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Vor der Tür einer weißen Kantine, die hinter einem alten Weinberg hervorlugt, im Schatten des schweren, von Winden und kleinen Chinarosen durchwebten Weinlaubs sitzen der Maler Vincenzo und der Schlosser Giovanni bei einer Flasche Wein. Der Maler ist klein, gedrungen und hat eine schwarze Gesichtsfarbe; aus seinen dunklen Augen leuchtet das weiche, sinnende Lächeln des Träumers; seine glattrasierte Oberlippe und die Wangen haben eine bläuliche Farbe, und doch gibt dieses Lächeln dem Gesicht etwas Kindliches und Naives. Der Mund ist klein und zart wie der eines Mädchens, die Hände sind schmal und fein; die gelenkigen Finger spielen mit einer goldfarbenen Rose, die er mit geschlossenen Augen an die vollen Lippen preßt.
»Vielleicht … ich weiß nicht … vielleicht …« spricht er leise und schüttelt den feinen Kopf, dessen rötliche Locken auf die feine Stirn herabfallen.
»Ja, ja, je höher nach Norden, desto energischer werden die Menschen!« behauptet Giovanni, ein breitschultriger Junge mit einem großen Kopf und schwarzen Locken. Sein Gesicht ist kupferrot, die Nase von der Sonne verbrannt und mit weißen Schuppen bedeckt; die Augen sind groß und gutmütig wie die eines Stieres, und an der linken Hand fehlt der Daumen. Die braunen Finger mit den stumpfen Nägeln umspannen das Weinglas, und er fährt mit seiner Baßstimme fort:
»Mailand und Turin sind treffliche Werkstätten, wo neue Menschen geformt und wo ein neuer Geist geboren wird. Nur noch kurze Zeit, – und die Welt wird anständig und vernünftig sein!«
»Ja,« sagt der kleine Maler zustimmend. Er erhebt das Glas, sucht mit dem Weinglas einen Sonnenstrahl einzufangen und singt halblaut vor sich hin:
»Wie warm ist die Welt für froher Jugend Lust!
Doch wenn das Alter naht, wird's kühl in unserer Brust!«
»Je höher nach Norden, sag' ich, desto besser geht's mit der Arbeit. Die Franzosen sind schon nicht so faul wie wir, dann kommen die Deutschen und endlich die Russen, – das sind Menschen!«
»Ja.«
»Rechtlos, in steter Gefahr, ihre Freiheit und ihr Leben einzubüßen, haben sie doch ein gewaltiges Werk vollbracht, – nur ihnen ist es zu verdanken, daß der ganze Osten zu neuem Leben erwacht ist!«
»Ein Land von Helden!« bemerkte der Maler gesenkten Hauptes. »Ich möchte dort leben …«
»Du?« ruft der Schlosser, mit der Hand auf das Knie schlagend. »Du würdest dich ja dort in einer Woche in ein Stück Eis verwandeln.«
Beide brachen in ein gutmütiges Lachen aus.
Ringsum funkeln die blauen und goldenen Blüten, flammende Strahlenbündel flimmern in der Luft, im durchsichtigen Glas der Flasche und der Schalen funkelt der Almandiwein, von ferne dringt das sanfte Gurgeln der Meereswellen herüber.
»Ach, lieber Vincenzo,« sagt der Schlosser mit breitem Lächeln, »beschreibe doch mal in Versen, wie ich Sozialist geworden bin, du kannst das doch so gut.«
»Nein,« sagt der Maler, während er Wein in die Schalen gießt und dem roten Strahl zulächelt, »du hast mir diese Geschichte niemals erzählt. Die Haut sitzt dir so fest auf den Knochen, daß ich stets dachte, du wärst in ihr geboren!«
»Ich wurde nackt und dumm geboren, wie du und alle anderen Leute; in der Jugend schwärmte ich von einer reichen Heirat; während der Militärzeit büffelte ich, um das Offiziersexamen abzulegen, erst als ich dreiundzwanzig Jahre alt geworden war, erkannte ich, daß nicht alles auf der Welt gut ist und daß man sich schämen muß, dahinzuleben wie ein Dummkopf!«
Der Maler stützte den Ellbogen auf den Tisch, bog den Kopf zurück und blickte zum Berge empor, wo hart am Abhänge gewaltige Fichten stehen und ihre mächtigen Zweige schütteln.
»Wir, das heißt unsere Kompanie, wurden nach Bologna geschickt, wo Bauernunruhen ausgebrochen waren. Die einen verlangten eine Herabsetzung des Pachtzinses, die anderen jammerten und forderten eine Lohnerhöhung, und diese wie jene schienen mir im Unrecht zu sein, denn, so dachte ich, was sind das für Dummheiten: die Herabsetzung der Pachten und die Steigerung der Löhne müssen doch die Grundbesitzer ruinieren! Mir als Städter erschienen diese Forderungen unsinnig, und ich war um so wütender, als wir bei der Hitze fortwährend aus einem Ort in den anderen gehetzt wurden und in der Nacht Wache hatten. Diese Bauern, siehst du, zerbrachen die Maschinen der Gutsherren und fanden Gefallen daran, Getreide in Brand zu setzen und alles Hab und Gut der Grundherren zu zerstören.«
Er trank langsam seinen Wein aus und fuhr immer lebhafter fort:
»Sie gingen wie die Schafe in dichten Haufen über die Felder, stumm, ernst und drohend. Wir trieben sie auseinander, drohten ihnen mit unseren Bajonetten und stießen sie zuweilen mit den Kolben; sie aber zerstreuten sich ohne Furcht und Hast nach allen Richtungen, um sich gleich darauf wieder zu sammeln; es war langweilig wie bei einer Messe, und die Sache schleppte sich von Tag zu Tag hin wie ein Fieber. Unser Unteroffizier Luoto, ein braver Junge aus den Abruzzen, der gleichfalls ein Bauer war, quälte sich sehr: er sah gelb und abgemagert aus und sprach nicht nur einmal zu uns:
›Es steht schlecht, Jungens. Gott verfluche mich! Man wird wahrscheinlich schießen müssen!‹
Dieses Gekrächze verdarb unsere Stimmung noch mehr. Hierzu kam noch, daß hinter jeder Ecke, an jedem Hügel oder Baum die Köpfe der eigensinnigen Bauern auftauchten, deren böse Blicke uns von allen Seiten betasteten. Die Leute kamen uns natürlich nicht besonders freundlich entgegen.«
»Trink doch!« sprach der kleine Vincenzo und schob dem Gefährten ein volles Glas zu.
»Hab' Dank und ein Hoch auf die tapferen Leute!« rief der Schlosser mit seinem dröhnenden Baß, trank den Wein aus, wischte sich mit der Hand den Schnurrbart und fuhr fort:
»Eines Tages stand ich auf einem kleinen Hügel an einem Olivenhain und bewachte die Bäume, die von den Bauern beschädigt worden waren. Am Fuße des Hügels arbeiteten zwei Männer, ein Greis und ein Jüngling, sie gruben einen Graben. Es war heiß, die Sonne brannte, daß man sich wünschte, bei den Fischen zu sein; ich starb vor Langweile und betrachtete wütenden Blickes die Bauern. Um die Mittagsstunde stellten sie die Arbeit ein und holten Brot. Hol' euch der Teufel, denke ich. Plötzlich spricht der Alte, der mir bis dahin keinen Blick zugeworfen hatte, einige Worte zu dem Jungen. Der schüttelt ablehnend den Kopf, worauf der Alte ihm laut und böse zurief: ›Geh'!‹ Der Junge kommt mit dem Weinkrug in der Hand auf mich zu und spricht nicht sehr freundlich: ›Der Vater glaubt, Sie wollen trinken und bietet Ihnen Wein an!‹ Es war eine dumme Situation, aber schließlich war's doch angenehm. Ich lehnte ab und nickte dem Alten dankend zu, worauf dieser, mit einem Blick zum Himmel, bemerkte: ›Trinken Sie nur, Signore, trinken Sie! Wir bieten diesen Trunk dem Menschen und nicht dem Soldaten und hoffen ja gar nicht, daß unser Wein den Soldaten besser machen wird!‹ Hol' dich der Teufel mit deinen bissigen Bemerkungen, dachte ich, trank drei Schluck Wein, bedankte mich, und die beiden da unten begannen ihre Mahlzeit. Bald darauf wurde ich von dem Salernitaner Ugo abgelöst, dem ich leise zuflüsterte, die beiden Bauern seien brave Leute. Am Abend desselben Tages, als ich vor der Scheune Wache stand, fiel mir ein Dachziegel auf den Kopf, wobei mein Kopf zwar nur wenig, dafür aber meine Schulter so stark verletzt wurde, daß mir die linke Hand wie leblos vom Rumpfe herabhing.«
Der Schlosser lachte mit weitgeöffnetem Munde und zusammengekniffenen Augen laut auf.
»Dachziegel, Steine und Stöcke«, rief er lachend, »hatten damals an jenem Orte die Eigenschaft lebender Wesen erlangt, und diese Eigenmächtigkeit der unbelebten Gegenstände war die Ursache, daß unsere Köpfe mit recht kräftigen Beulen bedacht wurden. Es brauchte nur irgendwo ein Soldat zu stehen oder vorüberzugehen, so sprang plötzlich ein Knüppel vom Boden auf, oder es fiel ebenso unerwartet ein Stein vom Himmel herab. Wir waren darüber natürlich wütend!«
Die Augen des kleinen Malers nahmen einen traurigen Ausdruck an, das Gesicht wurde blaß, und er sprach leise:
»Man schämt sich stets, solche Dinge zu hören …«
»Was soll man tun? Die Menschen nehmen nur langsam Vernunft an … Ich rief also um Hilfe, und man brachte mich in ein Haus, wo schon ein anderer lag, der im Gesicht von einem Stein verletzt worden war. Ich fragte ihn, wie sich das zugetragen hatte, worauf er mir mit grimmigem Lächeln entgegnete: ›Ein altes Weib, Kamerad, eine alte graue Hexe hat mich verletzt!‹ Hat man sie verhaftet? fragte ich. ›Ich habe gesagt, ich wäre selbst hingefallen und hätte mich verletzt. Der Kommandeur glaubt mir nicht, ich sah es an seinen Augen. Aber nicht wahr, man kann doch nicht eingestehen, daß man von einem alten Weib verletzt worden ist, he? Teufel noch mal, es geht ihnen selbst an den Kragen, da versteht es sich von selbst, daß sie uns nicht leiden mögen.‹ So, so! dachte ich. Bald darauf erschien der Arzt in Begleitung zweier Damen. Die eine war sehr schön, eine Blondine und offenbar Venezianerin, der anderen entsinne ich mich nicht mehr. Sie untersuchten meine Wunde, die natürlich nur unbedeutend war, legten mir einen Verband auf und entfernten sich.«
Der Schlosser runzelte die Stirn, verstummte und rieb sich kräftig die Hände; der Gefährte goß wieder die Gläser voll und hob die Flasche in die Höhe, und der Wein funkelte in der Luft wie ein roter lebendiger Strahl.
»Wir beide setzten uns ans Fenster,« fuhr der Schlosser finster fort, »und zwar so, daß die Sonne uns nicht beleuchtete. Plötzlich vernahmen wir die zarte Stimme der Blonden, die mit der Freundin und dem Arzt durch den Garten ging. Sie sprachen französisch, was ich recht gut verstehe.
›Haben Sie bemerkt,‹ sprach sie, ›was für Augen er hat? Er ist natürlich auch ein Bauer und wird vielleicht, wenn er die Uniform ausgezogen hat, gleichfalls Sozialist werden, wie alle bei uns. Und Leute mit solchen Augen wollen die ganze Welt erobern, das ganze Leben umgestalten, uns wegjagen und alles zerstören, nur damit eine blinde, langweilige Gerechtigkeit triumphiere!‹
›Dumme Kerls!‹ bemerkte der Arzt. ›Halb Kinder, halb Tiere!‹
›Tiere? – ja, aber was finden Sie Kindliches an ihnen?‹
›Ach, diese Träume von der allgemeinen Gleichheit …‹
›Stellen Sie sich das einmal vor: ich soll diesem Burschen mit den Stieraugen und dem anderen mit dem Vogelgesicht gleichgestellt werden! Wir alle: Sie, ich, meine Freundin, – wir sollen mit all diesen Leuten mit dem Plebejerblut auf einer Stufe stehen! Mit diesen Leuten, die man nur dazu verwenden kann, um ähnliche Leute wie sie, das heißt ebensolche Tiere, zu bändigen …‹
Sie sprach noch lange und mit großer Leidenschaft weiter. So, Signora? dachte ich. Es war nicht das erste Mal, daß ich sie gesehen hatte, und du weißt doch, daß niemand mit einer solchen Leidenschaft an das Weib denkt wie der Soldat. Ich hatte sie mir sanft, klug, gutherzig vorgestellt, und ich war von der Vorstellung durchdrungen, die Aristokraten stünden in geistiger Hinsicht hoch über allen anderen Menschen.
Ich fragte meinen Kameraden, ob er diese Sprache verstände. Nein, er verstand sie nicht. Ich übersetzte ihm hierauf die Worte des blonden Fräuleins. Der Junge geriet in eine fürchterliche Wut und sprang wie ein Teufel im Zimmer umher, wobei sein nicht verbundenes Auge Blitze schleuderte. ›So, so!‹ murmelte er. ›Sie nutzt mich bloß aus, ohne mich für einen Menschen zu halten! Um ihretwillen lasse ich mich in meiner Menschenwürde kränken, und sie streitet sie mir überhaupt ab! Um ihr Eigentum zu schützen, setze ich das Heil meiner Seele auf das Spiel.‹
Er war ein kluger Bursche und fühlte sich wie ich auf das tiefste verletzt. Am folgenden Tage sprachen wir bereits ohne jede Rücksicht von der Dame, während Luoto nur brummte und uns den Rat gab: ›Nehmt euch in acht, Kinder! Vergeßt nicht, ihr seid Soldaten, es gibt noch etwas wie Disziplin!‹
Nein, das vergaßen wir nicht. Aber sehr viele von uns, oder ehrlich gesagt, fast alle wurden taub und blind, und die Bauern, diese braven Kerle, nutzten unsere Taubheit und Blindheit vortrefflich aus. Sie gewannen den Kampf. Sie hielten sich uns gegenüber ausgezeichnet; die Blonde hätte viel von ihnen lernen können, so zum Beispiel wie man ehrliche Leute achten muß. Als wir den Ort verließen, den wir mit der Absicht, Blut zu vergießen, betreten hatten, erhielten viele von uns Blumen geschenkt. Als wir das letzte Mal durch das Dorf marschierten, wurden wir nicht mit Steinen und Dachziegeln, sondern mit Blumen überschüttet. Ja, mein Freund, und ich glaube, wir haben es verdient. Ein unfreundliches Willkommen läßt sich leicht vergessen, wenn einem ein guter Abschied bereitet wird.«
Er lachte fröhlich:
»Das mußt du in Verse bringen, Vincenzo …«
Der Maler wiegte nachdenklich lächelnd das Haupt.
»Ja, das würde sich vortrefflich für eine kleine poetische Erzählung eignen. Ich denke, das könnte mir gelingen. Wenn man über die fünfundzwanzig hinaus ist, ist man ein schlechter Lyriker.«
Er warf die welke Blüte, die er in der Hand hielt, weg, pflückte eine neue und fuhr fort:
»Hat der Mensch den Weg durchschritten, der von der Mutterbrust bis zur Brust der Geliebten führt, so muß er weiter, zu einem anderen Glück fortschreiten …«
Der Schlosser schwieg und nahm einen Schluck Wein. Unten hinter den Weinbergen rauscht leise das Meer. Blumenduft schwimmt durch die heiße Luft.
»Diese Sonne macht uns zu faul und zu weich,« murmelt der Schlosser.
»Die lyrischen Gedichte wollen mir nicht mehr gelingen,« sagt Vincenzo, die feinen Augenbrauen runzelnd, »ich bin sehr unzufrieden mit mir …«
»Hast du etwas Neues gedichtet?«
Der Maler antwortet nicht sogleich:
»Ja, gestern, auf dem Dache des Hotels Como.«
Und er rezitiert halblaut und träumerisch, mit singender Stimme:
»Den altersgrauen Fels und das öde Gestade
Grüßt mild ein Strahl der sinkenden herbstlichen Sonne;
Es stürzt auf die finsteren Klippen sich gierig die Welle
Und spült die Sonne hinweg in die kalten azurnen Fluten;
Das Kupferrot der Blätter, die der Herbstwind vom Baume geschüttelt,
Glänzt hell im schäumenden Naß wie toter Vögel Gefieder,
Der blaue Himmel blickt traurig, und finster dräuen die Wogen,
Die Sonne nur lächelt allein und senkt sich gehorsam hernieder.«
Beide schweigen lange, der Maler blickt gesenkten Hauptes zu Boden, während der große, schwerfällige Schlosser lächelt und sagt:
»Man kann alles schön schildern, das Beste aber ist ein schönes Wort über einen guten Menschen, ist ein Lied von der Güte des Menschen.«