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Passagiere der ersten Klasse

Das blaue Wasser scheint so dick zu sein wie Butter, die Schiffsschraube bohrt sich weich und fast unhörbar hindurch. Das Deck unter den Füßen zittert kaum, nur der zum klaren Himmel emporstrebende Mast bebt und die straffgespannten Trossen singen leise. Man gewöhnt sich aber an dieses Beben und bemerkt es nicht, und es scheint, als ruhe der weiße, schlanke Dampfer gleich einem Schwane unbeweglich auf der glatten Meeresfläche. Um das Wasser sich bewegen zu sehen, muß man über Bord schauen: man sieht, wie die grünlich glitzernde Welle von den weißen Schiffswänden zurückgeworfen wird; sie krümmt sich, eilt in breiten, weichen Falten davon, glänzt in der Sonne wie Quecksilber und murmelt schläfrig.

Der Morgen bricht an, das Meer ist noch nicht völlig erwacht, am Himmel sind die rosigen Farben der Morgenröte noch nicht verblaßt, aber wir haben bereits die Insel Gorgona passiert, – ein rauhes, mit Wald bedecktes, einsames Felseneiland, dessen Spitze ein runder, grauer Turm ziert, mit einem Haufen weißer Häuschen, die am schlummernden Wasser stehen. Ein paar kleine Kähne fliegen an den Wänden unseres Schiffes vorüber, – Bewohner der Insel, die auf Sardinenfang ausgehen. Man behält nichts als das gleichmäßige Plätschern der langen Ruder und die schlanken Gestalten der Fischer in Erinnerung – sie rudern im Stehen und wippen vor und zurück, als verneigten sie sich vor der aufgehenden Sonne.

Hinter dem Schiffe zieht ein breiter Streifen grünlichen Schaumes hin, über den Möven gemächlich dahinstreichen; zuweilen taucht plötzlich ein Vogel auf, der, starr und gerade wie eine Zigarre, geräuschlos über das Wasser hinfliegt, um schnell wie ein Pfeil ins Meer zu schießen.

In der dämmerigen Ferne tauchen die mit violetten Bergen gekrönten Ufer Liguriens aus dem Meere empor; noch zwei – drei Stunden, und das Schiff wird von dem engen Hafen des marmorreichen Genua verschlungen sein.

Immer höher steigt die Sonne, die einen heißen Tag verspricht.

Zwei Stewards sind aufs Verdeck hinauf geeilt; der eine ist jung, schlank, behend, ein Neapolitaner mit einem unfaßbaren Ausdruck im beweglichen Gesicht, der andere mittleren Alters, mit grauem Schnurrbart, schwarzen Augenbrauen, silbernem Borstenhaar auf dem runden Schädel, gebogener Nase und ernsten, klugen Augen. Lachend und scherzend decken sie eilig den Kaffeetisch und laufen schnell davon. An ihrer Stelle kommen die Passagiere – einer nach dem anderen – aus den Kajüten hervorgekrochen: ein Dicker mit einem kleinen Kopf und verschwommenen Zügen, rotbackig und doch traurig, mit müde herabgezogenen, schwellend roten Lippen; ein Mann mit grauem Backenbart, von hohem Wüchse, mit einer Gestalt, die wie gebügelt erscheint, kaum erkennbaren Augen und einer knopfartigen Nase auf dem gelben, flachen Gesicht; nach ihnen stolpert ein rothaariger runder Mann aufs Verdeck; er hat ein Bäuchlein, einen kriegerisch aufgezwirbelten Schnurrbart, trägt die Tracht eines Hochtouristen und einen federgeschmückten Hut. Alle drei stellen sich an der Bordwand auf, der dritte schließt melancholisch die Augen und sagt:

»Wie still es ist, he?«

Der Mann mit dem Backenbart steckt die Hände in die Taschen, spreizt die Beine und sieht nun aus wie eine geöffnete Schere. Der Rothaarige zieht seine goldene Uhr, die die Größe des Perpendikels einer Wanduhr hat, aus der Tasche, sieht nach, wie spät es ist, streift den Himmel und das Verdeck mit prüfendem Blick und beginnt zu pfeifen, indem er die Uhr hin und her schwenkt und mit dem Fuße den Takt schlägt.

Sodann erscheinen zwei Damen, – eine junge, volle, mit porzellanfarbenem Gesicht, sanften, milchblauen Augen und scheinbar gemalten, dunklen Brauen, von denen eine höher liegt als die andere; die andere, älter, spitznasig, hat volles, aber verblichenes Haar, ein großes, schwarzes Mal auf der linken Wange und trägt zwei goldene Ketten am Halse, eine Lorgnette und zahlreiche Berlocken an dem Gürtel des grauen Kleides.

Der Kaffee wird serviert. Die junge Dame setzt sich schweigend an den Tisch und beginnt das schwarze Getränk einzuschenken, indem sie darauf achtet, daß ihre bis zum Ellenbogen entblößten Arme sich auf besondere Art runden. Der Dicke nimmt seine Tasse in die Hand und seufzt:

»Das wird ein heißer Tag …«

»Du begießt dich mit Kaffee,« bemerkt die ältere Dame.

Er beugt den Kopf nach unten, wobei Kinn und Wangen noch mehr ineinanderfließen, stellt die Tasse auf den Tisch, wischt sich die Kaffeetropfen mit dem Taschentuch von den grauen Beinkleidern und trocknet sich das schweißbedeckte Gesicht ab.

»Ja!« sagt der Rothaarige plötzlich besonders laut, indem er ein scharrendes Geräusch mit seinen kurzen Beinen macht. »Ja, ja! Wenn schon unsere Radikalen sich über das Banditenunwesen zu beklagen anfangen, so …«

»Hör' auf zu schwätzen, Iwan!« unterbricht ihn die ältere Dame. »Erscheint denn Lisa nicht an Deck?«

»Sie fühlt sich nicht wohl,« entgegnet die Jüngere mit wohltönender Stimme.

»Das Meer ist doch ruhig …«

»Ach, wenn eine Frau sich in einem solchen Zustande befindet …«

Der Dicke lächelt und schließt beseeligt die Augen.

Hinter dem Deck schlagen die Delphine auf dem ruhigen Meeresspiegel Purzelbäume. Der Herr mit dem Backenbart betrachtet sie aufmerksam und erklärt:

»Die Delphine sehen aus wie Schweine.«

Der Rothaarige gibt seine Zustimmung zu erkennen.

»Hier gibt es überhaupt viel Schweinereien.«

Die spitznasige Dame hält die Tasse an die Nase, beriecht den Kaffee und macht eine Gebärde des Ekels:

»Abscheulich!«

»Und die Milch, he?« unterstützt sie der Dicke, erschrocken mit den Augen blinzelnd.

Die Dame mit dem Porzellangesicht flötet:

»Alles so schmutzig, so schmutzig! Und alle sehen aus wie Juden …«

Der Rothaarige flüstert dem Herrn mit dem Backenbart fortdauernd etwas ins Ohr. Er spricht hastig, die Worte verschluckend, als sage er dem Lehrer eine gut gelernte Lektion auf und tue sich etwas darauf zugute. Sein Zuhörer fühlt sich geschmeichelt und interessiert, er wiegt den Kopf von rechts nach links, und der Mund bildet auf seinem flachen Gesicht eine weite Öffnung wie eine Spalte auf einem trocknen Brett. Bisweilen will er etwas sagen, dann beginnt er mit einer eigentümlichen, rauhen Stimme:

»Bei mir im Gouvernement …«

Weiter kommt er jedoch nicht, sondern neigt den Kopf aufmerksam an die Lippen des Rothaarigen.

Der Dicke seufzt tief:

»Wie du summst, Iwan …«

»Na, – geben Sie mir Kaffee!«

Der Rothaarige rückt geräuschvoll an den Tisch heran, während sein Partner bedeutungsvoll spricht:

»Iwan hat Ideen …«

»Du hast dich nicht ausgeschlafen,« bemerkt die ältere Dame, indem sie den Herrn mit dem Backenbart durch die Lorgnette betrachtet. Jener fährt sich mit der Hand über das Gesicht und betrachtet seine Handfläche:

»Mir scheint, mein Gesicht ist mit Puder bedeckt. Glaubst du nicht auch?«

»Ach, Onkel!« ruft die junge Dame. »Das ist ja eine Eigentümlichkeit des schönen Italiens! Hier trocknet die Haut fürchterlich aus!«

Die ältere Dame wendet sich an sie:

»Hast du bemerkt, Lydia, wie schlecht der Zucker hier ist?«

Jetzt betritt ein starker Herr mit grauem, lockigem Haar, einer großen Nase, lustigen Augen und einer Zigarre im Munde, das Verdeck. Die am Schiffsbord stehenden Stewards verbeugen sich ehrfurchtsvoll vor ihm.

»Guten Tag, Jungs, guten Tag!« spricht er, wohlwollend nickend, mit lauter, etwas heiserer Stimme.

Die Russen verstummen, schielen zu ihm hinüber; der Iwan mit dem großen Schnurrbart erklärt halblaut:

»Ein verabschiedeter Militär, man sieht es auf den ersten Blick …«

Der Mann mit dem grauen Haar bemerkt die auf ihn gerichteten Blicke, nimmt die Zigarre aus dem Munde und verbeugt sich höflich vor den Russen. Die ältere Dame wirft den Kopf hochmütig zurück, hält die Lorgnette vor die Augen und mustert ihn herausfordernd; der Mann mit dem Schnurrbart gerät in Verwirrung, wendet sich ab, reißt die Uhr aus der Tasche und läßt sie schwingen wie einen Pendel. Nur der Dicke erwidert den Gruß, indem er das Kinn gegen die Brust drückt. Der Italiener ist durch diese Antwort betroffen, er schiebt die Zigarre nervös in den Mundwinkel und fragt den alten Steward halblaut:

»Sind das Russen?«

»Jawohl, gnädiger Herr! Ein russischer Gouverneur mit seiner Familie …«

»Was für gute Gesichter sie haben …«

»Ein sehr gutes Volk …«

»Die besten unter den Slawen natürlich …«

»Ein wenig nachlässig, würde ich sagen …«

»Nachlässig? Wirklich?«

»Mir scheint es so, – nachlässig anderen Leuten gegenüber.«

Der Dicke errötet und erklärt halblaut, mit breitem Lächeln.

»Man spricht von uns …«

»Was?« fragt die Ältere mit geringschätziger Miene.

»Die besten unter den Slawen seien wir, sagen sie.« Der Dicke schmunzelt.

»Speichellecker sind sie,« erklärt die Dame, während der rothaarige Iwan die Uhr in die Tasche steckt, sich mit beiden Händen die Schnurrbartenden aufzwirbelt und wegwerfend erklärt:

»Verglichen mit uns sind sie alle von einer erstaunlichen Unwissenheit …«

»Man lobt dich,« bemerkt der Dicke, »und du findest, daß dies aus Dummheit geschieht …«

»Unsinn, ich spreche doch nicht darüber, sondern ganz allgemein … Ich weiß selbst, daß wir die besten von den Slawen sind …«

Der Herr mit dem Backenbart, der die ganze Zeit über das Spiel der Delphine verfolgt hat, seufzt tief auf und bemerkt kopfschüttelnd:

»Welch' ein dummer Fisch!«

Zwei Herren nahen sich dem Italiener mit dem grauen Haar, ein Alter, in einem schwarzen Gehrock mit einer Brille, und ein langhaariger, bleicher Jüngling mit einer hohen Stirn und dichten Augenbrauen. Sie stellen sich alle drei an die Bordwand, etwa fünf Schritte von den Russen entfernt, und der Grauhaarige sagt leise:

»Wenn ich die Russen sehe, denke ich an unser Messina …«

»Erinnern Sie sich, wie wir die russischen Matrosen in Neapel empfangen haben?« fragt der Jüngling.

»Ja! Die in ihren Wäldern werden diesen Tag nicht vergessen!«

»Haben Sie die Medaille gesehen, die zu Ehren der russischen Matrosen geprägt wurde?«

»Mir gefällt die Ausführung nicht.«

»Sie sprechen von Messina,« berichtet der Dicke den Seinigen.

»Und dabei lachen sie!« ruft die junge Dame empört. »Merkwürdig!«

Die Möwen haben das Schiff erreicht; eine von ihnen ist mit ihren krummen Flügeln an der Bordwand hängen geblieben, weil sie zu weit ausgeholt hat, und die junge Dame wirft ihr Biskuits zu. Die Vögel schnappen die Stücke auf, schießen hinter die Bordwand herunter, um mit gierigem Geschrei wieder in die blaue Leere über dem Meere emporzuschnellen. Den Italienern wird Kaffee gereicht, und sie beginnen die Vögel gleichfalls mit Biskuits zu füttern. Die Dame runzelt streng die Stirne:

»Was für Affen!«

Der Dicke lauscht dem lebhaften Gespräch der Italiener und berichtet wieder:

»Es ist kein Militär, sondern ein Kaufmann; er spricht von dem Getreidehandel mit Rußland und meint, daß sie auch Petroleum, Holz und Kohle bei uns einkaufen könnten.«

»Ich habe auf den ersten Blick erkannt, daß er kein Militär ist,« erklärt die ältere Dame.

Der Rothaarige flüstert dem Herrn mit dem Backenbart wieder etwas ins Ohr; dieser hört zu und verzerrt den Mund zu einer skeptischen Grimasse. Der junge Italiener spricht indes, nach der russischen Gesellschaft schielend:

»Wie schade, daß wir das Land dieser großen, blauäugigen Leute so wenig kennen!«

Die Sonne steht schon recht hoch und brennt heftig vom Himmel herunter; die Meeresfläche liegt in ihrem blendenden Glänze vor uns; rechts in der Ferne tauchen Berge und Wolken aus dem Wasser empor.

»Anette,« sagt der Herr mit dem Backenbarte, den Mund bis zu den Ohren hinaufziehend, »hör' mal, welch ein Mittel dieser spaßige Iwan ersonnen hat, um die Aufrührer auf dem Lande auszurotten; ein sehr geistreiches Mittel!«

Er wiegt sich auf dem Stuhle hin und her und beginnt langsam und langweilig zu erzählen, als übersetze er seine Rede aus einer fremden Sprache:

»Er sagt, der Landkommissar am Ort müsse an allen Dorffeiertagen und Jahrmärkten auf Staatskosten Knüppel und Steine für die Bauern besorgen, und den Bauern gleichzeitig unentgeltlich je nach der Zahl der Anwesenden zehn, zwanzig oder fünfzig Eimer Schnaps, die gleichfalls aus Staatsmitteln anzuschaffen sind, liefern. Mehr braucht man nicht, sagt er!«

»Ich verstehe nicht!« sagt die ältere Dame erstaunt. »Soll das ein Scherz sein?«

Der Rothaarige fällt schnell ein:

»Aber nein, ich meine es ganz ernst! Denken Sie nur, ma tante …«

Die junge Dame öffnet die Augen weit und zuckt die Achseln.

»Welch ein Unsinn! Den Leuten Schnaps zu saufen geben, wenn sie schon ohnedies …«

»Nein, warte, Lydia!« schreit der Rothaarige und springt vom Stuhle auf. Der Herr mit dem Backenbart lacht lautlos mit weit geöffnetem Munde und biegt den Oberkörper hin und her.

»Bedenk' doch nur das eine: die Banditen, die sich vollgesoffen haben, werden einander mit Stöcken und Steinen die Schädel blutig schlagen. Das ist ja klar!«

»Warum denn einander?« fragt der Dicke.

»Soll das ein Scherz sein?« fragt die ältere Dame noch einmal.

Der Rothaarige schlägt die Arme auseinander und erklärt eifrig:

»Wenn die Behörden sie zur Ruhe bringen, schreien unsere Liberalen und Radikalen über Grausamkeiten und Greueltaten. Es muß also ein Mittel gefunden werden, es so einzurichten, daß sie sich gegenseitig zur Ruhe bringen! Nicht wahr?«

Der Dampfer neigt sich plötzlich auf die Seite, die volle Dame greift erschrocken nach der Tischkante; das Geschirr klirrt; die ältere Dame legt dem Dicken die Hand auf die Schulter und fragt streng:

»Was ist das eigentlich?«

»Wir wenden eben …«

Immer höher und klarer steigen die Ufer aus dem Wasser empor, gekrönt von ganz in Gärten versinkenden, tief in Nebel gehüllten Hügeln. Das graublaue Gestein blinkt aus den Weinbergen hervor, weiße Häuschen liegen in den dichten Erdwolken versteckt, die Fensterscheiben funkeln in der Sonne, und das Auge beginnt schon helle Flecken zu unterscheiden; ganz vorn an der Küste, zwischen Felsen versteckt, erhebt sich ein kleines Häuschen, dessen Fassade dem Meere zugewendet und mit einer schweren Fülle lilaroter Blumen bedeckt ist; darüber ergießen sich breite Bäche roter Geranien, die von den terrassenförmig abstürzenden Felsen herabzufließen scheinen. Die Farben sind hell und weich, das Ufer lockt zärtlich und gastlich, die sanften Silhouetten der Berge laden uns zu sich, in den Schatten der Gärten.

»Wie eng hier alles ist!« seufzt der Dicke. Die ältere Dame sieht ihn mit einem unversöhnlichen Blick an und betrachtet dann das Ufer durch die Lorgnette, kneift die dünnen Lippen zusammen und wirft steif den Kopf zurück.

Auf dem Verdeck sind bereits zahlreiche braune Leute in leichter Sommerkleidung erschienen; die russischen Damen blicken verächtlich auf sie herab, wie Königinnen auf ihre Untertanen.

»Wie sie mit den Händen gestikulieren,« klagt die Jüngere. Der Dicke verteidigt sie schnaufend:

»Das ist eine Eigenheit ihrer Sprache, sie ist arm an Worten und macht diese Gesten zur Notwendigkeit.«

»O Gott, o Gott!« seufzt die Ältere. Dann fragt sie nach kurzem Nachdenken:

»Gibt es in Genua viele Museen?«

»Ich glaube, nur drei,« erwidert der Dicke.

»Und wie heißt jener Friedhof?« fragt die Jüngere.

»Campo Santo. Und natürlich auch Kirchen.«

»Die Fiaker sind gewiß ebenso schlecht wie in Neapel?«

»So wie in Moskau.«

Der Rothaarige und der Bärtige haben sich erhoben und reden mit besorgten Gesichtern an der Bordwand aufeinander ein.

»Was erzählt der Italiener?« fragt die ältere Dame, während sie ihr üppiges Haar in Ordnung bringt. Ihre Ellenbogen sind spitz, die Ohren groß, gelb und verwelkten Blättern ähnlich. Der Dicke lauscht aufmerksam und ehrerbietig der lebhaften Erzählung des lockigen Italieners.

»Es gibt bei den Russen anscheinend ein sehr altes Gesetz, meine Herren, ein Gesetz, das den Juden den Besuch von Moskau verbietet. Das ist offenbar ein Überrest des Despotismus. Sie kennen ja Iwan den Schrecklichen; es gibt ja sogar in England viele veraltete Gesetze, die noch heute nicht abgeschafft sind. Vielleicht aber hat mich jener Jude auch nur irregeführt. Mit einem Wort, er hatte aus irgendeinem Grunde nicht das Recht, Moskau, die Stadt der Zaren und der Heiligtümer, zu besuchen …«

»Und bei uns in Rom«, bemerkt der Jüngling spöttisch, »ist ein Jude Bürgermeister, obgleich Rom viel älter und heiliger ist als Moskau.«

»Und er führt eine prächtige Klinge gegen den heiligen Vater, wir wünschen ihm Erfolg dazu,« ruft der Alte mit der Brille und klatscht laut in die Hände.

»Weshalb schreit der Alte so?« fragt die Dame und läßt die Hände sinken.

»Sofort! Unsinn … Sie sprechen neapolitanischen Dialekt …«

»Der Jude kam also nach Moskau,« fährt der Italiener fort, »und da er keine Unterkunft finden konnte, ging er zu einer Straßendirne, jawohl, meine Herren, das hat er mir erzählt …«

»Fabeln!« bemerkt der Alte kategorisch und macht eine zweifelnde Handbewegung.

»Aufrichtig gesagt, ich glaube es auch nicht.«

»Das ist natürlich Unsinn!«

»Und was geschah weiter?«

»Sie lieferte ihn der Polizei aus, nahm ihm aber zuerst Geld ab, wie wenn sie ihm wirklich zu Willen gewesen wäre …«

»Pfui, wie abscheulich!« ruft der Alte empört. »Der Mann hat wohl nur eine schmutzige Phantasie. Ich kenne die Russen von der Universität her, das sind so gute, liebe Jungen …«

»Aber hören Sie doch nur, wie sonderbar.«

»Ach, man kann viel erzählen!«

Der dicke Russe wischt sich den Schweiß von der Stirn und berichtet den Damen, langsam und gleichmütig:

»Er erzählte eine jüdische Anekdote.«

»Mit solch einem Feuer?« lächelt die junge Dame, während die andere ausruft:

»Diese gestikulierenden Leute mit ihrer lärmenden Unterhaltung haben etwas Langweiliges …«

In der Ferne taucht die Stadt aus dem Meere empor; hinter den Hügeln treten die Häuser hervor, die, sich immer enger aneinander schmiegend, eine ununterbrochene Mauer bilden, die wie aus Elfenbein geschnitzt die Sonnenstrahlen zurückwirft.

»Es sieht hier aus wie vor Jalta,« bemerkt die junge Dame kategorisch und erhebt sich. »Ich gehe zu Lisa.«

Langsam und wiegenden Ganges schiebt sie ihren großen, in ein blaues Gewand gehüllten Körper über das Verdeck. In dem Augenblick, wo sie an der Gruppe der Italiener vorbeikommt, unterbricht der alte Herr das Gespräch und ruft halblaut aus:

»Welch' wunderbare Augen!«

»Ja,« bestätigt der Alte, »so stelle ich mir die Basilea vor!«

»Basilea, die Byzantinerin?«

»Ich denke sie mir als Slawin …«

»Sie sprechen von Lydia,« berichtet der Dicke.

»Was?« fragt die alte Dame. »Wohl nur Plattheiten?«

»Sie sprechen von ihren Augen. Sie bewundern sie …«

Die Dame macht ein verächtliches Gesicht …

Die Kupferteile des Dampfers glänzen und funkeln in der Sonne, schnell und zärtlich schmiegt er sich ans Ufer; die dunklen Umrisse der Mole werden sichtbar, hinter ihr strebt ein Wald von Masten empor, hie und da hängen helle, farbige Flaggenfetzen unbeweglich herab; der schwarze Rauch schmilzt in der Luft dahin; Ölgeruch und Kohlenstaub dringen zugleich mit dem Arbeitslärm des Hafens und dem vielstimmigen Getöse der Großstadt zu uns herüber.

Der Dicke bricht plötzlich in ein helles Lachen aus.

»Weshalb lachst du?« fragt die Dame, die grauen, farblosen Augen zusammenkneifend.

»Die Deutschen werden sie vernichten, bei Gott. Sie werden sehen!«

»Weshalb freut dich das?«

»So …«

Der Herr mit dem Backenbart hält den Blick starr zu Boden gesenkt und fragt den Rothaarigen laut und jedes Wort abwägend:

»Wäre das eine angenehme Überraschung für dich oder nicht?«

Der Rothaarige schweigt und dreht wütend an seinem Schnurrbart herum.

Der Dampfer verlangsamt seine Fahrt. Das trübe, grüne Wasser schluchzt und plätschert klagend an den weißen Schiffswänden empor; die Marmorhäuser, die hohen Türme, die durchbrochenen Terrassen spiegeln sich nicht in der Flut. Der dunkle, mit zahlreichen Schiffen angefüllte Rachen des Hafens tut sich auf, um uns zu verschlingen.


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