Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es ist vollbracht

Ein blauer, ruhiger See, tief umrahmt von Bergen, die ewiger Schnee deckt. Ein dunkler Saum von Gärten schmiegt sich reich gefaltet bis ans Wasser hinab. Weiße Häuschen, die aus Zucker gegossen zu sein scheinen, blicken vom Ufer in das Wasser hinunter. Ringsum gleicht alles dem friedlichen Traum eines Kindes.

Es ist ganz früh am Morgen. Von den Berghängen steigt ein sanfter Blumengeruch empor. Eben ist die Sonne aufgegangen. Auf den Blättern der Bäume, auf den Halmen der Gräser glänzen noch Tautropfen. Wie ein großes Band zieht sich die Landstraße durch einen Engpaß hin. Sie ist mit Steinen gepflastert und scheint doch weich zu sein wie Samt, über den man mit der Hand hinstreichen möchte.

Neben einem Kieshaufen sitzt ein kohlschwarzer Arbeiter. Seine Brust ist mit einer Medaille geschmückt, sein Gesicht ist ernst, sanft und kühn.

Die bronzefarbenen Hände ruhen auf den Knien, und hoch aufgerichteten Hauptes blickt er dem Wanderer, der unter dem Kastanienbaum steht, ins Gesicht.

»Die habe ich für den Simplon bekommen, Herr! Diese Medaille habe ich für die Arbeit am Simplontunnel erhalten.«

Er senkt den Kopf und streift das hübsche Metallstück an seiner Brust mit einem liebevollen Blick.

»Ah, jede Arbeit ist schwer, bis man sie lieb gewinnt. Dann aber wirkt sie anregend und dadurch leichter. Immerhin – es war doch schwer!«

Er nickt leicht mit dem Kopfe, zur Sonne emporblinzelnd. Plötzlich wird er lebhafter, fährt mit der Hand durch die Luft, und seine schwarzen Augen glänzen.

»Zuweilen war es sogar fürchterlich. Die Erde fühlt ja mitunter auch etwas – nicht wahr? Wir machten einen tiefen Einschnitt in den Berg, und als wir dann tief in sein Inneres eingedrungen waren, bereitete uns die Erde dadrinnen einen sehr bösen, unfreundlichen Empfang. Sie ließ uns ihren heißen Atem fühlen, bei dem uns das Herz stockte, der Kopf schwer wurde, und die Knochen schmerzten. Viele von uns haben es zu spüren bekommen. Dann schleuderte sie Steine auf die Menschen herab und begoß sie mit heißem Wasser. Ja … es war furchtbar! Zuweilen, wenn das Feuer brannte, da erschien das Wasser ganz rot, und mein Vater sagte zu mir: ›Wir haben die Erde verwundet. Sie wird uns alle verbrennen und in unserem Blute ertränken, warte nur.‹ Das war natürlich nur so ein Gerede, aber wenn man tief unten in der Erde, in dieser feuchten, dumpfen Finsternis solche Worte hört, wenn das Wasser laut aufklatscht und das Eisen am Steindamm aufkreischt, vergißt man leicht, daß so etwas nur eine Ausgeburt der Phantasie ist. Denn dort war alles phantastisch, lieber Herr: wir Menschen, die wir so klein waren, und dieser Berg, der bis in den Himmel hineinragte und doch in seinem Innern von uns aufgewühlt wurde. Man muß das alles gesehen haben, um es zu begreifen. Man muß den schwarzen Schlund gesehen haben, den wir, kleine Menschlein, in den Berg gegraben haben. Am Morgen, wenn die Sonne aufging, versanken wir in diesem Schlünde, und die Sonne blickte den Menschen, die sie verließen und in die Tiefen der Erde hinabstiegen, traurig nach. Man muß auch unsere Maschinen und das finstere Antlitz des Bergriesen gesehen und das dumpfe Rollen in seinem Innern gehört haben, dieses Getöse beim Sprengen, das wie das Lachen eines Wahnsinnigen klang!«

Er warf einen Blick auf seine Hände, rückte die Medaille auf der blauen Arbeitsbluse zurecht und seufzte leise.

»Ja, der Mensch versteht es, zu arbeiten,« fuhr er mit unverkennbarem Stolze fort. »Ja, lieber Herr, der kleine Mensch ist eine unbesiegbare Macht, wenn er sich's vornimmt, zu arbeiten. Und glauben Sie es mir: dieser kleine Menschenwicht wird schließlich alles vollbringen, was er will. Mein Vater wollte es zuerst nicht glauben:

›Einen Berg durchbohren und sich durch ihn hindurch einen Weg von einem Land ins andere bahnen,‹ sagte er, ›das widerspricht dem Willen Gottes, der die Länder durch Bergmauern voneinander getrennt hat. Ihr werdet schon sehen, die Madonna wird uns ihren Beistand versagen.‹

Er war im Irrtum, der Alte; die Madonna steht allen bei, die sie lieben. Später dachte der Vater fast ebenso wie ich, denn er fühlte sich schließlich stärker und höher als der Berg; es gab aber eine Zeit, da er mich und die anderen, wenn er Feiertags am Tisch hinter einer Flasche Wein saß, zu überzeugen suchte.

›Kinder Gottes‹ – das war sein Lieblingswort, denn er war ein guter und gottergebener Mensch – ›Kinder Gottes, so darf man nicht gegen die Erde ankämpfen. Sie wird Rache nehmen für die Wunden, die man ihr schlägt, und sie wird Siegerin bleiben. Ihr werdet schon sehen! Wenn wir den Berg durchbohrt haben, auf sein Herz stoßen, sein Inneres berühren, wird uns das Feuer verschlingen, denn das Herz der Erde ist aus Feuer, – das wissen alle. Die Erdrinde bearbeiten, das ist erlaubt; es ward uns geboten, ihr bei ihren Geburtswehen beizustehen, wir aber entstellen ihr Antlitz und ihre Form. Seht: je weiter wir ins Innere des Berges eindringen, desto heißer wird die Luft, desto schwerer wird uns das Atmen‹ …«

Der Arbeiter lachte leise, während er mit beiden Händen die Enden seines Schnurrbarts emporstrich.

»Und nicht nur er allein dachte so; es war wirklich so; je weiter wir vordrangen, desto heißer wurde es im Tunnel, desto mehr Leute erkrankten und stürzten zu Boden. Immer heftiger schlugen die heißen Quellen empor, das Gestein bröckelte ab, und zwei von unseren Leuten, zwei Männer aus Lugano, wurden wahnsinnig. In der Nacht aber wälzten sich viele von uns in Fieberträumen in der Baracke, stöhnten und sprangen, von einer unbestimmten Angst gepeinigt, aus den Betten.

›Habe ich nicht recht?‹ fragte der Vater, dessen Husten immer stärker und dumpfer klang, angsterfüllt. ›Habe ich nicht recht? Sie ist unbesiegbar, die Erde.‹

Und endlich legte er sich nieder, um nie wieder aufzustehen. Er war kräftig, mein Alter; mehr als drei Wochen kämpfte er mit dem Tode: hartnäckig, ohne Klage, wie ein Mann, der seinen Wert kennt.

›Meine Arbeit ist beendigt, Paolo‹, sagte er in einer Nacht zu mir. ›Nimm dich in acht und kehre nach Hause zurück. Die Madonna möge dich geleiten!‹

Dann schwieg er lange mit geschlossenen Augen und röchelnder Brust.«

Der Erzähler erhob sich, warf einen Blick auf die Berge und reckte sich so kräftig, daß seine Gelenke krachten.

»Dann,« fuhr er fort, »dann ergriff er meine Hand, zog mich an sich heran und sagte:

›Weißt du, Paolo, ich glaube doch, daß es gelingen wird: wir und die anderen, die von der entgegengesetzten Seite kommen, werden einander im Innern des Berges begegnen, wir werden uns treffen, – glaubst du daran?‹

Ich mußte gestehen, daß ich daran glaubte.

›Wohl denn, mein Sohn! So soll es auch sein: alles, was man tut, muß man voll Glauben an den guten Ausgang tun … Ich bitte dich, mein Sohn, wenn dieser Augenblick kommt, wenn die Menschen sich begegnen, – so komm an mein Grab und sprich: Vater, – es ist vollbracht! Damit ich's erfahre!‹

Das war gut, lieber Herr, und so versprach ich es ihm denn. Nach fünf Tagen starb er, zwei Tage vor dem Tode aber bat er mich und die anderen, wir möchten ihn im Tunnel an der Stelle, wo er gearbeitet hatte, begraben. Er bat sehr darum, aber ich glaube, er sprach schon im Fieber …

Wir und die anderen, die von jener Seite kamen, trafen uns dreizehn Wochen nach dem Tode des Vaters im Inneren des Berges. Es war ein toller Tag, lieber Herr, als wir dort, unter der Erde, in der Finsternis, das Lärmen der anderen Arbeiter vernahmen, das Klopfen der Männer, die uns tief unter der Erde entgegenkamen – trotz der schweren Gebirgsmassen, die uns winzige Menschlein allesamt unter sich begraben konnten!

Viele Tage hindurch hörten wir diese Laute, die mit jedem Tage deutlicher und vernehmbarer wurden. Da wurden wir von einem freudigen Siegestaumel ergriffen und arbeiteten wie böse Geister, als hätten wir keinen Körper, ohne zu ermüden, ohne erst auf Anweisungen zu warten. Oh, es war so herrlich, wie ein Tanz im Sonnenschein; bei meiner Ehre! Wir wurden alle so sanft und gut wie die Kinder. Ach, wenn Sie wüßten, wie stark, wie unerträglich das Bedürfnis ist, dort, in der Finsternis, dort unter der Erde, wo man lange Monate hindurch gegraben hat wie ein Maulwurf, einem Menschen zu begegnen!«

Er war durch seine Erzählung ganz in Feuer gekommen. Jetzt trat er ganz nahe an den Zuhörer heran, blickte ihm tief in die Augen und fuhr leise und fröhlich fort:

»Als endlich die letzte Gesteinschicht durchbrochen war, da flammte in der Öffnung der rote Schein einer Fackel auf, ein schwarzes, von Freudentränen und Schweiß durchfurchtes Gesicht tauchte auf, dann folgten noch andere Gesichter und Fackeln, ein Siegesgeschrei und laute Freudenrufe ertönten, – oh, das war der schönste Tag meines Lebens. Wenn ich mich daran erinnere, fühle ich, daß ich nicht umsonst gelebt habe! Es war ein Stück Arbeit, eine heilige Arbeit, das sage ich Ihnen, Herr! Und als wir dann aus dem Tunnel ins Freie, in die Sonne traten, da legten sich viele von uns auf die Erde, küßten sie und weinten. Es war ein Märchen! Ja, Herr, sie küßten den besiegten Berg und küßten die Erde; erst an jenem Tage begriff ich, was sie für uns bedeutet, und gewann sie lieb wie ein Weib.

Natürlich ging ich auch ans Grab des Vaters, o gewiß, obgleich ich weiß, daß die Toten nichts hören können. Ich ging hin, denn man soll die Wünsche der Menschen ehren, die für uns gearbeitet und die nicht weniger gelitten haben als wir. Nicht wahr? So ging ich denn an sein Grab, stampfte mit dem Fuß auf die Erde und sagte, wie er es gewünscht hatte:

›Es ist vollbracht, Vater!‹ sagte ich. ›Die Menschen haben gesiegt. Es ist vollbracht, Vater!‹«


 << zurück weiter >>