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Pepe

Pepe ist ungefähr zehn Jahre alt; er ist dünn und schmächtig und beweglich wie eine Eidechse; bunte Lumpen baumeln von seinen schmalen Schultern; durch die zahllosen Löcher sieht man die von Sonne und Schmutz gebräunte dunkle Haut.

Er gleicht einem dürren Hälmchen, – der vom Meere wehende Wind trägt es, spielt mit ihm. Vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang springt Pepe über die Felsen und Steine der Insel, vom frühen Morgen bis zum späten Abend hört man einmal da, einmal dort sein unermüdliches Stimmchen:

»O, du herrliches Italien,
Mein Italien! …«

Alles beschäftigt ihn: die Blumen, die sich im reichen Fluß über die gute Erde ergießen, die Eidechsen zwischen den lila schimmernden Steinen, die Vögel in dem wie geschnitzten Laub der Oliven, in dem malachitgrünen Spitzengeflecht der Weinranken, die Fische in den dunklen Gärten auf dem Meeresgrunde und die Ausländer in den engen, winkligen Gassen der Stadt: da ist der dicke Deutsche mit dem vom Säbel zerhackten Gesicht; der Engländer, der an einen Schauspieler erinnert, welcher gewöhnt ist, immer die Rolle eines Menschenfeindes zu spielen; der Amerikaner, der sich hartnäckig, aber vergeblich bemüht, es dem Engländer gleichzutun, und der unnachahmliche Franzose, der so geräuschvoll ist wie eine Kinderklapper.

»Was für ein Gesicht der hat!« sagt Pepe zu seinen Freunden und zeigt mit seinen alles sehenden Augen auf den Deutschen, der so aufgeblasen ist, daß ihm sogar die Haare zu Berge stehen. »Sein Gesicht ist ja so groß wie mein Bauch!«

Pepe mag die Deutschen nicht, er lebt die Gedanken und Stimmungen der Straße, des Marktplatzes, der kleinen, dunklen Läden, in denen die Leute Wein trinken, Karten spielen, die Zeitungen lesen und dabei über Politik reden.

»Uns armen Südländern«, pflegen sie zu sagen, »sind die Slawen vom Balkan viel näher und angenehmer als unsere lieben Bundesgenossen, die uns für unsre Freundschaft mit dem Wüstensand Afrikas belohnt haben.«

Immer öfter wiederholen das die einfachen Menschen des Südens, und Pepe hört alles und vergißt nichts.

Mit schläfrigen Schritten geht der Engländer die Straße entlang, seine Beine sehen aus wie eine Schere. Vor ihm läuft Pepe und trällert ein trauriges Liedchen oder irgend etwas aus einer Totenmesse:

»Vor kurzem ist mein Freund gestorben,
Gar traurig ist meine Frau …
Und ich verstehe gar nicht
Den Kummer meiner Frau!«

Pepes Freunde schlagen weiter hinten Purzelbäume vor Vergnügen und verstecken sich wie die Mäuse im Gebüsch in den Ecken, wenn der ruhige Blick aus den farblosen Augen des Fremden sie trifft.

 

Von Pepe kann man viele interessante Geschichten erzählen.

Einmal gab ihm irgendeine Signora den Auftrag, einen Korb mit Äpfeln aus ihrem Garten einer Freundin als Geschenk von ihr zu bringen.

»Wirst dir einen Soldo verdienen!« sagte sie. »Das kann dir ja nicht schaden.«

Bereitwillig stellte er sich den Korb auf den Kopf und ging, aber erst am Abend kehrte er zurück, um sich seinen Soldo zu holen.

»Du hast dich ja nicht sehr beeilt,« sagte die Frau.

»Aber ich bin trotzdem sehr müde, liebe Signora!« antwortete Pepe und seufzte. »Es waren doch mehr als zehn Stück!«

»In dem bis oben vollen Korb? Zehn Äpfel bloß?«

»Jungen, Signora.«

»Na, und die Äpfel?«

»Zuerst die Jungen: Michele, Giovanni …«

Sie wurde wütend, packte ihn an den Schultern und begann ihn zu schütteln.

»Antworte gefälligst, hast du die Äpfel hingebracht?«

»Bis zum Marktplatz, Signora! Aber hören Sie doch, wie gut ich mich benommen habe: zuerst machte ich mir nicht das geringste aus ihren Spötteleien; meinetwegen, dachte ich, sollen sie mich mit einem Esel vergleichen, ich werde mir alles gefallen lassen aus Achtung vor der Signora, vor Ihnen, Signora. Aber als sie anfingen, sich über meine Mutter lustig zu machen, da sagte ich mir: na wartet, ihr werdet was erleben. Ich stellte den Korb hin und – gute Signora, das hätten Sie sehen müssen, wie geschickt und sicher ich auf diese Bengel zielte, da hätten Sie aber gelacht!«

»Sie haben meinen Korb geplündert!?« schrie die Frau.

Pepe antwortete mit einem betrübten Seufzer:

»O nein. Aber die Äpfel, die die Jungen nicht trafen, sind an den Wänden und Mauern zerplatzt, und die andern haben wir aufgegessen, nachdem ich gesiegt und mit meinen Feinden Frieden geschlossen hatte.«

Die Frau schrie und schimpfte noch lange und überschüttete Pepe mit allen Flüchen und Verwünschungen, die sie nur kannte, er hörte aufmerksam und ergeben zu, schnalzte von Zeit zu Zeit mit der Zunge und rief manchmal mit leiser Aberkennung:

»Huch, fein gesagt! Das sind aber Worte!«

Und als sie schließlich müde wurde und wegging, rief er ihr nach:

»Wirklich, Sie hätten sich nicht so aufgeregt, wenn Sie gesehen hätten, wie fein ich mit den herrlichen Äpfeln aus Ihrem Garten die dreckigen Köpfe dieser Lausejungen traf. – Nein, wenn Sie das bloß gesehen hätten, Sie hätten mir dann sicher zwei Soldi statt des versprochenen einen gegeben!«

Die ungeschliffene Frau begriff aber den bescheidenen Stolz des Siegers nicht. Sie drohte ihm nur mit ihrer geballten Faust.

 

Pepes Schwester – zwar bedeutend älter, aber nicht klüger als er – war seit kurzem Dienstmädchen in der Villa eines reichen Amerikaners; sie mußte dort die Zimmer aufräumen. Sie bekam bald rosige Backen, war immer sauber gewaschen und begann rund und voll zu werden wie eine reife Birne im August.

Ihr Bruder fragte sie einmal:

»Kriegst du jeden Tag zu essen?«

»Zwei- und dreimal, wenn ich Lust habe,« sagte sie stolz.

»Könntest deine Zähne etwas schonen!« riet ihr Pepe. Dann dachte er nach und fragte:

»Ist dein Herr sehr reich?«

»Der? Ich denke, der ist reicher als der König!«

»Na, den Blödsinn kannst du deiner Großmutter erzählen! Sag' mal, wieviel Hosen hat dein Herr?«

»Das kann man schwer sagen.«

»Zehn?«

»Vielleicht auch mehr.«

»Geh' mal und hol' mir eine recht warme und nicht zu lange Hose,« sagte Pepe.

»Wozu?«

»Du siehst doch, was für eine ich habe?«

Das war ziemlich schwer zu sehen: auf Pepes Beinen war von seinen Hosen sehr wenig übrig geblieben.

»Ja,« gab die Schwester zu, »du müßtest eine neue haben! Aber er könnte doch meinen, daß wir sie gestohlen haben?«

Pepe sagte mit Nachdruck:

»Man muß nicht denken, daß die Menschen dümmer sind als wir! Wenn man, wo viel da ist, ein wenig wegnimmt, so ist das kein Diebstahl, sondern einfach eine Teilung!«

»Aber das ist doch Unsinn!« widersprach die Schwester, aber Pepe überredete sie bald. Und als sie eine gute, hellgraue Hose in die Küche brachte, die ein wenig länger war als der ganze Körper Pepes, da wußte er gleich, was zu tun war:

»Gib' mal ein Messer her,« sagte er.

Bald hatten die beiden aus den Hosen des Amerikaners einen sehr bequemen Anzug für den Jungen gemacht: es war ein etwas zu breiter, aber sehr behaglicher Sack, der an den Schultern mit Bindfaden befestigt wurde, die man um den Hals binden konnte, und die Taschen ergaben ausgezeichnete Ärmel.

Sie hätten ihn ja noch schöner und bequemer machen können, aber die Gattin des Besitzers der Hose störte sie: sie erschien plötzlich in der Küche und begann sie mit den schlimmsten Schimpfworten zu überschütten, die sie in allen Sprachen gleich mangelhaft gebrauchte, wie es die Amerikaner ja meistens tun.

Pepe konnte auf keinerlei Weise ihren Redefluß dämmen, er verzog das Gesicht, legte die Hand ans Herz, griff sich verzweifelt an den Kopf, seufzte müde, aber sie beruhigte sich nicht eher, als bis ihr Mann erschien.

»Was ist los?« fragte er.

Und da sagte Pepe:

»Signore, ich bin sehr erstaunt über das Geschrei, das Ihre Signora erhebt, ich bin sogar Ihretwegen etwas gekränkt. Soweit ich verstehe, denkt sie, daß wir die Hosen verdorben haben, aber ich versichere Ihnen, daß sie mir ausgezeichnet passen! Sie denkt wahrscheinlich, daß ich Ihr letztes Paar Hosen genommen habe, und daß Sie sich kein anderes kaufen können …

Der Amerikaner hörte ihn ruhig an und bemerkte dann:

»Na, und ich denke, daß man die Polizei holen muß, mein Junge.«

»So–oo?« Pepe war sehr erstaunt. »Warum denn?«

»Um dich ins Gefängnis zu bringen.«

Das betrübte Pepe sehr; er fing fast an zu weinen, aber er beherrschte sich und sagte mit Würde:

»Wenn Ihnen das Spaß macht, Signore, wenn Sie gerne Leute ins Gefängnis sperren, dann natürlich! Aber ich hätte das nicht gemacht, wenn ich viele Hosen hätte und Sie keine einzige! Ich hätte Ihnen zwei, vielleicht auch drei abgegeben; wenn man auch eigentlich nicht drei Hosen auf einmal anziehen kann! Besonders an einem heißen Tag«

Der Amerikaner begann zu lachen; manchmal sind ja auch reiche Leute lustig.

Dann bewirtete er Pepe mit Schokolade und schenkte ihm einen Franken. Pepe prüfte die Münze mit den Zähnen und bemerkte würdevoll:

»Ich danke Ihnen, Signore! Ich glaube, die Münze ist echt!«

 

Am reizendsten ist Pepe, wenn er irgendwo ganz allein zwischen den Felsen steht und nachdenklich ihre Risse und Spalten betrachtet, als könne er darin die geheimnisvolle Lebensgeschichte der Steine lesen. In solchen Augenblicken sind seine lebhaften Augen weit geöffnet, sein Blick ist verschleiert, die schmalen Hände hält er auf dem Rücken, und sein Kopf ist leicht geneigt, er schwankt leicht wie der Kelch einer Blume. Er summt leise vor sich hin, denn er muß immer singen.

Lieb ist er auch, wenn er die Blumen beobachtet: in lilafarbenen Strömen ergießen sich die Glyzinien über die Mauer, und vor ihnen steht der Junge hoch emporgereckt, als wolle er etwas heraushören aus dem leisen Raunen der seidigen Blütenblätter, wenn der Atem des Meereswindes sie berührt.

Er schaut und singt:

»Fiorino-o … Fiorino-o …«

Aus der Ferne hört man wie Schläge auf ein riesiges Tamburin das dumpfe Seufzen des Meeres. Schmetterlinge flattern über den Blumen. Pepe hat den Kopf erhoben und folgt ihnen mit den Augen, die er zum Schutz gegen die Sonne zusammenkneift. Er lächelt als älterer Erdenbewohner etwas neidisch und traurig, aber doch so lieb.

»Cio!« schreit er und klatscht in die Hände, um eine smaragdgrüne Eidechse zu verscheuchen.

Wenn das Meer glatt wie ein Spiegel daliegt und der weiße Schaum der Brandung nicht auf den Steinen haftet, setzt sich Pepe auf irgendeinen Stein und blickt mit seinen scharfen Augen in das durchsichtige Wasser: ruhig gleiten die Fische durch den Tang, blitzschnell huschen die Garnelen vorbei, unbeholfen kriecht ein Krebs durch das Seegras. Und über dem blauen Wasser klingt durch die Stille leise die helle, träumerische Stimme des Knaben.

»Oh, Meer … Meer …«

Die Erwachsenen sagen von ihm:

»Das wird ein Anarchist werden!«

Aber die besseren unter ihnen, die mehr Verständnis für ihre Mitmenschen haben, sind andrer Meinung:

»Pepe wird unser Dichter sein.«

Der Tischler Pasqualino, ein Greis mit einem Silberkopf und einem Gesicht wie von einer alten römischen Münze, der weise und von allen verehrte Pasqualino aber sagt:

»Die Kinder werden besser sein als wir und werden ein besseres Leben haben!«

Sehr viele glauben ihm.


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