Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Am Ostersonntag.

Wieder waren Wochen vergangen und der Zustand in Caracas, ja, im ganzen Lande, fing an ein unheimlicher zu werden. Es fiel allerdings nichts Besonderes vor und nirgends noch hatte zwischen den feindlichen Parteien ein ernstlicher Zusammenstoß stattgefunden – aber die Gewitterschwüle vor einem Sturm lag über der ganzen Bevölkerung Venezuelas, und jeder – nur, wie es schien, Falcons Regierung nicht – wußte, daß dieser Zustand unmöglich lange dauern konnte.

Im Innern hielten die gelben Truppen zwar noch immer die größeren Plätze besetzt, und die Reconquistadoren ließen sie auch bis jetzt in ungestörtem Besitz, aber dazwischen hinein schoben sie entweder schon ihre Posten, oder fingen an, besonders von Süden und Westen her, mehr und mehr gegen die Hauptstadt vorzurücken, ohne daß Falcons Generale imstande gewesen wären, sie daran zu verhindern, ja selbst, ohne daß sie den Versuch dazu machten.

Falcon verfolgte indessen unverdrossen und unbeirrt seine kleinliche Politik. Die Deputierten der verschiedenen Landesteile traten wieder in der Kammer zusammen, und es war auch kein Geheimnis geblieben, daß sie einen energischen Protest gegen den, man konnte fast sagen, passiven Widerstand der Regierung beschließen wollten, mit welchem allen Wünschen des Volkes begegnet wurde.

Ob es auf Falcons Befehl geschah, wußte man nicht, aber es war jedenfalls nach seinem Wunsch, daß sich die zu ihm stehende Minorität der Kammer von den Sitzungen fernhielt, und diese dadurch beschlußunfähig machte. Auf die Tribüne geschicktes Gesindel, fast nur Soldaten, die indessen ihre militärischen Abzeichen nicht trugen, verhöhnten die Abgeordneten, und als sich ein General in den Sitzungssaal drängte, und der Präsident der Kammer dagegen protestierte, erhob sich draußen, in dem nur durch ein weites Gitter abgetrennten Raum, der als Tribüne diente, ein solcher Tumult unter der Bande, und solche Drohungen wurden gegen die Abgeordneten ausgestoßen, daß diese schon eine Wiederholung der unter Monagas früher aufgeführten Szene fürchteten und der Präsident, anstatt erst den Versuch zu machen die Tribünen zu räumen, augenblicklich die Sitzung aufhob und die Deputierten auseinanderstoben.

Die Empörung in Caracas war allgemein. Oleaga selber ging zu Falcon, um ihm Vorstellungen darüber zu machen, aber dieser zuckte die Achseln.

»Was wollen Sie?« sagte er, »Sie sehen, daß selbst das Volk auf meiner Seite ist und eine Opposition gegen meine Regierung nicht dulden will. Soll ich mich selber ins Gesicht schlagen?«

An dem nämlichen Abend entstanden neue Unruhen. Im Hause des Präsidenten der Kammer hatten sich verschiedene Mitglieder versammelt, um die Tagesereignisse und besonders die Störung der Sitzung zu besprechen. Wieder sammelte sich ein Menschenhaufen, der hauptsächlich aus Soldaten in Zivil – d. h. mit Hemd und Hosen bekleidet – bestand. Man klopfte an die Fensterladen, man schrie Drohungen hinein. Drei Revolverschüsse wurden sogar abgefeuert und eine Kugel schlug in das Zimmer, in dem sich die Abgeordneten befanden, glücklicherweise nur harmlos in die Wand.

Die Stimmung in der Stadt wurde dadurch am nächsten Tage eine so drohende, daß sich der Senat veranlaßt sah, der Kammer über das Vorgefallene sein Bedauern auszusprechen. Die Regierung tat indessen gar nichts. Nachdem an dem Abend geschossen worden, marschierte allerdings Militär auf und besetzte die Straßenecken, belästigte aber die Unruhestifter nicht im mindesten, ja, einer der Deputierten wurde sogar, als er nach Hause gehen wollte, von ihnen verhaftet, mußte aber freilich bald nachher wieder freigelassen werden.

Die eintretende Semana santa, oder Osterwoche, die in Caracas mit großer Feierlichkeit begangen wird, beruhigte wenigstens auf kurze Zeit die Gemüter, und es schien, als ob die Regierung etwas Luft bekommen sollte.

Die üblichen großartigen Prozessionen zogen durch die Straßen, in denen die schöne Welt im höchsten Staat lustwandelte, oder hinter den Gittern ihrer Fenster dem »Schauspiel« zusah. Die Kirchen waren wie gewöhnlich mit Damen angefüllt, die vor dem Bilde des Gekreuzigten und der mit Schwertern durchbohrten Brust der Jungfrau ihren glänzendsten Putz entfalteten. Es sollte ja auch ein Fest des Friedens und der Versöhnung sein; aber wer von all' den Tausenden, die heute ihr Gebet zum Himmel schickten, dachte an Frieden und Versöhnung! Überall in den Straßen standen die Männer in Gruppen zusammen, und selbst das auf der Plaza zusammengezogene Militär schien in Unruhe, denn dumpfe Gerüchte über den Abfall von Regierungstruppen in der Nähe von Caracas gingen von Mund zu Mund, ohne daß man ihren Ursprung hätte auffinden können. – Es war wie eine Vorahnung dessen, was notwendig geschehen mußte, sobald einmal der jetzt nur noch unter der Asche glimmende Funken in helle Flammen ausbrach.

Wie es hieß, drängte Falcon fortwährend seine Minister, ihn reisen zu lassen; er hatte Besitzungen, die er besichtigen mußte, und brauchte auch eine Luftveränderung, seiner Gesundheit wegen. Die Minister weigerten sich aber, ihre Zustimmung dazu zu geben, denn sie wußten nicht genau, ob er zurückkehren würde, und hätten sich dann natürlich in einer höchst peinlichen Lage befunden.

Merkwürdigerweise erhielt die Regierung gar keine Depeschen von außen. Ob sie aufgefangen wurden, oder ob die Generale nicht schrieben, genug, man wußte fast gar nichts vom Innern des Landes, während die paar Reisenden, die von dort herkamen, wohl genauen Bericht über die Stellung der Regierungstruppen abstatteten, die sie unterwegs getroffen hatten, von Banden der Blauen aber nie etwas wissen wollten, und doch mußten diese überall zerstreut liegen.

In diesen ersten Tagen der Woche traf das sich bald bestätigende Gerücht ein, daß der frühere Präsident der Republik, José Tadeo Monagas, ein Manifest erlassen habe, worin er der Nation zum Frieden und zu einer gütlichen Beilegung des Streites riet, dabei aber in kernigen wenn auch etwas phrasenreichen Worten strenge Erfüllung der Volkswünsche verlangte. Das Manifest war allerdings nur an »seine persönlichen und politischen Freunde« gerichtet, aber selbstverständlich für die ganze Nation bestimmt, und die Überzeugung sprach sich schon überall aus, daß man, was auch immer auf Monagas' Vergangenheit lastete, doch vorderhand keinen besseren, als ihn finden würde, um an die Spitze der Revolution zu treten.

Monagas, der sich mit sieben oder acht Millionen, die er dem Staat gestohlen, in die Stille des Privatlebens zurückgezogen hatte, trat aufs neue an die Öffentlichkeit. War das Geld schon vertan und brauchte er neue Hilfsquellen? Nein, er war einer der reichsten, wenn nicht der reichste Privatmann in Venezuela, und seine Freunde in der Stadt, deren er doch noch immer hatte, erzählten jetzt von seiner Äußerung: er habe einen bösen Ruf in Venezuela hinterlassen, der ihn drücke und quäle. Er wolle das wieder gut machen, und seinem Vaterland mit dem letzten Blutstropfen dienen, ohne auch nur das geringste, weder Geld, noch Ehrenstellen, zu beanspruchen. Wenn er das erreicht habe, trete er wieder in sein stilles Familienleben zurück, und er hoffe, die Nation werde, wenn er einmal sterbe, das Brandmal von seinem Namen nehmen und ihm ein freundliches Andenken bewahren.

Am Mittwoch, den 8, April, mitten in der Semana santa, stand jenes Manifest abgedruckt in der oppositionellen Zeitung, im »Föderalista«, und die Stimmung für Monagas war eine entschieden günstige in der Stadt. – Zugleich aber lief auch ein heftiger Schreck durch die Reihen der Regierungspartei, denn plötzlich verbreitete sich das ganz bestimmte Gerücht, Victoria, die zweite Stadt im Innern, habe sich fest und entschieden für die Revolution erklärt, ja, das dortstehende Militär sei mit Offizieren und allem zu den Blauen übergegangen.

An dem Tage mag Falcon zum ersten Male die Möglichkeit seines Sturzes vorausgesehen haben. Donnerstag wurden die Minister zu ihm bestellt und sollten Hilfe schaffen; sie vermochten es nicht und reichten ihre Entlassung ein. Dann ward Arvelo gerufen und ihm die Bildung eines Ministeriums anvertraut; Falcon hatte vollkommen den Kopf verloren.

Arvelo benutzte die günstige Gelegenheit, denn wenn ihn nur der Präsident ehrlich unterstützte, so war es noch möglich, einen offenen Krieg von dem Lande abzuwenden. Er sandte augenblicklich Kuriere nach der Lagune und dem in Kagua stehenden General der Blauen, Alvarado, um einen vierzehntägigen Waffenstillstand abzuschließen, während sich das neue, liberale Ministerium konstituierte.

Schon am Karfreitag war ein neues Ministerium ernannt, das der Stadt die größten Hoffnungen auf eine friedliche Beilegung des Streites gab. – Mejia, ein anerkannt tüchtiger Soldat und braver Mann, der sich der Falconschen Wirtschaft stets ferngehalten hatte, war Kriegsminister geworden, Arvelo hatte das Innere und die Justiz, das Äußere Villafanne, Antonio Parejo aber den nicht beneidenswerten Posten des Finanzministers, und ein Jubelruf ging durch Caracas, als schon am nächsten Morgen, am Sonnabend, ein Dekret des Justizministers verkündete, daß die Regierung beschlossen habe, alle politischen Gefangenen in Freiheit zu setzen, während der Kriegsminister zu gleicher Zeit einen Armeebefehl erließ, nach welchem die sämtlichen Soldaten von elf Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags, also während der Dauer der Session der Abgeordneten, in ihren Kasernen sollten gehalten werden, und die Offiziere davon keine Ausnahme machen dürften.

Beide Erlasse erschienen am 11. April im »Föderalista« – das offizielle Blatt war wenige Tage vorher sanft entschlummert – und der Jubel in Caracas läßt sich denken. Die einzige Befürchtung nur blieb, daß unter diesem Präsidenten und mit diesem Heer ein solches freisinniges Ministerium nicht lange würde bestehen können – und was dann?

José hatte sich die ganze Zeit in der Hauptstadt aufgehalten, und so besorgt sich auch seine Mutter zeigte, daß er hier noch mit der Regierung, die ihn doch jedenfalls überwachte, in Konflikt geraten könne, so mochte er sich doch nicht entschließen Caracas zu meiden. Was sollte er auch draußen im Innern tun? Müßig abwarten, was die noch immer unschlüssigen Reconquistadoren endlich einmal beschließen würden? Das konnte er hier ebensogut. Außerdem hieß es sogar, daß die hervorragendsten Führer beider Parteien, also Miguel Antonio Rojas mit einigen seiner ersten Offiziere von den Blauen, Bruzual dagegen mit den Ministern des Krieges und des Innern, in Victoria eine Zusammenkunft haben sollten, um die Grundlagen eines dauernden Friedens zu beraten – was natürlich nur dadurch geschehen konnte, daß die auch jetzt dazu völlig willige Regierung dem Volke die nötigen Zugeständnisse machte.

Geschah das, und fügte sich Falcon, so war die Revolution allerdings beendet, und man hätte sich vielleicht sogar noch Falcon länger als Präsidenten gefallen lassen – war es doch immer besser, als ein so furchtbarer Bürgerkrieg, der – einmal entfesselt, viel edles Blut gekostet hätte.

Es war der Abend des Ostersonntags und die große Kathedrale von Caracas so angefüllt mit Menschen, daß »wirklich Andächtige« noch draußen vor den geöffneten Türen auf den Knieen lagen und ihre Gebete zu dem Heiligtum hineinsandten. – Selber betreten oder wenigstens darin knieen konnten sie nicht mehr, denn die Damen der Hauptstadt hatten schon Besitz von der Kirche ergriffen und erfüllten den ganzen Raum. Aber nicht etwa, daß die schöne Welt nur zufällig etwas früher gekommen wäre als die übrigen, nein, seit drei, ja seit zwei Uhr nachmittags – wie man sich wohl ausnahmsweise manchmal in einem Theater einen Sitz sichert, waren sie im höchsten Staat hineingeströmt und hatten dort ihre Plätze eingenommen, die sie oft bis um neun oder zehn Uhr nachts behaupteten.

Sie lagen auch nicht etwa auf den Knieen, das würden sie nicht ausgehalten haben, sondern sie saßen, auf einem zu dem Zweck besonders mitgebrachten Teppich oder Kissen, mit untergeschlagenen Füßen, ihre weiten seidenen Faltenkleider um sich hergebreitet, in langen Reihen quer durch das Schiff der Kirche und in den Gängen und in den entferntesten Ecken, wo die etwas später Gekommenen noch einen kleinen Raum gefunden hatten, und nur schmale Pfade waren an den Säulen hin freigelassen – einzig und allein, damit die jungen Herren dazwischen herumgehen, und sich das reizende Bild von allen Seiten betrachten konnten.

Vor dem Altar wurde das Hochamt abgehalten und dann und wann, zwischen all' dem Flüstern und Kichern und Rauschen der Kleider, tönte die monotone Stimme des Priesters oder das Klingeln kleiner Glocken herüber; aber die jungen Damen schienen wenig darauf zu achten. Nur bei bestimmten Zeichen bekreuzten sie sich – oft ohne selbst ihr leise geführtes Gespräch dabei zu unterbrechen.

Und welche Mischung von Farben, nicht in den Kleidern allein, auf denen heute jede nur erdenkbare Kostbarkeit zur Schau getragen wurde, denn sie feierten ja die Auferstehung des Herrn, nein, auch in den Gesichtern des bunten Kreises! Hier saßen Kreolinnen von blendender Weiße, den schneeigen Hals mit Perlen und Diamanten geschmückt, dicht dahinter aber vielleicht eine alte Negerin mit grauem, wolligen Haar, großen, breitgoldenen Ohrringen und eine grellrote Mantille um die Schultern geschlagen. Rechts und links aber, wohin der Blick fiel, blitzten ihm die dunklen Augen bronzefarbener junger Damen in jeder Schattierung, von der lichtesten, kaum merklichen Färbung der Quadron-Mestize bis zu dem dunklen Braun der vollen Rasse entgegen, und Gesichtskonturen zeigten sich dabei, wie sie sich ein Bildhauer nicht herrlicher hätte zu einer Venus oder Psyche wünschen können.

Und wie diese glänzenden Augen herüber und hinüber flogen und die Gänge entlang, ob sie auf Bekannte oder auch vielleicht Erwartete trafen. – Andacht? Die paar alten Frauen, die da oder dort ihre Rosenkränze abbeteten, hatten sie möglicherweise, aber wahrlich nicht an dem heutigen Abend das junge Volk, das sich hier mehr zu einem fröhlichen Fest, als zu irgend etwas anderem versammelt zu haben schien.

Ebensolche Schattierungen wie die Damen zeigten übrigens auch die Herren, die sich in den freigelassenen, aber nur äußerst schmalen Gängen hinbewegten und einander vorbeizugehen suchten – kein leichtes Stück Arbeit, wenn sie dabei einer oder der anderen der Schönen auf das ausgebreitete Kleid treten wollten, was jedenfalls für eine Unart galt und doch in manchen Fällen gar nicht zu vermeiden war.

Sonderbarerweise sah man aber viel mehr wirklich weiße Damen als Herren – die Mischlingsrasse war jedenfalls am stärksten bei den letzteren vertreten, und licht bronzefarbene Gesichter zeigten sich überall, aber fast lauter schlanke, elastische und oft edle Gestalten, denen das rabenschwarze Haar und der kleine Schnurrbart gar nicht so übel standen.

Just hinter der Ecke des einen mächtigen Pfeilers, von denen zwei Reihen zu dem Hauptaltar führten, lehnte José – aber auch nicht in besonderer Andacht, denn er hatte sich bis jetzt hauptsächlich damit beschäftigt, das Innere der erst neurestaurierten Kathedrale zu betrachten, die wirklich schön in ihrer Einfachheit und würdig wie ein Gotteshaus ihn umgab. Die hohen, mächtigen Säulen hoben sich leicht und kühn empor, so daß sie das Gewölbe kaum zu tragen schienen. Nicht mit vielem Bilderzierat war das Innere geschmückt – es hatte alles beisteuern müssen, um nur das Notwendigste zu schaffen, aber dadurch waren auch die Wände nirgends überladen und lenkten den Blick nicht auf zu buntes Bilderwerk und Schnörkelei. Die Kathedrale von Caracas konnte als ein Schmuck der Hauptstadt gelten – und galt dafür.

Wie aber der Blick des jungen Mannes eine Zeitlang in den hohen, luftigen Räumen umhergeschweift war, senkte er sich endlich seiner nächsten Umgebung zu. Dorthin war ihm freilich nur eine sehr unruhige Aussicht gestattet, denn der Zug der Spaziergänger in der Kirche bewegte sich fortwährend, bald vor-, bald rückwärts, zwischen ihm und den im Schiff sitzenden Damen vorüber. Deshalb aber wurde er dort, wo er stand, auch nicht gedrängt, denn wer heute in die Kirche kam, wollte sowohl sehen als gesehen werden, was in der Ecke da nicht möglich war.

Bald da-, bald dorthin – wie die langsam Vorüberziehenden wechselten, bekam José doch einmal eine Aussicht auf einzelne Gruppen, ohne daß man ihn hätte gut bemerken können. Er traf auch unter den Damen manches bekannte Gesicht, wenn es auch nicht so leicht war, sie unter dem fremdartigen Putz und der Schminke, denn geschminkt hatten sich fast alle und oft in auffallender Weise, rasch herauszufinden.

Da plötzlich fühlte er, wie ihm das Herz stärker zu klopfen anfing, denn dort – allein und nicht mit ihrer Mutter – saß zwischen den übrigen Isabel, und o, wie schön, wie wunderbar schön sie gerade heute abend aussah! Sie trug ein kostbares karmesinrotes Seidenkleid und eine ebensolche einfache Rose im Haar, aber durch die vollen, rabenschwarzen Locken, von denen die Mantille heruntergefallen war, wand sich eine einfache Schnur blitzender Diamanten, die aber keinen solchen Glanz ausströmten, als Isabels Augen.

Doch wie verändert kam sie ihm heute vor. Als er sie zuletzt sah – es waren Wochen darüber hingegangen, denn er hatte seitdem der Sennora Corona Haus nicht wieder betreten – erschien sie bleich und abgehärmt, als ob ein Schmerz auf ihrer Seele laste – und jetzt? Wie eine Königin saß sie zwischen ihren Nachbarinnen, das Haupt stolz, fast keck gehoben, und mit den dunklen Augen ruhig und siegesbewußt nach allen Seiten schweifend. Ihn konnte sie noch nicht bemerkt haben, denn auch über die Stelle, wo er sich befand, glitt ihr Blick, ohne auch nur für einen Moment darauf zu ruhen. Es war fast, als ob sie jemanden suche oder erwarte.

Alles andere war von dem Moment an für José verschwunden; er hatte nur Augen für die einst so heiß Geliebte – und doch wie anders ruhte jetzt sein Blick auf ihr. Schön war sie – schön wie der Sonnenstrahl, der sich durch Palmenwipfel seine Bahn zur Quelle bricht – schön wie die frisch erschlossene Rose, wie der perlende Tau, der auf der Granatblüte schimmert – aber das Vertrauen zu ihr war aus Josés Seele geschwunden. Sein Vater, der kalt berechnende und ruhig beobachtende Kaufmann hatte recht gehabt – sie trug die prachtvoll schillernde Haut, aber auch das Herz einer Schlange, und wie er sie früher geliebt hatte, so fürchtete er sie jetzt.

Plötzlich flog ein lichtes Lächeln über ihre Züge – ihr Auge nahm einen noch höheren Glanz an, und leicht errötend erwiderte sie einen an sie gerichteten Gruß. Wem aber das Lächeln galt, konnte José von seinem Platz aus nicht erkennen, denn der Glückliche befand sich jedenfalls an der anderen Seite der Säule, hinter der er selber lehnte; aber die Herren zogen an ihm vorüber, und wenn er Isabels Augen beobachtete, gelang es ihm vielleicht den Rechten auszufinden. Jetzt nahmen ihre Blicke die Richtung nach ihm hin – der Mann, der [an] ihm vorbeiging, war ein alter Neger, der wahrscheinlich in der Kirche seine Familie suchte – dem hatte sie nicht zugelächelt – ha, der nächste war ein junger Mann in moderner Tracht, von leichter Mischlingsrasse – José konnte das Gesicht noch nicht erkennen, denn der andere wandte den Kopf nach ihr zurück; hatte er ihr ein Zeichen gegeben? Sie winkte, wie einverstanden, mit den Augenlidern, jetzt drehte er den Kopf, und ein leises, erstauntes »Caramba« murmelte José zwischen den Zähnen, als er in dem Vorbeigehenden seinen alten Freund Julio Hierra erkannte.

Er wußte recht gut, daß Hierra schon lange nach Isabel geschmachtet hatte, ohne aber je sich nur des kleinsten Zeichens von Gunst rühmen zu können. War seine Treue, Liebe und Ausdauer endlich belohnt worden? »Mädchenlaunen,« zischte er vor sich hin, während sich seine Brauen zusammenzogen und ein verächtliches Lächeln um seine Lippen zuckte.

Er wandte sich ab und wollte die Kirche verlassen, aber er konnte nicht von der Stelle! Was hatte das Zeichen bedeutet, das sie ihm gegeben, und standen sie schon auf so vertrautem Fuß miteinander? Er mußte abwarten, wie sich das entwickelte. Es war schon längst neun Uhr vorüber, und hier und da standen schon einige Damen auf und suchten sich ihre Bahn, über die ausgebreiteten Kleider hin, dem nächsten Ausgang zu.

Hierra war verschwunden; José konnte wenigstens lange nichts von ihm entdecken. Jetzt plötzlich erhob sich auch Isabel, sie hielt ein kleines gesticktes Polster in der Hand und streckte den Arm aus, als ob sie es jemandem reichen wollte. Fast gewaltsam drängte sich José durch die vor ihm Stehenden, um einen Blick auf ihren Begleiter zu gewinnen, denn wenn sie die Kirche verließen, wären sie seinem Auge ebenfalls durch die Säule entzogen gewesen. – Es war richtig Hierra.

Ob Josés rasche Bewegung Isabels Aufmerksamkeit erregt hatte, oder war es zufällig, aber sie drehte ihm den Kopf zu und mußte ihn erkannt haben. Er grüßte, und sie erwiderte den Gruß, aber kalt und vornehm – keine Miene ihres schönen, stolzen Gesichts bewegte sich – kein Lächeln der Erkennung flog über die ernsten Züge.

Hierra hatte den Freund gar nicht gesehen – keinen Blick verwandte er von ihr. Er trug ihr auch das kleine Polster, und langsam rückten beide, wie es ihnen das noch immer starke Gedränge in der Kirche gestattete, dem Haupteingang zu.

José folgte ihnen fast unwillkürlich, aber in etwas größerer Entfernung und nur so, daß er sie eben noch im Auge behielt, als sie die Kathedrale verließen. Sie schritten direkt der Wohnung Isabellens zu, bis zu deren Tür Hierra diese begleitete. Dort blieben sie noch einen Augenblick zusammen stehen, bis die Tür geöffnet werden konnte, dann verschwand die Sennorita im Haus, und Hierra verfolgte langsam seinen Weg die Straße hinab.

José ging jetzt etwas rascher, um den Freund zu überholen, und das gelang ihm, noch ehe er die Ecke der nächsten Quadra erreichte.

»Nun, Amigo,« sagte er, seinen Arm in den Hierras schiebend, »hast du dich gut amüsiert?«

»Caramba, José, wo kommst du jetzt her? Amüsiert? Ich war in der Kathedrale.«

»Das weiß ich – ich habe dich dort gesehen und bin von da ab hinter euch beiden hergegangen.«

Hierra fand nicht gleich eine Antwort. Wäre es Tag gewesen, so würde José bemerkt haben, daß er über und über errötete.

»In der Tat?« erwiderte er endlich, »ich – fand Donna Isabel, gerade als sie nach Hause gehen wollte, und begleitete sie.«

»Pst! Amigo, das Lügen steht dir schlecht,« sagte lachend José, »und mich fertigst du nicht auf diese Weise ab. Ich habe hinter der nächsten Säule gestanden und euch eine ganze Weile beobachtet. Ihr habt euch sogar untereinander Zeichen gegeben.«

Wieder schwieg Hierra, endlich aber konnte er doch sein geheimes Entzücken, seine Seligkeit nicht länger unterdrücken.

»Es ist ein göttliches Mädchen, José,« brach er heraus, »eine wahrhaft himmlische Erscheinung; aber ich begreife dich nicht,« fügte er hinzu, indem er stehen blieb und den Freund ansah.

»Mich? Inwiefern?«

»Ich weiß bestimmt, daß du dich früher ebenfalls um sie beworben hast.«

»Vielleicht hat sie mir einen Korb gegeben.«

»Nein, sie hat mir noch gestern selber gesagt, als sie mich nach dir fragte, daß sie nicht wisse, weshalb du so plötzlich ihr Haus gemieden habest – du hättest es seit Wochen nicht mehr betreten und selbst auf der Straße immer nur sehr höflich, aber kalt gegrüßt. Es tue ihr leid, versicherte sie, denn sie fürchte, sie hätte dich mit irgend etwas gekränkt, habe aber keine Ahnung, wodurch.«

»Wahrhaftig?« rief José, und ein eigenes wehes Gefühl schoß ihm durchs Herz – »aber du scheinst gar nicht eifersüchtig zu sein.«

»Nein, José,« erwiderte Hierra treuherzig, »weil ich fest überzeugt bin, daß sie mich wirklich liebt; dir kann ich es sagen.«

»Und habt ihr euch schon erklärt?«

»Nein,« antwortete zögernd Hierra – »direkt gefragt habe ich sie noch nicht.«

»Und was sagt die alte Dame dazu?«

»Sie ist die Liebenswürdigkeit selber.«

»Willst du einen guten Rat von mir annehmen, Hierra?«

»Gern, denn ich bin überzeugt, daß du es gut mit mir meinst.«

»Cuidado!« (Nimm dich in acht!)

»In welcher Hinsicht?« rief Hierra erstaunt.

»Habe acht auf dich, mein Junge, du flatterst jetzt um das Licht, wie ich es getan habe.«

»Ich verstehe dich nicht –«

»Ich will deutlicher sein, und nicht allein deinet-, sondern auch anderer Leute wegen. Sie haben sich bei dir nach der Verschwörung gegen Falcon erkundigt, als man neulich erzählte, daß ein Attentat auf ihn gemacht, aber anstatt des Täters der Falsche aufgegriffen sei.«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Hierra verlegen.

»Du weißt es, die Alte hat dich danach ausgeforscht.«

»Wahrhaftig nicht,« rief Hierra rasch, »Isabel nur – aber im Scherz.«

»Also auch Isabel!« sagte José langsam und mit einem recht aus tiefster Brust heraufgeholten Seufzer.

»Lieber Gott,« entschuldigte sie Hierra, »die Frauen sind einmal neugierig.«

»Und hast du ihnen Aufschluß gegeben?«

Hierra lachte. »Ich weiß selber nichts davon und vermute nur, daß Guitierrez dahinter steckte. Dessen Bruder hielt man ja gefangen und behandelte ihn nichtswürdig. Aber die ganze Sache ist jetzt auch zwecklos. Durch das Dekret des Ministeriums sind alle politischen Gefangenen freigelassen, und die beiden Guitierrez haben unmittelbar danach die Stadt verlassen.«

»Der Zustand kann aber jeden Augenblick wiederkehren,« entgegnete José, »das neue Ministerium hat schon wieder seine Entlassung eingereicht.«

»Unsinn,« rief Hierra »nach drei Tagen?«

»Nach drei Tagen,« wiederholte José; »der Aufstand in Victoria hat sich nicht bestätigt, Falcon ist wahrscheinlich wieder übermütig geworden, und sämtliche Minister sind zu anständige Leute, um ihre Namen zu Lumpereien herzugeben.«

»Aber woher weißt du das?«

»Es ist wohl noch nicht definitiv, aber im Werke. Verlass dich darauf.«

»Und was haben Coronas damit zu tun?«

»Eigentlich gar nichts und doch wieder alles. Hüte dich, Hierra, Isabel ist vielleicht das schönste Mädchen von Caracas, was viel sagen will – aber eine herzlose Kokette – sie treibt nur ihr Spiel mit dir, wie sie es mit mir getrieben, bis ich mich gewaltsam von ihr losriß.«

»José –«

»Und das nicht allein – Mutter und Tochter sind falsch. – Im Herzen der Falconschen Partei, und mehr als das, Falcon bis zur – bis zum Äußersten ergeben, benutzen sie ihre angebliche Hinneigung zur Revolution, um Geheimnisse herauszulocken, und das Netz in Händen zu halten.«

»José, um Gottes willen!«

»Glaube mir nicht, versuch' es selber – stelle sie auf die Probe, wie ich es getan habe – nenne ihr einen Mann, der verräterische Absichten gegen Falcon habe, und sieh', ob er nicht in wenigen Tagen verhaftet ist. Hast du von der Haussuchung bei Enano gehört?«

»Ja, es war sehr komisch.«

»Ich hatte ihn der Sennora als verdächtig denunziert.«

»Du, José – es ist nicht möglich! –«

»Ich könnte dir mehr sagen, aber für das andere habe ich noch keine Beweise, und ich will nicht bloß verdächtigen. Nur eins, Hierra – halte die Augen offen, du stehst auf gefährlichem Boden und – bist noch jung und unerfahren. – Aber es wird spät – ich will nach Hause gehen, oder die Meinigen ängstigen sich sonst wieder um mich – gute Nacht, Amigo.«

»Gute Nacht, José,« sagte Hierra und blieb, als ihn dieser verlassen hatte, wie in einem Traum auf der Straße stehen.



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