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Zwei Monate waren verflossen, und das Land begann die Wohltaten des Friedens zu spüren, wenn sich auch die Partei der Gelben noch so lange als möglich dagegen sträubte. Bruzual war wirklich nach La Guayra entkommen, obgleich Militärposten der Blauen den Weg besetzt hielten; aber wer achtete auf den Einzelnen, und schaden konnte er doch, wie man glaubte, nicht mehr.
Direkt tat er das auch nicht, indirekt aber jedenfalls. Er nahm zuerst die zweihundert Mann Truppen, die in La Guayra lagen, auf die vor der Stadt liegenden Dampfer und schien sogar die Absicht zu haben, den Hafen zu blockieren, um der jetzigen Regierung so viel Verlegenheit wie möglich zu bereiten. Aber glücklicherweise fehlte es ihm an Kohlen, die er nirgends an der Küste mehr bekommen konnte, und er warf sich nun, um einen vollkommen nutzlosen, ja sogar verbrecherischen Widerstand zu versuchen, nach Puerto Cabello, unterhalb Valencia, wo er mit seinen Erpressungen gerade so begann, wie er in Caracas aufgehört hatte.
Monagas aber, der alte Haudegen, ließ ihm auch dort nur so lange Zeit, als er selber brauchte, mit einer ausgewählten Truppe seiner Blauen zu Lande und durch Valencia hinüberzumarschieren. Dann griff er die Gelben an, und trieb sie wieder hinaus auf die See, und nun blieb ihnen vorderhand keine andere Wahl, als an die äußerste westliche Grenze des Staates, nach Maracaybo, zu flüchten, wo sie, wenn auch dort angegriffen, rasch in das indianische Territorium oder selbst nach Columbia hinüber konnten. Daß man jetzt keine Zeit hatte, sich dort mit ihnen abzugeben, wußten sie, und waren deshalb vorderhand wenigstens sicher.
Übrigens strafte sich jetzt die zu große Nachsicht gegen die Führer insofern, als sie noch im Besitz der drei venezuelanischen Kriegsdampfer blieben. Man brauchte Bruzual nicht entwischen zu lassen und konnte ihn, mit einiger Vorsicht, recht gut in Caracas oder auf der Flucht gefangen nehmen, wonach er dann die Dampfer wohl hätte herausgeben müssen. So aber war er entkommen, und wenn er auch mit seinen Kriegsschiffen keinen Schaden mehr tun konnte, blieb es doch immer ein großer Verlust für den Staat, dem die Schiffe doch gehörten.
Die Soldaten der Regierung, die man in Caracas gefangen genommen hatte, waren alle entwaffnet und in ihre Heimat entlassen worden. Ein Teil von ihnen, an ein müßiges Leben die langen Jahre gewöhnt, trat zu den Blauen über, aber der Staat brauchte jetzt sehr wenig Soldaten und hatte doch eine Menge der Falconschen Generale zu füttern, die man nicht gut einfach entlassen konnte, weil man dann nur zu bald eine neue Revolution voraussehen durfte. Tausende von Entlassenen aber breiteten sich jetzt doch über das Land aus, um ihren Arbeiten nachzugehen, die sie nur gezwungen hatten verlassen müssen, und die Hacienden belebten sich mit fleißigen Leuten. Das bis dahin glücklich versteckte Vieh wurde wieder hervorgetrieben, und die Natur, nur einigermaßen von Menschenhand unterstützt, füllte bald die lange leeren Speicher mit neuen Schätzen.
Es ward endlich doch Ruhe im Lande; die Garnison, die noch in Calabozo lag, ging, als sie sich von einer Abteilung der Blauen bedroht sah und die Nachrichten aus dem Norden hörte, ohne einen Schwertstreich zu den Reconquistadoren über, und nur Pedro Manuel Rojas, der noch mit einer kleinen Garnison am Apure in San Fernando lag, schien eine Zeitlang unentschieden, was er tun solle, mußte sich aber auch zuletzt fügen. In Guayana hatte der dortige Präsident, Juan Baptiste Dalla Costa die Garnison der Gelben, von der aber schon die meisten desertiert waren, aufgelöst und den Kommandanten mit den Offizieren nach Hause geschickt, sowie die ganze Provinz Guayana neutral erklärt, bis sich wieder eine Regierung gebildet haben würde.
Man sah jetzt der Zukunft mit Vertrauen entgegen, und wenn auch der neue Finanzminister noch in diesen ersten Monaten mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, um, fast ohne Mittel, den von allen Seiten auf ihn einstürmenden Forderungen zu begegnen, so befriedigte er doch zum Teil die Gläubiger, man sah wenigstens den guten Willen, und wie nur erst einmal wieder Schiffe einliefen, um den Bedarf an Waren zu decken, bekam die Regierung auch wieder größere Einnahmen und damit freie Hand, allen Seiten gerecht zu werden.
Es war im September des Jahres 1868. Die Regenzeit schüttete noch ihre segensreichen Schauer nieder, und obgleich sie in diesem Sommer lange nicht so heftig auftrat als in manchen anderen Jahren, so blühte und grünte das Land doch überall in herrlicher Pracht.
Wenn sie aber schon die sonst kahlen Berge um Caracas her in ein Blumenfeld verwandelt und mit dem saftigsten Grün bedeckt hatte, so schien sie an der Lagune von Valencia einen wahren Zaubergarten geschaffen zu haben. In paradiesischer Schöne lag das weite Tal, und auf den Hacienden nicht allein herrschte fröhliches Leben, nein, auch die Wege zeigten wieder reges Treiben, die kleinen Städtchen, die sonst von Soldaten wimmelten und von den Bürgern fast verlassen waren, hatten wieder ihre Verkaufsläden und Fenster geöffnet, und abends konnte man – ein fast vergessener Laut – das fröhliche Blöken der Kühe hören, die zum Melken kamen.
Und welches heitere, glückliche Leben herrschte bei den guten Menschen auf der Hacienda an der Lagune – war doch Glück und Liebe dort eingekehrt, durch welche die beiden Familien Castilia und Gonzales eng verbunden werden sollten.
Eloi, schon seit vierzehn Tagen wieder vollständig von seinen überhaupt nicht gefährlichen Wunden genesen, hatte Beatriz, des alten Gonzales holdes Töchterlein, so lieb gewonnen, daß er in Caracas an demselben Tage um ihre Hand anhielt, als José um Anas Hand auf der Hacienda warb, und heute sollte dort draußen die Verlobung der glücklichen Paare gefeiert werden.
Die Hacienda hatte aber in der Zeit noch einen Bewohner bekommen, der sich rasch in das neue Leben hineingefunden, und zwar den alten Perdido, Antonios Bruder, der von dem Augenblick an, wo er seine Tochter zu Grabe begleitete, weich und nachgebend geworden war und sich leiten ließ, wie man ihn haben wollte.
Möglich, daß jener Augenblick an dem Sarg des Kindes, wo sich die ersten Tränen wieder Bahn brachen, eine Art Krisis herbeigeführt hatte, die ihn, wenn auch nicht vollkommen heilte, doch seinen Zustand milderte. Von Tadeo geführt, ließ er alles mit sich machen, ließ sich waschen und neu kleiden und folgte dann dem Bruder hinaus nach der Lagune, wo er sich anfangs freilich unter allen den ihm fremden Menschen scheu und zurückgezogen hielt; aber die Kinder im Hause gewannen ihn bald dem Leben zurück.
Antonio Castilia hatte mit Tadeo verabredet, daß dessen Bruder Pablo das kleine Grundstück in Chacao als Eigentum bekam, während Tadeo selber von seinem neuen Beschützer einen weit größeren und besser gelegenen Platz an der Lagune mit einem freundlichen kleinen Hause erhielt und dort ungestört wirtschaften konnte. Ein ähnlicher Platz lag dicht daneben, aber der dafür bestimmte Eigentümer fehlte noch, obgleich er schon vor längerer Zeit versprochen hatte einzutreffen.
Jetzt saß der alte Don Carlos – wie Perdido im Hause wieder genannt wurde – den größten Teil des Tages oben unter dem Vorbau an der steinernen Treppe, glücklich, wenn eines der Kinder zu ihm kam und sich mit ihm beschäftigte, und die Kinder hatten ihn seines liebevollen Betragens wegen alle gern. Nur wenn wirklich Fremde eintrafen, zog er sich scheu in sein Zimmer zurück, obgleich er den täglich im Hause Verkehrenden nie auswich. Besonders aber war es wirklich rührend zu sehen, wie er manchmal vor Eloi stehen blieb, ihm das Haar aus dem Gesicht strich und ihn leise »Antonio« nannte. Es war augenscheinlich, er sah in dem jungen Mann des eigenen Bruders Züge, wie er ihn früher gekannt und noch immer unverändert im Gedächtnis trug. Er wurde sich wohl auch seines jetzigen Zustandes nie recht klar bewußt, aber er war freundlich und gut, und alle taten dem »Onkel Carlos« zuliebe, was sie nur irgend konnten.
Ein Gast im Hause seit einigen Tagen war Oberst Teja, der jetzt seinen Abschied genommen und gegen den alten Castilia die Absicht ausgesprochen hatte, sich in Venezuela anzukaufen. Nachdem er mit Monagas noch die Gelben aus Puerto Cabello verjagt und auf ihre Schiffe getrieben, ging er zurück nach Caracas und La Guayra, wo er seine Gelder von daheim erwartete. Jetzt, mit dem letzten Dampfer waren diese eingetroffen, und, wie er sagte, sei er nur herausgekommen, um der Familie, die ihn so freundlich aufgenommen habe, seinen Abschiedsbesuch zu machen, da er aller Wahrscheinlichkeit nach weiter in das Innere gehen würde.
»Und weshalb wollen Sie sich nicht in unserer Nähe ansiedeln?« fragte ihn Castilia. »Sie wissen, wie mein Sohn an Ihnen hängt, wie gern gesehen Sie bei unserer ganzen Familie sind, also, da hätten Sie doch gleich eine Nachbarschaft. Besseres Land finden Sie in ganz Venezuela nicht, und billig können Sie in jetziger Zeit ebenfalls hier kaufen, denn viele Leute hat der Krieg so heruntergebracht, daß sie wenigstens einen Teil ihrer Hacienden verkaufen müssen, um sich wieder etwas emporzubringen.«
Teja gab aber ausweichende Antworten. Er wolle sich doch lieber erst auch das übrige Land ansehen; er möchte sich nicht gleich auf der Stelle an dem ersten Platz festsetzen, der ihm gut gefallen usw., und Sennor Castilia hörte natürlich auf, in ihn zu dringen.
Das Wetter war den ganzen Tag unsicher gewesen, zuweilen kam der blaue klare Himmel heraus, und dann zogen wieder dunkle Wolken darüber hin; im Norden aber stand eine schwere, feste Wand und versprach einen der jetzt gewöhnlichen Abendgüsse.
Es war bald Mittagszeit, und Rosa ging in den Garten hinunter, um noch ein frisches Blumenbukett für die Tafel zu schneiden. Es war das ihr tägliches Geschäft, denn niemand arrangierte die Blüten mit so viel Geschmack und so reizend als sie.
Teja war in der Umzäunung gewesen, wo die Pferde standen und unter einem breiten Schuppen Schutz gegen Regen fanden. Er kam durch den Garten und traf dort, vielleicht zufällig, mit Rosa zusammen; eigentlich hätte er einen näheren Weg durch das Orangendickicht gehabt, das zwischen dort und dem Hause lag.
»Sennorita, darf ich Ihnen helfen?« sagte er, als er in dem schmalen Weg herankam und gegrüßt hatte, als ob er vorübergehen wollte. »Sie müssen sich überhaupt beeilen, denn wir bekommen bald Regen.«
»Ich glaube noch nicht,« erwiderte Rosa und war dabei, ohne eigentliche Veranlassung, denn die Worte klangen harmlos genug, blutrot geworden.
Teja trat zu der Hecke hinüber und suchte einige der schönsten und noch nicht durch den Regen geschädigten Rosen aus. Es war fast, als ob er etwas sagen wolle, aber das Atmen wurde ihm so schwer, daß er kein Wort über die Lippen brachte.
»A propos, Sennor,« fragte das junge Mädchen, dem entweder das Schweigen peinlich wurde, oder die sich auch vor dem Reden fürchtete, »Sie haben uns ja noch kein Wort davon gesagt, wie Ihr Duell mit Oberst Bermuda ausgefallen ist. Don José erzählte uns nur, daß Sie ihn gefordert hätten, war aber am nächsten Tag von Caracas abgereist und hörte nichts weiter darüber.«
»Das hatte ich auch, mein Fräulein,« erwiderte der junge Mann etwas verlegen, denn er trug jetzt ganz andere Dinge im Kopf als Oberst Bermuda – »das Rendezvous sollte am alten Schloß bei Caracas sein – Sie kennen wohl den Platz, nicht wahr?«
»Ei gewiß kenn' ich ihn.«
»Wir wollten uns mit oder nach Sonnenaufgang dort treffen – ich bin auch über drei Stunden dort geblieben.«
»Und er kam nicht?« rief Rosa rasch und drehte sich nach ihm um.
»Das Wetter wird ihm wohl zu schlecht gewesen sein,« meinte Teja, »denn es regnete stark, und später – hatte er wohl keine Zeit mehr, denn Bruzual war ihm so rasch mit den Schiffen durchgegangen, daß er zu Pferde nach Puerto Cabello reiten mußte. Er ist hier vorbeigekommen. Hat er nicht bei Ihnen vorgesprochen?«
»Nein, das nicht,« – und eine leise zornige Bewegung kräuselte ihre Lippe ein wenig.
»Sennorita,« fuhr jetzt Teja fort, der das Rosenpflücken ganz vergessen zu haben schien, aber mit so leiser Stimme und ohne das Mädchen anzusehen, daß ihn Rosa kaum verstehen konnte, und doch mußte sie es gehört haben, denn sie wurde noch viel röter als vorher – »ich weiß, daß Bermuda gewagt hat, um Ihre Hand anzuhalten.«
Rosa schwieg – sie konnte in dem Augenblick nichts Gescheiteres tun.
»Was würden Sie nun sagen, wenn – wenn es noch jemand gäbe, der« – er atmete tief auf – »der ebenso unverschämt wäre wie Bermuda.«
Rosa schien es selber nicht zu wissen, sie wandte sich halb ab, und ihr Herz klopfte fast hörbar in der Brust – dadurch aber, daß sie ihn nicht mehr ansah, bekam Teja Mut. Im Nu hatte er die gepflückten Blumen fallen lassen und des Mädchens Hand ergreifend, sagte er mit zitternder, herzlicher Stimme: »Rosa, ich bin Ihnen von ganzer Seele gut, und wenn Sie mich nicht fortschicken wollen, wäre ich der glücklichste Mensch unter Venezuelas schönem Himmel.«
»Aber wer schickt Sie denn fort?« fragte Rosa – sie wußte kaum, was sie sprach, und trotzdem war es genug. Zugleich hatte Teja auch schon seinen Arm um sie geschlagen und preßte sie in seliger Lust an seine Brust.
»Aber Sennor!« rief Rosa erschreckt aus.
»Ob ich es mir denn nicht gedacht habe,« rief plötzlich der alte Castilia, der in diesem Augenblick an einem anderen, dicht daran hinführenden Weg vorüber wollte und die Gruppe bemerkt hatte – ihn hatten die beiden jungen Leute natürlich gar nicht gehört. Teja ließ im Nu das Mädchen los, und über die kleine Hecke springend und des alten Herrn Hand ergreifend, rief er mit herzlicher Stimme:
»Mein lieber Vater – sind Sie mir böse, wenn ich mir hier in Ihrer Nähe meine Heimat suche?«
»Komischer Mensch,« erwiderte Castilia, indem er ihn kopfschüttelnd betrachtete. »Daß Sie dem Mädchen da gut waren, das weiß jede Magd im ganzen Hause, und daß Rosa Ihnen gut war, ebenfalls.«
»Aber Papa!« rief Rosa erschreckt, »ich hab' es ja selber nicht gewußt.«
»Das soll manchmal so vorkommen,« meinte der alte Herr, »und diesem jungen Menschen hab' ich's unter den Fuß gegeben – so deutlich, als man es nur anständigerweise tun kann, und ihm zugeredet, sich hier in der Nähe anzukaufen, damit wir später alle beisammen wären. Aber Gott bewahre – er muß erst das Land kennen lernen, vielleicht findet er dann bei Calabozo oder Apure oder sonst in einer entlegenen Gegend, mitten in den dürren Llanos, einen Punkt, der ihm besser gefällt als die Lagune von Valencia. – Wie Sennor?«
»Aber, bester Vater, könnt' ich mich denn entscheiden, bis ich wußte, wie mir Rosa gesinnt war? Mit jungen Damen ist in dieser Hinsicht nicht zu spaßen – und darf ich sie die Meine nennen?«
»Wenn Sie die geringste Rücksicht auf Ihre Braut nehmen,« sagte da Sennor Castilia mit einem Anflug von Humor, denn er fühlte, daß ihm selber die Tränen in die Augen kamen, und drückte die Hand des jungen Mannes, die er in der seinen hielt, »so machen Sie, daß Sie dieselbe noch vor dem Regen unter Dach und Fach bringen. In fünf Minuten wird es in Strömen vom Himmel gießen.«
Rosa war schon um die kleine Hecke geflogen und lag an ihres Vaters Brust – er preßte seine Lippen in zärtlicher Liebe auf ihr Haupt, dann aber schob er sie von sich, denn ein paar große schwere Tropfen schlugen nieder, und der Wind begann mächtig in den Wipfeln zu rauschen.
Teja war wirklich zurückgesprungen und hatte seine gepflückten Rosen aufgegriffen – die durfte er nicht zurücklassen, denn sie sollten ihm ja helfen, die Erinnerung an den schönsten Augenblick seines Lebens zu bewahren – dann aber Rosas Arm ergreifend, eilte er mit ihr im Triumph dem Hause zu – und in das Zimmer der Mutter. Sennor Castilia konnte ihnen gar nicht so rasch folgen. Wie Bleikugeln so schwer schlugen indessen schon die Tropfen auf die Blätter und den Boden – verschwanden plötzlich wieder auf eine halbe Minute – und dann rauschte es nieder, daß man fast nicht mehr wußte, fielen die Tropfen von oben nieder oder sprangen sie aus dem Boden selber herauf, so hoch spritzten sie in der Höhe und verwandelten den ganzen Gartenplatz in kaum einer Viertelstunde in einen kleinen See.
Aber was hinderte das die glücklichen Menschen da oben in dem Herrenhaus der Hacienda. Den beiden Brautpaaren war es allerdings schon in den letzten Tagen nicht entgangen, daß sich Oberst Teja und Rosa herzlich lieb hatten, aber jedes schien sich auch gescheut zu haben, ein Wort darüber zu äußern.
Nur an Onkel Carlos ging dieser Jubel ziemlich still vorüber. Auch sein Antlitz heiterte sich wohl auf, als er so viele glückliche Menschen um sich sah; das Lachen war aber seinem Ohr die langen Jahre hindurch ein ungewohnter Laut geworden; nur als Eloi zu ihm kam und ihm die Hand drückte, machte er sich los von ihm, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände, sah ihm lange in die Augen und sagte dann, indem er ihm freundlich zunickte: »Antonio.« Dann setzte er sich wieder in seinen Stuhl auf der Veranda und sah zu, wie der Regen auf die Erde niederpeitschte.
Mitten in dem Jubel der ganzen Familie, die jetzt endlich zum Essen gerufen war – und heute saß Teja neben Rosa – rief plötzlich der alte Castilia, der seinen Platz so hatte, daß er die ganze Allee überschauen konnte. »Hallo, was ist das? Kommt da Besuch, oder wer fährt da in den Hof herein?«
Alle Köpfe drehten sich um, aber erst, als das Fuhrwerk die dichten Bäume hinter sich hatte und die Palmenallee erreichte, konnten sie erkennen, daß es ein von einem einzelnen Maultier gezogener Karren war, auf dem zwei Kisten standen und zwei menschliche Wesen saßen, während ein breitschultriger Neger nebenher ging und das Maultier trieb. Daß alle gerade so aussahen, als ob sie eben aus einem Fluß herausgefischt wären, versteht sich von selbst. Das dünne Kattunzeug, das sie trugen, klebte ihnen fest an den Körpern an, und es bedurfte einiger Zeit, bis die Familie herausbekam, wer sich da nahe.
»Das ist unser neuer Nachbar Samuel!« rief Sennor Castilia, der sich zuerst über die Ankömmlinge klar zu werden schien. »Er kommt, um in sein neues Besitztum einzuziehen – hat sich hübsches Wetter dazu ausgesucht.«
»Und der eine auf dem Wagen da oben muß Felipe sein,« rief Teja, »ich kann den Armstumpf erkennen. Was sitzt aber da neben ihm – ein Kind?«
»Samuel wollte seine Mutter mitbringen, aber ich sehe sie nicht auf dem Wagen,« meinte Sennora Castilia.
»Vielleicht kommt noch ein anderer Karren hinterdrein,« erwiderte ihr Gatte, »die sind aber schön naß geworden. Sinto, spring' in die Küche hinunter, laß ein tüchtiges Feuer anmachen, daß sie sich wieder trocknen können, und sorge dafür, daß sie reichlich zu essen bekommen. – Da nimm auch die Flasche Wein mit; das wird ihnen besonders gut tun. Nach dem Essen kommen wir hinunter, um sie zu begrüßen.«
Das Mittagsmahl war beendet – und ein glücklicheres wohl nie in dem alten Gebäude verlebt worden. – Als endlich Castilia aufstand, um seine neuen Gäste unten in der Halle zu begrüßen, erhoben sich alle von ihren Sitzen und beschlossen ihn zu begleiten. Die Damen wollten doch auch den neuen Nachbar kennen lernen, dem sie ja eigentlich ihr ganzes Glück verdankten. Nicht allein Elois, nein, auch Tejas Leben hatte er ja gerettet, wie ihnen dieser eben bei Tisch erzählt. Sie fanden auch unten in der Küche eine fröhliche Gesellschaft versammelt, so fröhlich in der Tat, daß die ganze Küche von dem Lachen der Dienstboten zitterte. Die Leute hatten sich um ein kleines, wunderliches Wesen versammelt, aus dem die Damen im ersten Augenblick gar nicht klug werden konnten, was es eigentlich sei, ein alter Mann, ein Knabe oder eine Frau. Dieses etwa vier Fuß hohe rätselhafte Geschöpf war in ein kurzes, noch ganz nasses, braunes Kattunröckchen gekleidet, das ihm etwa bis zum Knie herunterging, hatte graue Haare und eine tiefe Baßstimme, aber so lebhafte Bewegungen, wie ein Kind, und schien sich an der warmen Flamme, und mit einem schon halb geleerten Wasserglas voll Wein vor sich und einer kleinen kurzen Pfeife im Mund so vortrefflich zu befinden, daß es lauter Schnurren erzählte, über welche die Leute jedesmal in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Dicht daneben aber saß Samuel, sein breites Gesicht vor Vergnügen schmunzelnd, während seine Blicke mit innigem Behagen, ja Zärtlichkeit auf der kleinen wunderlichen Gestalt an seiner Seite hafteten. Nur manchmal, wenn sie es gar zu arg trieb und vor Ausgelassenheit vom Stuhl aufsprang und zu hüpfen anfing, legte Samuel ihr seine breite Hand wie ein Zentnergewicht vorsichtig auf die Schulter und drückte sie wieder auf ihren Stuhl.
Als die Herrschaft unten in der Küche erschien, legte sich allerdings der Lärm, und Samuel, der rasch aufsprang, schüttelte erst die ihm gebotenen Hände von Eloi, Teja und José, dann ging er auf den alten Herrn Castilia zu und sagte treuherzig:
»Nun Sennor – da sind wir – und das kleine bißchen Mutter hier habe ich ebenfalls mitgebracht, wie Sie es gewollt haben. Anfangs war es mir freilich nicht so ganz recht, ein so großes Geschenk von Ihnen anzunehmen, aber zuletzt dachte ich: Sie haben's einmal – das Stückchen Land wird Ihnen nicht besonders weh tun, und gute – Nachbarschaft wollen wir schon halten.«
»Da können Sie sich auf meinen Sohn verlassen,« fuhr jetzt die kleine alte Frau dazwischen, indem sie, unter dem Arm des Riesen vorgleitend, so geschwind wie ein Wiesel auf und nieder knixte. »Ein braver Mensch ist's, das hat er an mir armen, alten Frau bewiesen, die er auf Händen trägt, und in der Welt geachtet ist er auch, – die Gelben hatten ihn schon zum General gemacht, aber er hielt es in der Würde –«
Sie kam nicht weiter. Samuel hatte ihr leise seine Hand auf den Kopf gelegt, und wie er das Gewicht sinken ließ, war es, als ob er die alte Frau bis zur Hälfte ihrer natürlichen Größe in den Erdboden hineingedrückt hätte. Sie wurde so klein, daß der Saum ihres kurzen Röckchens den Boden berührte.
»Samuel,« sagte Castilia freundlich – »das wenige, was ich Euch gebe, zahlt noch nicht den tausendsten Teil meiner Schuld an Euch ab; aber auch ich bin überzeugt, wir werden gute Nachbarschaft halten. Und nun trocknet Euch vor allen Dingen und ruht Euch ordentlich von der Fahrt mit Eurer Mutter aus, und morgen früh könnt Ihr Euer kleines Besitztum in Augenschein nehmen. Es wird Euch schon gefallen; das Häuschen ist freundlich und bequem, und der Boden fruchtbar und gut.«
Ana war an Josés Arm vorgetreten und hatte zu dem Neger halb im Zweifel, halb erstaunt aufgeschaut. Jetzt rief sie aus:
»Nein, ich irre mich gewiß nicht; das ist ja mein alter Reisegefährte aus der Diligence von La Guayra nach Caracas.«
Der Neger sah sie erstaunt an.
»Das ist wohl möglich, Sennorita,« sagte er nach einer kleinen Weile, und es war fast, als ob er dabei erröten wollte, wenn die Haut nur die Farbe durchgelassen hätte, »ich bin freilich einmal mit einer jungen Dame in der Diligence gefahren, habe aber ihr Gesicht in der ganzen Zeit nur wenig zu sehen bekommen, und – die Erinnerung daran ist auch für Sie vielleicht angenehmer als für mich.«
Ana lächelte, Samuel fuhr aber gutmütig fort, »ich habe mich dabei wahrscheinlich nicht so betragen, wie es sich für einen Caballero schickt – ich – hatte ein bißchen viel im Kopf und – mußte nachher auch die ganze Nacht auf der Straße schlafen. Aber das ist jetzt vorbei, und wenn Sie das gerade waren, so denk' ich, ist noch alles zum Besten für uns ausgeschlagen. Sie sind mir doch nicht böse?«
»Sie haben mir zweimal den Bruder gerettet,« erwiderte Ana mit tiefer Bewegung, indem sie Samuel die Hand hinüberreichte, »glauben Sie uns allen, daß wir Ihnen ewig dankbar dafür sind.«
Samuel nahm die Hand, aber äußerst vorsichtig. Er legte sie in seine hohle Linke und streichelte mit der Rechten sanft darüber hin, dann nickte er ihr freundlich zu, und als seine Mutter herumfahren und auch noch ihren Spruch – und wahrscheinlich eine Lobpreisung Samuels – anbringen wollte, hob er sie unter den Armen wie ein Kind in die Höh', drehte sich mit ihr herum und setzte sie wieder auf ihren Stuhl.
Die Revolution war beendet, und das Volk wollte Monagas aller Orten zum Präsidenten wählen, aber die Nachsicht gegen Bruzual trug jetzt ihre bösen Früchte.
Als sich dieser letzte General der Gelben in Puerto Cabello festgesetzt hatte, folgte ihm, wie schon erwähnt, der alte Monagas mit jugendlicher Frische und trieb ihn wieder auf seine Schiffe, aber er selber hatte sich dabei wohl zu viel auf seine Kraft verlassen. Er erkrankte schon in Puerto Cabello gefährlich und starb bald darauf in Caracas – er hat sein Wort gehalten.
Was er früher in Venezuela – wie schwer es auch gewesen – gesündigt hatte, ist vergessen; er hat seinen Namen reingewaschen von jeder Schmach, und José Fadeo Monagas wird von jetzt an in der venezuelanischen Geschichte als ein Mann gelten, der sein Vaterland liebte und es von dem ärgsten Druck befreite.
Soll ich noch sagen, wie glücklich die jungen Paare von jetzt an alle in der Nähe des Castiliaschen Stammsitzes lebten? Es ist kaum nötig; die Hochzeiten wurden an einem Tage zusammen gefeiert, und wie sich die Liebenden im Unglück gefunden hatten, schien ihnen das Glück jetzt, das ihnen ein Paradies zum Wohnplatze gegeben, fortan um so freundlicher zu lächeln.
Ende.