren drei Brüder. Die Geschichte erzählt von dem mittleren, Carlone wurde er genannt wegen seines riesigen Mundes und seiner gewaltigen Stimme. Er liebte ein armes Mädchen, Julia, die Tochter des Schmiedes, die sehr klug war, – starke Menschen sind eigentlich nie klug. – Irgend etwas zögerte ihre Heirat hinaus, und sie dachten sehnsüchtig an ihren Hochzeitstag, aber der Sohn des Griechen war nicht untätig, ihm gefiel Julia auch. Er hatte sich lange um ihre Gunst beworben, hatte aber keinen Erfolg und beschloß, das Mädchen zu entehren. Er rechnete damit, daß Carlone sie verlassen und er dann ein leichtes Spiel haben würde. Zu jenen Zeiten war man strenger als heute.«

»N–na, ich weiß ja nicht.«

»Lasterhaftigkeit ist ein Vergnügen der Reichen, und wir sind alle hier arm,« sagte der Alte streng; und als spreche er zu sich selber, fuhr er fort:

»Einmal, als das Mädchen die abgeschnittenen Weinreben sammelte, tat der Sohn des Griechen, der den Pfad oberhalb der Wand ihres Weinberges entlangging, als wäre er fehlgetreten, stürzte herunter und fiel gerade vor ihren Füßen zur Erde. Als gute Christin beugte sie sich über ihn, um zu sehen, ob er sich nicht verletzt hatte. Vor Schmerz stöhnend bat er sie:

›Ruf' niemand zu Hilfe, Julia, ich bitte dich! Ich habe Angst, daß dein eifersüchtiger Verlobter mich tötet, wenn er mich neben dir sieht. Ich will mich nur ein wenig ausruhen, dann gehe ich.‹

Er legte den Kopf auf ihren Schoß und stellte sich ohnmächtig; erschrocken rief sie um Hilfe, aber als die Leute herbeieilten, sprang er, plötzlich kerngesund, aber scheinbar sehr verlegen, auf die Füße, begann von seiner Liebe zu reden, von seinen ehrlichen Absichten, schwur, daß er die Schande des Mädchens durch eine Heirat wieder gutmachen würde, mit einem Worte, er stellte die Sache so dar, als wäre er, durch Julias Liebkosungen ermüdet, auf ihrem Schoße eingeschlafen. Die einfältigen Leute glaubten ihm, trotz des Zornes des Mädchens; sie vergaßen ganz, daß sie ja selbst um Hilfe gerufen hatte; niemand wußte, daß der Charakterzug des Griechen die Schlauheit ist. Der Teufel hat die Griechen deshalb getauft, damit sie alle Angelegenheiten der Christen um so besser in Verwirrung bringen können. Das Mädchen schwur, daß der Grieche lüge; aber er überredete die Leute, daß Julia sich schäme, die Wahrheit zu sagen, da sie die schwere Hand Carlones fürchte. Er behielt die Oberhand, und das Mädchen wurde wie wahnsinnig. Man fesselte sie, da sie sich mit einem Stein in der Hand auf die Menschen stürzte, und dann kehrten alle zur Stadt zurück. Carlone, der ihr Schreien schon gehört hatte, eilte ihr entgegen, aber als man ihm sagte, was geschehen war, fiel er mitten in der Menge auf die Knie. Dann sprang er auf, schlug seine Braut mit der linken Hand ins Gesicht und begann mit der Rechten den Griechen zu würgen; die Leute konnten ihn kaum losreißen.«

»Dumm war der Bursche,« brummte der Soldat …

»Der Verstand eines ehrlichen Menschen ist in seinem Herzen! Ich habe schon gesagt, daß die Geschichte sich im Winter abspielte, einige Tage vor dem heiligen Weihnachtsfest. Zu diesem Fest beschenkt man sich bei uns gegenseitig mit Wein, Obst, Fisch und Geflügel, alle schenken, und am meisten bekommen natürlich die Ärmeren. Ich weiß nicht mehr, auf welche Weise Carlone die Wahrheit erfuhr, aber er erfuhr sie jedenfalls, und am ersten Feiertage bekamen der Vater und die Mutter Julias, die nicht einmal in die Kirche gegangen waren, nur ein einziges Geschenk: einen kleinen Korb mit Tannenzweigen und darin die abgehackte linke Hand des Carlone Gagliardi, jene Hand, die Julia geschlagen hatte. Alle drei stürzten entsetzt zu ihm, sie trafen ihn auf den Knien vor der Tür seines Hauses, seine Hand war mit einem blutigen Lappen umwickelt, und er weinte wie ein Kind.

›Was hast du bloß gemacht?‹ fragten sie ihn.

Er erwiderte:

›Ich habe das getan, was ich tun mußte: der Mensch, der meine Liebe mit Schmach bedeckt hat, darf nicht länger leben, ich habe ihn getötet … Die Hand, die meine unschuldige Geliebte geschlagen hat, hat mich mit Schmach bedeckt, ich habe sie abgehauen … Ich bitte dich, Julia, verzeih' mir jetzt, und auch die Deinigen bitte ich …‹

Sie verziehen ihm natürlich, aber es gibt ja ein Gesetz, das die Lumpen schützt: zwei Jahre saß Gagliardi wegen des Griechen im Gefängnis, und es kam den Brüdern teuer zu stehen, Carlone von dort wieder herauszuholen.

Dann heiratete er Julia, und sie lebten beide glücklich bis ins hohe Alter. Sie begründeten eine neue Familie auf der Insel, die Handlosen, die Senzamane.«

Der Alte schwieg und sog angestrengt an seiner Pfeife.

»Die Geschichte gefällt mir aber nicht,« sagte der Soldat leise. »Dieser Carlone ist ja ein Wilder … Das ist doch so dumm, alles …«

»Dein Leben wird nach hundert Jahren auch sehr dumm erscheinen,« sagte der Alte nachdrücklich, blies eine große Rauchwolke in die Luft, die in der Dunkelheit ganz weiß erschien, und fügte hinzu:

»Wenn sich nur jemand daran erinnern wird, daß du auf der Welt gewesen bist.«

Wieder durchbrach das Plätschern des Wassers die Stille, aber jetzt war es stärker und hastiger. Der Alte warf den Mantel ab, sprang auf und verschwand so schnell, als wäre er in das dunkle Wasser gefallen, das sich am Ufer bläulich wie das Silber der Fischschuppen kräuselte.


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