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Auf dem kleinen Bahnhofsplatz in Genua hat sich ein dichter Volkshaufen versammelt. Es sind vorwiegend Arbeiter, auch viele solide gekleidete, wohlgenährte Personen sind darunter. An der Spitze des Haufens stehen die Mitglieder der städtischen Verwaltung. In der Luft flattert die schwere, kunstvoll mit Seide gestickte Fahne der Stadt und neben ihr glitzern die bunten, farbigen Fahnen der Arbeiterorganisationen. Die Quasten, Fransen, Schnüre und die Spitzen der Fahnenstangen glänzen von Gold, die Seide knistert, und wie ein halblaut singender Chor ertönt das Gesumme der feierlich gestimmten Menschenmenge.
Über ihr, auf hohem Sockel, ragt die schöne Gestalt des Kolumbus empor, dieses Träumers, der soviel leiden mußte, weil er glaubte, und der den Sieg davontrug, weil er glaubte. Auch heute noch schaut er auf die Menschen herab, als wollten seine Marmorlippen sagen:
»Nur die siegen, die da glauben!«
Rings um den Sockel, zu seinen Füßen, haben die Musikanten ihre Messingtrompeten aufgestellt, und das Messing glänzt in der Sonne wie pures Gold.
Das schwarze Marmorgebäude des Bahnhofs steht wie ein offener Halbkreis da und hat seine Flügel ausgebreitet, als wollte es die Menschen umarmen. Aus dem Portal dringt das dunkle Keuchen der Lokomotiven, Kettengeklirr, Gepfeife und Geschrei; auf dem mit heißem Sonnenlicht übergossenen Platze ist es ruhig und drückend heiß. Auf den Balkons und an den Fenstern der Häuser stehen hellgekleidete Frauen mit Blumen in den Händen, festtäglich geputzte Kindergestalten, die selbst wie Blumen aussehen.
Da pfeift eine Lokomotive, die sich dem Bahnhof nähert. Die Menge gerät in Bewegung. Schwarzen Vögeln gleich fliegen einzelne Hüte in die Luft, die Musikanten greifen nach ihren Instrumenten, ein paar ernste, ältere Männer treten hervor, wenden sich mit dem Gesicht der Menge zu und sprechen, eifrig mit den Händen fuchtelnd, auf sie ein.
Schwer und langsam weicht die Menge auseinander und läßt einen breiten Ausgang nach der Straße zu frei.
»Wen erwartet man hier?«
»Die Kinder aus Parma.«
Dort, unten in Parma, waren die Arbeiter in den Ausstand getreten. Die Unternehmer wollten nicht nachgeben, die Lage der Arbeiter wurde immer schwieriger. Darum haben sie ihre Kinder, die schon vor Hunger zu kränkeln begannen, zu ihren Genossen nach Genua gesandt.
Hinter den Säulengängen des Bahnhofes kommt jetzt eine sonderbare Prozession von kleinen Menschen hervor; sie sind nur halb angekleidet und sehen in ihren Lumpen wie seltsame, zottige Tierchen aus. Sie marschieren zu fünf in einer Reihe, sich fest an den Händen haltend … seltsam, klein, verstaubt und sichtbar ermüdet. Ihre Gesichter sind ernst, aber die Äuglein glänzen lebhaft und klar, und als die Musik ihnen zu Ehren den Garibaldimarsch anstimmt, huscht ein fröhliches, zufriedenes Lächeln über diese mageren, spitzen, hungrigen Gesichter.
Die Menge begrüßt diese Menschen der Zukunft mit ohrenbetäubendem Geschrei; die Banner neigen sich vor ihnen, die Trompeten schmettern. Die Kinder sind von diesem Empfange ein wenig verwirrt, sie weichen einen Augenblick zurück, aber auf einmal haben sie die Reihen geschlossen, sich zu einem Körper zusammengeballt, und Hunderte von Stimmen, die aus einer Kehle zu kommen scheinen, brechen in den Ruf aus:
»Viva Italia!«
»Es lebe das junge Parma!« schreit die Menge, die auf sie zustürzt.
»Evviva Garibaldi!« rufen die Kinder und dringen wie ein grauer Keil in die Menge hinein, um dort zu verschwinden.
In den Fenstern der Hotels, auf den Dächern der Häuser flattern, gleich weißen Vögeln, unzählige Tücher; ein Blumenregen ergießt sich von dort auf die Köpfe der Menge; fröhliche, laute Rufe ertönen.
Alles sieht festtäglich aus, alles lebt auf, selbst der graue Marmor blüht in hellen Farben.
Fahnen flattern, Hüte und Blumen fliegen durch die Luft; über den Köpfen der Erwachsenen tauchen kleine Kinderköpfe auf; kleine, braune Pfötchen fahren durch die Luft, greifen nach den Blumen und begrüßen die Menge. Und alles weit übertönend klingt ununterbrochen der machtvolle Ruf:
»Viva il socialismo!«
»Evviva Italia!«
Jedes Kind fühlt sich ergriffen, auf die Schulter der Erwachsenen gehoben, von rauhen, schnauzbärtigen Männern an die Brust gedrückt. Die Musik ist bei dem allgemeinen Lärm, dem Lachen und Schreien kaum noch zu hören.
Man sieht Frauen durch die Menge schwirren, die die übriggebliebenen Kinder an sich nehmen wollen. Man hört sie rufen:
»Sie nehmen zwei, Annita?«
»Ja. Sie auch?«
»Und eins für die lahme Marguerita …«
Überall begegnet man fröhlich erregten, festtäglichen Gesichtern, feuchten, freundlichen Augen. Hier und da sieht man die Kinder der Streikenden bereits ein Stück Brot kauen.
»Zu unserer Zeit dachte man nicht an so etwas!« sagt ein Greis mit einer Vogelnase und einer schwarzen Zigarre im Munde.
»Und wie einfach ist das doch!«
»Ja! So einfach und so vernünftig!«
Der Alte nimmt die Zigarre aus dem Munde, betrachtet nachdenklich das eine Ende und streift seufzend die Asche ab. Gleich darauf sieht er zwei Kinder aus Parma, offenbar zwei Brüder, neben sich stehen, macht ein grimmiges Gesicht, stülpt den Hut über die Augen und breitet die Arme weit aus. Die Kinder, die ihn erst ganz ernst anblicken, schmiegen sich eng aneinander und weichen mit ängstlichem Gesicht zurück. Der Alte duckt sich plötzlich und fängt laut zu krähen an. Die Kinder lachen fröhlich auf und hüpfen mit den nackten Beinchen auf dem Pflaster herum. Der Alte steht auf, rückt den Hut zurecht und entfernt sich unsicheren Schrittes, offenbar in der Meinung, seine Schuldigkeit getan zu haben.
Ein buckliges, grauhaariges Weib, mit dem Gesicht einer Hexe und struppigen, grauen Haaren auf dem knochigen Kinn steht am Sockel des Kolumbusdenkmals, weint und trocknet sich immer wieder die rotgeränderten Augen mit dem Ende eines verblichenen Schals ab. Sie ist häßlich, ihre Hautfarbe ist dunkel, und sie erscheint so seltsam und vereinsamt inmitten dieser freudig erregten Menschenmenge.
Tänzelnden Schrittes geht eine schwarzhaarige Genueserin vorüber; sie führt ein siebenjähriges Menschlein mit Holzpantoffeln an den Füßen und einem bis an die Schultern reichenden grauen Hut an der Hand.
Es schüttelt den Kopf, um den Hut in den Nacken zu werfen, dieser rutscht ihm immer wieder auf seine Nase herab. Die Frau reißt ihm den Hut vom Kopfe und singt laut irgendein Lied, während sie ihn lachend in der Luft schwenkt. Der Knabe hat den Kopf zurückgeworfen, er lacht übers ganze Gesicht, sieht sie an, springt dann in die Höhe, greift nach seinem Hut, und beide verschwinden in der Menge.
Ein hochgewachsener Mann mit nackten, ungeheuren Armen und einem Lederschurz hält ein sechsjähriges Mädchen auf seiner Schulter und spricht zu der neben ihm einherschreitenden Frau, die einen Knaben mit feuerrotem Haar an der Hand führt:
»Du verstehst, wenn sich dieser Brauch Eingang verschafft, wird es schwer sein, uns unterzukriegen, he?«
Und er lacht mit lauter, tiefer, triumphierender Stimme, seine kleine Last in die blaue Luft emporwerfend:
»Evviva Parma–a!«
Die Leute verschwinden, die Kinder mit sich forttragend oder -führend. Auf dem Platze bleibt nichts zurück als ein paar zerdrückte Blumen, Konfektpapier, eine fröhliche Gruppe von blauen Dienstmännern und über ihnen die edle Gestalt des Mannes, der die neue Welt entdeckte.
Aber aus den Straßen, die gleich ungeheuren Röhren auf den Platz münden, erschallen fröhliche Rufe von Menschen, die dem neuen Leben entgegenschreiten.