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In La Guayra im Geschäftslokal von Behrens und Co. saß der Chef des Hauses wieder hinter seinen Büchern und arbeitete, während die Leute in verschiedenster Weise in den Lagerräumen beschäftigt waren.
In das Lager schlüpfte eine kleine schmächtige Gestalt, die in ihrer ganzen Kleidung unverkennbar den Deutschen verriet. Er schien aber schon im Hause bekannt zu sein, ging ohne weiteres auf Herrn Behrens' Pult zu und sagte, den kleinen Filzhut abnehmend:
»Nun, Herr Konsul – haben Sie ihn noch nicht?«
Der Kaufmann sah erstaunt von seinem Buche auf und die kleine wunderliche Gestalt an – ja verstand die Frage kaum.
»Haben Sie ihn noch nicht?« wiederholte aber der Kleine.
»Ich? – Wen? Von was sprechen Sie eigentlich? – Was wollen Sie?«
»Ob Sie meinen Bruder noch nicht haben, den Caspar?«
»Ja, um Gottes willen, Mann,« rief Herr Behrens, »was soll ich denn mit Ihrem Bruder Caspar machen?«
»Ob Sie ihn den Tyrannen, den republikanischen Schuften noch nicht wieder aus den Zähnen gerissen haben?« fragte aber der Deutsche weiter – »den Caspar Bollmeier – Herr Gott, wissen Sie es denn nicht mehr – ich war ja am Montag bei Ihnen und habe mich beklagt, und heute ist schon Sonnabend.«
Behrens schüttelte mit dem Kopf. »Sagen Sie einmal, lieber Freund, sind Sie bei Trost? Was wollen Sie eigentlich? – Ich verstehe kein Wort davon. Was habe ich denn mit Ihrem Bruder zu tun?«
»Mit meinem Bruder?« rief Herr Bollmeier – »das wäre noch schöner. Sind Sie denn nicht der –sche Konsul, und hab' ich mich nicht bei Ihnen beschwert, daß sie meinen Bruder zu den Soldaten gepreßt und jetzt wahrscheinlich mit ins Land hineingeschleppt haben? Das dürfen sie doch nicht, und weshalb sind wir denn da bayerische Untertanen?«
»Ach – jetzt fällt mir die Geschichte wieder ein. Ja, mein guter Herr Bollmeier, so geschwind geht die Sache nicht. Ich habe noch an dem nämlichen Tage in Ihrer Sache an das Kriegsministerium geschrieben, aber natürlich keine Antwort erhalten und der gewöhnliche Geschäftsweg ist, daß ich in vier Wochen noch einmal anfrage und an die Sache erinnere. Wenn wir nachher zwei oder drei Monate später einen Bescheid kriegen, können wir ganz zufrieden sein.«
»Auch noch? Und unter der Zeit schießen sie mir den Bruder tot, und seine Mutter hat nur den einzigen Sohn.«
»Ich denke, Sie sind Brüder?«
»Stief,« sagte Herr Bollmeier.
Behrens zuckte mit den Achseln. – »Ich habe alles getan, was ich tun konnte, und nun müssen wir abwarten was darauf folgt.«
»Aber wenn er nun mit ins Land hineinmarschieren muß?«
»Kann ich's ändern?« rief Behrens, der ärgerlich wurde – »soll ich etwa hinter ihm drein marschieren?«
Bollmeier nahm eine würdevolle Stellung an.
»Bitte, Herr Konsul, nehmen Sie einmal einen frischen Bogen Papier.«
Behrens sah zu ihm hinüber und lächelte. »Und was soll ich damit?«
»Ein Protokoll aufnehmen.«
»Über Konsulats-Weigerung, einem deutschen Untertanen Schutz und Hilfe im Ausland zu gewähren.«
»Aber Sie sind ja gar kein Deutscher, Sie sind ja ein Bayer und gehen mich eigentlich garnichts an.«
»Sind wir nicht alle Brüder?« rief Herr Bollmeier.
»Stief,« antwortete Herr Behrens trocken.
»Sie weigern sich also, ein Protokoll aufzunehmen?«
»Ach, lassen Sie mich mit Ihren Albernheiten zufrieden,« erwiderte der Kaufmann – »beschweren Sie sich bei Ihrer Regierung, wenn Ihnen das Freude macht – aber ich habe keine Zeit mich damit einzulassen. Was ich in meiner Stellung und unter den gegenwärtigen Verhältnissen tun kann, um einen widerrechtlich unter die Soldaten gesteckten Deutschen – ob das nun ein Bayer oder Nassauer ist – wieder frei zu bekommen, werde ich tun, darauf gebe ich Ihnen mein Wort – und nun sein Sie so gut und lassen mich ungeschoren.«
»Bitte,« fuhr Herr Bollmeier fort, der seinen Bruder fallen ließ – »ich habe noch einen Wunsch.«
»Und der ist?«
»Ich bin hilfsbedürftig.«
»Den Henker sind Sie,« rief der Konsul – »Sie tragen eine große goldene Uhr und eine Tuchnadel wie ein Hühnerei und Glacéhandschuhe obendrein. Hilfsbedürftige Leute sehen gewöhnlich nicht so aus.«
»Der Schein trügt oft, Herr Konsul,« bemerkte der Bayer, der auf einmal wieder ganz höflich geworden war – »ich habe auch zu essen und zu trinken, aber ich wollte ein Geschäft gründen.«
»Nun bitte ich aber, daß Sie mich mit Ihren Geschäften verschonen,« rief Herr Behrens ärgerlich. »Glauben Sie, daß ich nichts weiter zu tun habe, als Ihre Phantasien anzuhören, oder daß deutsche Regierungen uns hier Fonds herlegten, um jedem – Herrn Bollmeier ein Geschäft zu gründen?«
»Also Sie weigern sich ebenfalls?«
Behrens antwortete ihm nicht mehr, und der junge Deutsche setzte seinen Hut auf, zog seinen linken Glacéhandschuh an und verließ dann, ohne selbst noch einen Gruß für nötig zu halten, das Lokal.
In der Tür begegnete er zwei Venezuelanern, die aber keine Notiz von ihm nahmen. Der eine von ihnen blieb an der Tür stehen, der andere ging direkt auf Behrens zu und sagte sehr artig:
»Sennor, ich wünsche Waffen für die Regierung zu kaufen. – Was haben Sie davon vorrätig?«
»Tut mir leid,« erwiderte der Kaufmann, dem gar nichts daran lag, der jetzigen Regierung auch noch einen Centabo Wert zu borgen, da die Wiederbezahlung mehr als zweifelhaft blieb, – »kann Ihnen aber nicht dienen, denn ich habe gegenwärtig gar keine Waffen.«
Der eine Venezuelaner, der an der Tür geblieben war, schritt jetzt vor und weiter in den Laden, wo er auf ein paar bestimmte Kisten zeigte. Der andere warf ihm einen fragenden Blick zu, und er nickte.
»Ich bedauere, Ihnen widersprechen zu müssen, Sennor,« nahm der erste die Unterhaltung wieder auf, »aber mein Kompannero war vor einigen Tagen hier im Laden, als gerade aufgeräumt und sortiert wurde, und hat zufällig gesehen, daß Sie da zwei Kisten mit Waffen hatten, die Ihre jungen Leute dort drüben untergebracht – und da stehen sie noch.«
»War das wirklich nur zufällig, daß es der Herr da gesehen hat?« fragte Behrens, indem er dem Spion einen nicht eben freundlichen Blick zuwarf.
»Könnte ich die Waffen einmal besichtigen?« sagte der Herr wieder.
»Sennor,« erwiderte Behrens, »ich weiß nicht, wer Ihnen das Recht gibt, auf solche Weise bei mir einzudringen. Ich bin –«
»Konsul, ich weiß es,« unterbrach ihn freundlich und immer noch sehr artig der Abgesandte – »aber selbst die Konsuln fremder Länder haben kein Recht, in einem Staat – in dem noch dazu eine Revolution ausgebrochen ist, geheime Waffendepots zu halten. Setzen Sie nur den Fall, die Bevölkerung von La Guayra wollte sich empören – sie bräche dann einfach in Ihr Geschäft, nähme was sie fände, und machte reiche Beute gerade an dem, was ihr fehlte – Waffen. Aber beruhigen Sie sich – Sie sollen auch nicht im mindesten in Nachteil kommen. Es wird Ihnen alles ehrlich bezahlt, was wir entnehmen – aber die Waffen müssen wir haben, und wenn Sie meinem Rat folgen, so lassen Sie uns die Sache als ein Geschäft, nicht als eine Zwangsmaßregel betrachten, bei der Sie lange nicht so gut wegkommen würden.«
»Und in was wollen Sie bezahlen? In barem Geld?«
»Du lieber Gott,« rief der Beamte achselzuckend – »bares Geld bekommt jetzt in Venezuela nur die Douane zu sehen. Wir geben Ihnen eine Anweisung an diese.«
»Und der Finanzminister sistiert in der nämlichen Stunde alle Zahlungen.«
»Von diesem Sistieren sind einige Zahlungen ausgenommen – hauptsächlich die für Waffen.«
»Und dann glaub' ich noch nicht einmal, daß Sie den geringen Vorrat, den ich habe, gebrauchen können.«
»Darf ich ihn einmal sehen?«
»Meiers, seien Sie so gut und lassen Sie einmal die Waffenkisten vorholen und öffnen. Der Herr da wünscht sie zu sehen.«
Der Fremde wartete mit der größten Geduld, bis die Kisten vorgezogen und aufgeschlagen waren, und trat dann erst heran, um sie zu besichtigen. Behrens aber, der neben ihm stand, sagte:
»Sie werden sich überzeugen, Sennor, daß das kein Artikel für Sie ist. Es sind keine Musketen, sondern nur leichte Schrotflinten – und die eine Kiste da enthält überhaupt nur Kindergewehre, mit denen man wohl schießen, aber schwerlich großen Schaden anrichten kann.«
»Weiter haben Sie nichts vorrätig?«
»Nicht ein Stück – lassen Sie selber nachsehen, wenn Sie mir nicht glauben wollen.«
»Bitte – gewiß – was enthält diese lange Kiste, wenn ich fragen darf?«
»Meiers, lassen Sie einmal diese Kiste aufschlagen.«
»Es tut mir leid, Sie so zu bemühen.«
Behrens antwortete nicht – die Kiste wurde aufgeschlagen und enthielt – Regenschirme. Der Venezuelaner war beschämt, äußerte aber nichts darüber.
»Wieviel Gewehre enthält diese große Kiste?«
»Es sollen sechs Dutzend sein – sie müssen aber nachgezählt werden.«
»Und diese kleinere?«
»Es waren vier Dutzend; ich glaube, es sind zwei oder drei davon verkauft.«
»Den Rest behalte ich – beide Kisten. Dürfte ich Sie bitten, Ihre Rechnung für das Kriegsministerium auszustellen?«
»Ich werde die Gewehre nachzählen lassen und Ihnen zuschicken. Ihre Adresse, wenn ich bitten darf.«
Der Venezuelaner reichte ihm eine Karte. »Ich werde danach schicken. Der Herr, der die Waffen abholt, bringt Ihnen zugleich den Scheck auf die Douane –« und mit einer höflichen Verbeugung empfahlen sich die beiden Herren.
José Gonzales hatte in den letzten Tagen eine merkwürdige Tätigkeit entwickelt und anstatt, wie ihn die Eltern drängten, Caracas zu verlassen, eine alte Lieblingsbeschäftigung wieder aufgenommen und zu schreinern angefangen. Er arbeitete an einem kleinen Kistchen, das ihm aber nie nach Wunsch geraten wollte, denn zwei oder drei zerschlug er und schob die Stücke dann selber unter den Kochherd, bis er endlich seinen Zweck erreichte. Dann und wann aber hatte er auch wieder Wege in der Stadt zu besorgen und jeden Tag wenigstens einmal das Haus der Sennora Corona aufgesucht, ohne die Damen auch nur ein einziges Mal zu Hause anzutreffen. Er war wenigstens jedesmal noch in der Tür von dem Diener mit einem trockenen »salida« abgespeist worden – sonderbar, daß die Damen so viele Besuche zu machen hatten. Auch das Carcel betrat er am zweiten Tag wieder, traf dort den Schließer, bei dem er sich nach dem Verwundeten – seinem »regungslosen Schlafkameraden« in der einen Nacht, erkundigte. Er drückte dem Mann einen Peso in die Hand, und dieser war die Freundlichkeit selber – erzählte auch, daß der Gefangene wieder Lebenszeichen gegeben und gegessen und getrunken, sonst aber seine Sinne noch nicht wieder beisammen habe. Er stiere einen nur immer gerade an, beantworte aber keine Frage und lache nur manchmal still vor sich hin, als ob er den Verstand verloren habe. Im übrigen sei er aber vollkommen harmlos, und der Doktor hatte gesagt, man solle ihn nur noch eine Woche ruhig zufrieden lassen, dann werde sich sein Zustand jedenfalls bessern. Es sei nichts als eine vorübergehende Gehirnerschütterung, die sich von selber heile. Der Säbelhieb war zu tief eingedrungen.
José hütete sich wohl, die Erlaubnis zu erbitten, ihn zu sehen – es hätte das doch nur in Gegenwart des Schließers geschehen können, also gar keinen Zweck gehabt, und eine unbedachte Bewegung mochte alles verraten. Er begnügte sich deshalb damit, dem Gefängniswärter wieder etwas Geld für Lebensmittel dazulassen, weil er, wie er sagte, Teil an einem Menschen nähme, mit dem er eine Nacht gefangen gesessen, und revidierte dann wieder den äußeren Teil der Mauer, wo ihn aber besonders das genierte, daß zwei Schildwachen den Platz begingen, die eine oben an der Ecke, wo sie die ganze Straße übersehen konnte, die andere nicht weit von der Stelle, an welcher durchgebrochen werden mußte. Gleich darüber war außerdem eine Pulperia oder ein Branntweinstand, wo sich fortwährend zehn oder zwölf Soldaten – oft bis in die späte Nacht, herumtrieben oder vor dem Haus im Freien saßen, die dann auf ein Alarmzeichen auch augenblicklich herbeigeeilt wären.
Eine andere Frage war die, konnte der Kranke, durch seine Wunde, durch Hunger und Entbehrung geschwächt, auch gleich seine Flucht in das innere Land antreten, oder brauchte er nicht vielleicht erst einige Tage Ruhe, was auch insofern gut gewesen wäre, da man dadurch seine Spur verlor.
Was war aber solange mit ihm zu machen? – Sollte er ihn in das elterliche Haus bringen? Dort wurde jedenfalls zuerst gesucht, da man seine Schwester da wußte, und diese selbst durfte nichts von der Flucht erfahren, oder sie hätte sich in ihrer Aufregung leicht verraten. Was wußte so ein junges, unschuldiges Geschöpf von Verstellung.
Aber wohin mit ihm? – Er hatte schon an Coronas gedacht, die ihn gewiß mit Freuden in einer so menschenfreundlichen Handlung unterstützen würden, und immer die Absicht gehabt, mit ihnen darüber zu sprechen, sie ja aber leider nie zu Hause gefunden. Er mußte heute noch einmal zu ihnen gehen, vielleicht war er diesmal glücklicher, und sie konnten ihm auch in mancher anderen Hinsicht einen guten Rat geben. Eigentlich hatte er dabei die Hoffnung, Isabel wieder allein zu treffen, und dann sollte sie ihm nicht so durchschlüpfen wie das letztemal. Sie wußte ja jetzt, daß er sie liebe, und konnte sich deshalb einer entscheidenden Antwort nicht länger entziehen.
Als er die Straße hinabschlenderte, begegnete er einem Freund, dem jungen Hierra dessen Vater in der Verbannung lebte. Hierra selber hatte ein wenig indianisches Blut in den Adern, aber eine sehr gute Erziehung genossen und bekleidete hier in einem der größeren Geschäfte die Stelle eines Buchhalters.
Arm in Arm verfolgten die beiden jungen Leute ihren Weg, und zwar an dem Hause der Sennora Corona vorüber, denn José wollte ihn nicht merken lassen, daß er beabsichtige, dort einen Besuch zu machen. Es war besser, er begleitete den Freund ein Stück Weges und konnte ja dann immer leicht zurückkehren.
»Nun, José, was treibst du denn eigentlich hier in der Stadt? Man sagt ja, daß du neulich einmal eine Nacht auf der Wache zugebracht hättest. Nun, das ist keinenfalls ein Zeichen von schweren Gemütssorgen, denn dorthin schafft man eigentlich nur fidele Leute.«
»Fidele Leute, Hierra?«
»Nun, Nachtschwärmer.«
»Mich haben sie am hellen Tage arretiert.«
»Morgens ganz früh, wie?«
»Nein, mittags.«
»Aber weshalb? Um Gottes willen. Was hast du verbrochen?«
»Ich weiß es nicht und habe es dort ebensowenig erfahren. Die Herren scheinen jetzt zu machen, was sie eben Lust haben.«
»Ja, lieber Freund,« sagte sein Begleiter, »in acht muß man sich jetzt nehmen – besonders, wer Verwandte da draußen unter den »Blauen« hat – und wer hat die eigentlich nicht? Falcons Spione sind durch die ganze Stadt verstreut, und wer ein Geheimnis bewahren will, der tut das am besten mit der eigenen Zunge – d. h. er hält sie vollkommen still. Den Herren da oben wächst die Revolution doch nachgerade über den Kopf, und sie fangen an, gegen jeden mißtrauisch zu werden. Verhaftungen werden deshalb überall vorgenommen, und man ist kaum in dem eigenen Hause davor sicher.«
»Aber was hilft es ihnen, wenn sie ein paar Leute in der Hauptstadt unschädlich machen? Das ganze Land können sie doch nicht einsperren.«
»Ach, ich weiß nicht, es muß hier in Caracas selbst eine Art von Verschwörung stattgefunden haben, denn aus Falcons eigenem Haushalt sind in den letzten Tagen verschiedene verhaftet worden. Sein eigener Koch liegt jetzt in Ketten oben im Hauptgefängnis.«
»Sein Koch?« rief José und blieb erstaunt mitten im Wege stehen, »das ist merkwürdig.«
»Merkwürdig? Falcon wird wahrscheinlich eine Vergiftung befürchtet haben. Muß auch ein böses Leben sein, was er jetzt führt, und um den Preis möcht' ich wahrhaftig nicht auf dem Präsidentenstuhl sitzen. Ich fange jetzt übrigens an, ungeduldig zu werden, und allerlei tolle Pläne gehen mir im Kopf herum. Uns hier in der Stadt mißhandeln sie dabei am meisten, und die Wirtschaft hat eigentlich lange genug gedauert. Sollte es denn so ganz unmöglich sein, daß wir selber hier in Caracas die Hand mit anlegten, um ihr ein Ende zu machen?«
»Hier in Caracas?« fragte José zerstreut.
»Du freilich,« setzte Hierra nicht ohne Bitterkeit hinzu, »hast jetzt andere Ideen im Kopf als die Not des Vaterlandes. Was kümmert dich die Revolution.«
»Meinst du, Sierra?«
»Mein' ich,« wiederholte dieser, indem er mit einem düsteren Blick vor sich niederstarrte, »aber ich kann dir's nicht verdenken,« setzte er nach kurzer Pause hinzu, »wer weiß, wie ich selber an deiner Stelle handeln würde?«
»An meiner Stelle? Ich verstehe dich nicht.«
»Das tut nichts, Amigo. Das ganze Land ist uns jetzt ein Rätsel; aber wohin wolltest du eigentlich?«
»Ich habe in der Calle de Comercio einige Geschäfte zu besorgen.«
»Geschäfte, glücklicher Mensch, der du noch an Geschäfte denken kannst; mir schwindelt der Kopf von lauter Plänen und Gedanken und hat nicht Raum mehr auch nur für eine einzige Zahl. Ich muß auch bald selbständig in etwas eingreifen, oder ich gehe in diesen Träumereien zugrunde. Wohin gehst du jetzt?«
»Ich sagte es dir ja eben, in die Calle de Comercio.«
»Ach ja, sei nicht böse, José, also lebe wohl, ich werde dich nicht stören,« und dem Freunde zunickend, schritt er langsam die Straße hinab.
José blieb eine Weile stehen, und zu jeder anderen Zeit würde ihm das wunderliche Benehmen des Freundes aufgefallen sein. Jetzt aber gingen ihm eine solche Masse von Gedanken durch den Kopf, daß er kaum darauf achtete. – Was war denn das nur mit dem Koch des Präsidenten? Hatte er davon geträumt, oder hatte ihm schon jemand davon erzählt? Er konnte sich nicht gleich darauf besinnen, und doch war es ihm so merkwürdig aufgefallen, als es Hierra erwähnte. Aber Castilias Schicksal nahm seine Gedanken zu sehr in Anspruch. Konnte er die Sennora Corona, die er heute bei so früher Stunde sicher treffen mußte, bewegen, den Flüchtigen für kurze Zeit bei sich zu beherbergen, so war eine der größten Schwierigkeiten beseitigt, und mit der Hoffnung schritt er auch rascher aus, um das Haus der Dame zu erreichen. Er mußte ja auch ungesäumt an das Werk der Rettung gehen, wenn er nicht der Gefahr ausgesetzt sein wollte, daß der Gefangene in einen anderen Kerker geschafft wurde, und dann war natürlich keine Rettung mehr für ihn. Die Befreiung selber stellte sich auch vielleicht gefahrloser, als er anfangs geglaubt hatte, denn mit Geld war ja in Venezuela gegenwärtig fast alles zu erreichen – warum sollte es ihm da nicht gelingen, auch ein paar arme Wachtposten für seine Pläne zu gewinnen.
So ganz unaufgehalten sollte er aber seinen Weg noch nicht fortsetzen. Nicht weit von Coronas Haus entfernt begegnete ihm der junge Costar, ein Halb-Indianer, dessen Bruder ebenfalls bei den Blauen, aber noch irgendwo in den Bergen stand. Er selber war ein eifriger Revolutionär und hätte sich schon lange den Reconquistadoren angeschlossen, aber sein Vater ließ ihn nicht fort; er war auch noch zu jung.
»Gonzales,« sagte dieser, indem er Josés Arm ergriff. »Das ist eine verfluchte Geschichte. Wissen Sie, wohin Colina gegangen ist?«
»Colina? Soviel man sich hier erzählte, nach Victoria.«
»Gott bewahre, direkt nach Calabozo und durchkreuzt damit alle unsere Pläne, denn gerade von dort her erwarteten wir ja eine Erhebung, die hier nachher das Zeichen zum Losschlagen werden sollte. Ich begreife nicht, wie sie hier Wind davon bekommen haben. Es war alles so geheim betrieben, daß ein Mißlingen ganz unmöglich schien.«
»Aber vielleicht ist schon etwas geschehen,« erwiderte José, »und er findet das Land dort in vollem Aufruhr.«
Der junge Costar schüttelte mit dem Kopf. »Sie wissen, wie schwerfällig die Leute in diesen Binnenstädten sind; ich fürchte, sie haben wenig oder gar nichts getan, und legt ihnen Colina jetzt eine Anzahl seines Gesindels in die Stadt, so rühren und regen sie sich nachher nicht, und die Regierungstruppen halten die ganze Linie besetzt.«
»Und woher wissen Sie, daß er überhaupt nach Calabozo ist?«
»Weil er San Juan del Morro schon in Eilmärschen passiert hat. Er soll sich nirgends aufgehalten haben und immer weiter vorgerückt sein; hinter San Juan ist aber Calabozo die nächste Stadt, und er kann sich nirgends anders hingewandt haben.«
»Wenn er nicht am Fuß der Berge liegen bleibt und die Llanos nur bewacht.«
»Nein, nein!« rief der junge Mann heftig – »unsere Spione sind ihnen bis dahin gefolgt; aber ohne sich aufzuhalten, drangen die Gelben bis zu der kleinen Lagune vor, rasteten zwei Stunden und wandten sich dann direkt in die Llanos hinein. Ortega, mein Vetter, hat sein Pferd bald totgeritten, um uns hier so rasch als möglich die Kunde zu bringen. Daß Castilia gefangen ist, wissen Sie?«
»Ja!«
»Er wird erschossen.«
»Um Gottes willen, das ist nicht möglich, er hat ja, wie ich hörte, durch die erhaltenen Säbelhiebe seine Besinnung verloren.«
»Das schadet nichts – die Gefängnisse sind überfüllt. Morgen oder übermorgen soll er vor ein Kriegsgericht gestellt werden, und das Resultat versteht sich dann von selbst. Armer Teufel, und der einzige Sohn seiner Eltern! Unser Plan ist ebenfalls mißglückt, hat wenigsten vorderhand keine Aussicht auf Erfolg.«
»Welcher Plan?«
»Den Präsidenten gefangen zu nehmen, um dadurch alle politischen Gefangenen frei zu bekommen. Falcon muß jedenfalls von irgend einem Schurken, der aber glücklicherweise nicht näher eingeweiht war, gewarnt sein, denn aus seiner Umgebung sind mehrere – natürlich die Falschen – verhaftet worden. Er selber geht jetzt nur in Begleitung oder gut bewaffnet aus, hat auch die Wache verdoppeln lassen – aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Doch ich muß fort; wir haben eine geheime Zusammenkunft, von der nicht einmal mein Alter etwas wissen darf, denn wie er nicht zugeben will, daß ich mich offen den Reconquistadoren anschließe, verlangte er auch, daß ich mich hier fern von jeder Politik halte – ich sei noch zu jung – Caramba, ich bin zwanzig Jahre alt, und wenn wir hier denen da draußen nicht helfen, so wird im Leben nichts aus der ganzen Revolution. – Also hasta luego, José, und um Gottes willen reinen Mund gehalten.«
José verfolgte seinen Weg – er war nur noch wenige Häuser von Sennora Coronas Haus entfernt. Allerlei wunderliche Gedanken zuckten ihm durch das Hirn, und er wollte sich wenigstens Gewißheit darüber verschaffen. Mit festen Schritten ging er auf das Haus zu und war eben im Begriff anzuklopfen, als sich die Tür von selber öffnete.
Sennora Corona war diesmal wirklich zu Hause, aber sie hatte Besuch, und zwar keinen anderen als Josés eigenen Vater, Sennor Gonzales, der vor etwa einer halben Stunde zu ihr gekommen und angenommen war.
»Sennor Gonzales!« rief die alte Dame, wie im höchsten Erstaunen aus, »was verschafft mir die Ehre? Es ist eine lange Zeit, daß wir einander nicht gesehen haben.«
»Überhäufung von Geschäften, Sennora,« erwiderte der alte Herr, »sonst würde ich mir das Vergnügen nicht versagt haben, Sie aufzusuchen. Sennorita, Sie befinden sich doch wohl? – Aber man braucht nicht danach zu fragen – Sie blühen wie eine Rose.«
»Das muß dann eine weiße sein,« sagte die Mutter nicht in bester Laune, »das Mädel hat ja gar keine Farbe mehr.«
»Aber ein etwas blasser Teint macht interessant,« fuhr der alte Herr fort, der nun einmal fest entschlossen schien, galant zu sein. »Sie sind doch nicht krank, Sennorita?«
»Nein, ich danke Ihnen,« antwortete Isabel, »ein leichtes Kopfweh manchmal, weiter nichts.«
»Migräne,« erwiderte Gonzales. »Das alte Leiden der Damen, wie überhaupt zarter Naturen. Wir beide leiden nicht daran, Sennora, wie?«
»Caramba, nein!« rief Sennora Corona, mit einem verächtlichen Lächeln nur bei dem Gedanken, und sie rückte sich dabei bequemer in ihrem breiten Rohrstuhl zurecht. »Aber,« setzte sie hinzu und sah dabei den alten Herrn etwas mißtrauisch von der Seite an, »was führt Sie eigentlich zu mir, wenn ich fragen darf, denn nach meiner Migräne wollten Sie sich doch nicht erkundigen?«
»Nein,« sagte Gonzales lächelnd, selber von der Idee erbaut, »es ist etwas Praktisches, eine Geschäftssache, wenn ich Ihnen nachher vielleicht das Nähere mitteilen darf –«
Sennora Corona hatte ihn angesehen und verstand augenblicklich, was er meinte.
»Schon gut – à propos, Sennor, wie steht es draußen? Haben Sie gute Nachrichten von der Lagune? Caramba, die Herren dort zögern doch in ganz unverantwortlicher Weise. Jetzt ist Colina fort, Gott weiß wohin und wann er wiederkommt. – Wenn sie jetzt vorbrächen, so könnten sie Caracas fast ohne Schwertstreich nehmen und damit die ganze Revolution abmachen. – Sie sind aber furchtbar langsam und unschlüssig, und man sieht wohl deutlich, daß ihnen ein eigentlicher und geschickter Führer fehlt.«
»Sennora,« meinte Gonzales achselzuckend, »Sie müssen mich in doppelter Hinsicht entschuldigen; erstlich bekümmere ich mich überhaupt nicht um Politik, und wenn ich es täte, so würden wir beide, nach allem, was ich darüber gehört, doch verschiedener Meinung sein. Sie, als Dame, und die Frauen scheinen gegenwärtig in Venezuela fast alle blaues Blut zu haben, neigen sich auf Seite der Revolution, und es sei fern von mir, Ihnen deshalb einen Vorwurf machen zu wollen. Ein jeder hat ein gutes Recht zu seiner politischen Meinung, aber deshalb bitte ich Sie auch, daß Sie mir nicht wegen meiner Ansicht zürnen.«
»Und die ist?«
»Ich halte unseren Präsidenten Falcon nicht für so schlimm, als er gewöhnlich gemacht wird. Er mag manchem vielleicht Grund zur Unzufriedenheit gegeben haben, aber der Mann soll noch geboren werden, der es allen Menschen recht macht, und da wir überhaupt gar nicht wissen, wo wir einen besseren herbekommen wollen, so dächte ich – nur meiner einfachen Meinung nach, und ohne diese jemand anderem aufzwingen zu wollen – die ganze Revolution hätte keinen weiteren Zweck, als das Land in einer steten Unruhe und ohne Arbeitskräfte zu halten, und je eher sie deshalb zu einem Abschluß käme, desto besser.«
Sennora Corona lächelte, ohne jedoch ein Wort darauf zu erwidern, leise vor sich hin, mit einer Miene aber, daß man nicht daraus klug werden konnte, ob sie die politische Meinung des Herrn teile oder sich darüber lustig mache. Nach einer kleinen Weile sagte sie dann zu der an ihrem Nähtisch sitzenden Isabel:
»Ach, liebes Kind, wärst du wohl so gut, unserer Köchin ein wenig auf die Finger zu sehen? Sie hat uns gestern das ganze Essen verdorben, und ich möchte das nicht gern heute noch einmal erleben.«
Isabel stand ruhig auf und ging hinaus, aber erst nach einer Pause von wohl fünf Minuten sagte die alte Dame, das Gespräch über Politik vollständig fallen lassend:
»Sie wollten mit mir etwas über Geschäfte sprechen; worin kann ich Ihnen dienen, denn Sie wissen ja, daß ich Ihnen gern gefällig bin.«
»Ich habe nicht vergessen,« erwiderte Sennor Gonzales, »daß ich Ihnen schon verschiedene Male zu Dank verpflichtet war; doch was mich hergeführt hat, wird vielleicht die Schuld meiner Dankbarkeit, anstatt sie etwas abzutragen, nur noch erhöhen.«
»Aber nur um Gottes willen nicht in der alten Weise,« rief die Sennora abwehrend, »denn daß ich keinen Einfluß bei dieser Regierung habe und haben kann, wissen Sie, und außerdem steckt das Falconsche Regime augenblicklich so furchtbar in Schulden, daß an eine Auszahlung nicht zu denken ist.«
»Das tut mir leid,« erwiderte Gonzales, der eben einige Blätter Papier aus der Brusttasche genommen hatte, sie aber bei den letzten Worten zurückschob, als ob er vollständig verzichte, »ich hatte gehofft, daß wir beide ein gutes Geschäft machen würden. Ich, indem ich ein schon halb aufgegebenes Kapital, wenn auch ohne Zinsen, vollständig wieder einbrächte, Sie, indem Sie die notwendigen Prozente für Ihr Müh' und Arbeit ernteten. Aber Unmögliches läßt sich nicht überwinden, und ich werde dann, wenn auch mit einem Verlust, wenigstens einen Teil des ausgelegten Kapitals zu retten suchen. Sie entschuldigen, Sennora, wenn ich Sie gestört habe.«
Er wollte mit diesen Worten wieder vom Stuhl aufstehen, als die alte Dame den Arm gegen ihn ausstreckte und rief:
»Ist das ein unruhiger Gesell! Caramba! Können Sie denn nicht einmal fünf Minuten auf Ihrem Stuhl sitzen bleiben? Was ist es denn eigentlich? Wir Frauen sind neugierig, und ich möchte wenigstens wissen, was Sie hergeführt hat.«
»Gerade das, was Sie mir nicht erfüllen können,« sagte Gonzales, seinen Platz wieder einnehmend, »Anweisungen an die Douane.«
»Und zu welchem Betrag?«
»Fünftausend Pesos.«
»Caramba! Silva verspräche zwanzig, wenn er die fünf bekommen könnte. Das ist viel Geld.«
»Rechnen Sie zwanzig Prozent auf fünf,« sagte Gonzales, »so macht es die runde Summe von tausend Pesos, die dabei Ihr Gewinn wären – wahrhaftig keine Kleinigkeit, und Sie verdienen nebenbei an dem Geschäft gerade tausend Pesos mehr als ich.«
»Was heißt das?«
»Daß ich einfach mein Geld herausbekomme.«
»Caramba, Sennor,« rief die alte Dame überlegend, »ich wollte Ihnen gern gefällig sein, aber es geht wahrhaftig nicht, es ist zu viel, und Sie wissen – wenn der Herr an der Steuerkasse, der mir gefällig ist, auch heimlich zu unserer Partei gehört – so läßt er sich doch auch dafür bezahlen. Sagen Sie fünfundzwanzig, und ich will es wenigstens versuchen.«
»Sennora,« erwiderte Gonzales »für fünfundzwanzig besorgt es mir General Bio unten an der Kasse selber, und ich habe weiter keine Umstände davon; aber mir sind schon die Zinsen von dem Kapital verloren gegangen, und ich möchte nicht gern noch zweihundertfünfzig Pesos dazu verlieren. In dem Fall riskiere ich es lieber, noch einen Monat zu warten. Laufen einige Schiffe ein – und es sind allein von Deutschland vier unterwegs – so bringe ich vielleicht meine Anweisung noch zu zehn oder fünfzehn Prozent an. Es tut mir wirklich leid. Sie umsonst bemüht zu haben,« setzte er hinzu, indem er aufstand und nach seinem Hut griff, »aber ich hatte einmal Vertrauen zu Ihnen.«
»Na, denn geben Sie die Wische her,« rief die Sennora, indem sie die Hand danach ausstreckte. »Was tut man nicht für einen Freund.«
»Sennora sind so gütig,« erwiderte der alte Herr, indem er ihr die Papiere überreichte, »wann darf ich wieder vorfragen?«
»Vor drei oder vier Tagen nicht, ich werde selber nach La Guayra fahren müssen oder einen zuverlässigen Boten senden. A propos, weshalb ist denn Ihr Sohn neulich verhaftet worden? Ich hörte in der Stadt davon.«
»Quien sabe, wir begreifen es beide nicht.«
»Die jungen Leute sind zu leichtsinnig in ihren Äußerungen,« fuhr die alte Dame fort. »Es ist ja recht hübsch, patriotisch zu sein, aber die Klugheit darf man dabei nicht aus den Augen lassen. Da machen wir beide es doch anders? He, Gonzales? Caramba, Sie alter Fuchs Sie –«
»Sennora erweisen mir zu viel Ehre,« erwiderte Gonzales, »ich bin schon durch meine Unwissenheit in der Politik geschützt. – Doch noch eins! Sennora haben wohl davon gehört, daß der junge Castilia auf sehr schwere Anklage hin und außerdem noch verwundet im Gefängnis liegt? Der Fall ist wohl hoffnungslos?«
Die buschigen Augenbrauen der Dame zogen sich finster zusammen. »Lassen wir jeden das ausessen, was er sich eingebrockt hat,« sagte sie. »Der alte Castilia ist ein Vaterlandsverräter, und wenn sein Sohn dafür büßen muß, kann man es ein Gottesgericht nennen.«
»Ein Vaterlandsverräter, Sennora?« rief Gonzales erstaunt und beinahe bestürzt aus, denn es konnte ihm nicht entgehen, daß die Frau nicht gut auf die Familie zu sprechen war, und dadurch sank seine Hoffnung auf eine Unterstützung von dieser Seite – »so viel ich weiß, hält er zu Ihrer Partei.«
Die Sennora biß sich auf die Unterlippe. – »Ja, aber er verrät jede Partei, mit der zu gehen er vorgibt.«
»Und ich hatte gerade geglaubt, daß Sie vielleicht ein gutes Wort für den unglücklichen jungen Mann –«
»Ich?« unterbrach ihn Sennora Corona, und das unheimliche Blitzen ihrer dunklen Augen verriet dem aufmerksamen Beobachter, welche Dämonen in ihr lauerten; aber sie selber mochte nicht zeigen wollen, was in ihrem Herzen vorging, und sich halb abwendend, vollendete sie ihre Rede in ganz anderer Art, als ihr erster Ausruf anzudeuten schien. – »Ich?« wiederholte sie langsamer – »und was könnte mein Wort in der Sache helfen, selbst wenn ich nun – vielleicht ein Vorurteil beiseite setzen wollte, – aber« – fuhr sie, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen fort, und ihr Auge haftete forschend an dem alten Herrn – »wird denn sein Vater keinen Versuch machen, ihn zu befreien, und ist er vielleicht zu dem Zweck schon hier?«
»Lieber Gott!« rief Gonzales – »er kann jetzt kaum die Kunde davon haben – aber glauben Sie, daß seine Anwesenheit hier etwas nützen würde?« – Die Frage war so harmlos gestellt, daß die Sennora unbedingt darauf erwiderte:
»Ich glaube es bestimmt – Falcon ist gutmütig – einer persönlichen Bitte des Vaters könnte er vielleicht nicht widerstehen.«
»Und sollte die Mutter nicht noch mehr nützen können?« fragte Gonzales, wie mit sich selber redend.
»Nein,« erwiderte die Sennora – »Frauen kommen gewöhnlich vor Tränen nicht zu Worte und ermüden mehr, als daß sie Mitleiden erwecken. Wenn Sie den alten Herrn Castilia veranlassen könnten, ungesäumt hieher zu kommen – ich glaube gewiß, daß er doch eine Milderung des Urteils erreichen würde.«
»Und fürchten Sie nicht, daß er selbst hier einer Gefahr ausgesetzt wäre?« fragte Gonzales und sah mit der unschuldigsten Miene von der Welt zu der Dame auf.
»Nein, ich glaube es nicht. Weshalb?«
»Das Hauptquartier der Reconquistadoren liegt in seinem Hause.«
»Bah!« rief lachend Sennora Corona aus, »glauben Sie, daß sich Falcon um solche Bagatelle kümmert? Was liegt daran? Irgendwo müssen sie Quartier nehmen, und für Einquartierung ist niemand verantwortlich. Schreiben Sie ihm – schaden kann es keinenfalls und vielleicht viel nützen.«
»Ich werde es tun, Sennora,« erwiderte Gonzales, indem er von seinem Stuhl aufstand. »Wenn ich ihm aber auch einen besonderen Boten schicke, wird es immer noch mehrere Tage dauern, bis er Caracas erreichen kann, und kommt er dann nicht vielleicht zu spät?«
»Ich – glaube nicht« – entgegnete die Sennora – »ein Aufschub wird gewiß von Falcon zu erlangen sein – ich werde mir selber deshalb Mühe geben.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Sennora,« schloß Gonzales das Gespräch, indem er ihr eine achtungsvolle Verbeugung machte – »und will denn auch nicht mehr säumen. Ich habe die Ehre, mich Ihnen gehorsamst zu empfehlen.«
»Sennor, es war mir äußerst angenehm, Sie wieder einmal bei mir gesehen zu haben. Ich hoffe, Sie werden sich bis zum nächsten Besuch nicht so lange Zeit nehmen.«
»Wenn Sie mir noch einen Besuch erlauben, gewiß nicht.«
Noch einmal machten sich beide – Herr wie Dame – eine sehr achtungsvolle und förmliche Verbeugung, und dann schritt Sennor Gonzales, ohne die im Triumph hinter ihm dreinblitzenden Augen der Sennora zu bemerken, den schmalen Gang hinunter und öffnete die Haustür, vor der er, die Hand eben zum Anklopfen erhoben, jemanden fand, den er am wenigsten vermutet hätte: seinen eigenen Sohn.
»Vater,« rief José erstaunt, »kennst du denn die Damen hier?«
»Kennst du sie?« war die Gegenfrage des Vaters, der die Tür ohne weiteres ins Schloß drückte, den Sohn unter den Arm faßte und dann nach der Richtung mit ihm die Straße hinabschritt, daß sie die Fenster des Hauses nicht zu passieren brauchten.
»Ich – ich kenne sie allerdings,« erwiderte José, durch dies plötzliche Begegnen völlig außer Fassung gebracht, »das heißt nicht genauer. Die Sennora ist für unsere Partei außerordentlich tätig.«
»Ist sie das in der Tat? Und weißt du das gewiß?«
»Die ganze Stadt weiß es.«
»Und gehöre ich auch mit zur Stadt?«
»Aber Vater,« rief José, dem auf einmal alles wieder durch den Kopf zuckte, was er in den letzten Minuten selber gedacht hatte, »weißt du etwas Bestimmtes gegen sie?«
»Soll ich dir sagen, was mich zu ihr geführt hat?«
»Ich wäre allerdings begierig, es zu hören.«
»Gut, dann sollst du es erfahren. Du weißt, daß ich zu Zeiten von der Regierung Anweisungen auf die Douane bekomme –«
»Deren Auszahlungen sie durch einen Gegenbefehl hintertreibt – wer weiß das nicht – eine kostbare Finanzwirtschaft!«
»Nun, die Sennora Corona kassiert sie für mich ein.«
»Die Sennora Corona?«
»Natürlich gegen einen kleinen Profit von zwanzig Prozent für ihre Bemühungen und – ihren Einfluß.«
»Dann hat sie Freunde unten an der Douane.«
»Die ihr verwünscht wenig nützen würden; denn daß Silva eine strenge Kontrolle über alle dort einlaufenden Gelder hält, kannst du dir wohl denken.«
»Aber wie ist es sonst möglich?«
»Durch einen Spezialbefehl Falcons, ihr alles auszuzahlen, worüber sie eine Anweisung bringt. Natürlich versteht Falcon nur die Gelder, die er selber ihr speziell anweist, aber sie benutzt selbstverständlich diese Vergünstigung, um auch kleine Nebengeschäfte zu machen – und wer kann es ihr verdenken?«
»Das kann aber erst seit ganz kurzer Zeit sein,« rief José erschreckt aus – »seit dem Tag, wo sie von ihm das Monatsgehalt von dreihundert Pesos zugesichert erhalten hat.«
»Wie lange ist das etwa her?«
»Es mag immerhin eine Woche sein – ich weiß es nicht mehr genau.«
»Und wenn ich dir nun sage, daß ich diese Geschäfte mit ihr schon seit etwa dreiviertel Jahren betreibe?«
»Vater!« rief José und fühlte dabei, wie er bleich wurde.
»Willst du einen guten Rat von mir annehmen, José?«
»Wie gern, Vater.«
»So traue der Dame nicht weiter, als du sie siehst – und nicht einmal so weit.«
»Du glaubst, daß sie ein falsches Spiel spiele?«
»Ich glaube es nicht allein, ich weiß es gewiß.«
»Aber die Tochter kann nicht die Mitschuldige sein,« rief José bewegt, »ein so gutes, treues Auge kann nicht lügen.«
Gonzales blieb stehen, machte sich von dem Arm seines Sohnes frei und sah ihm ernst ins Gesicht – aber nicht lange. Er nahm seinen Arm wieder, verfolgte den bisher eingeschlagenen Weg nicht weiter, sondern bog scharf herum und ging mit ihm gerade wieder zurück.
»Wohin willst du, Vater?«
»Weißt du in Caracas Bescheid?«
»Ich glaube ja – so ziemlich.«
»Du weißt, wie die gewöhnlichen Häuser gebaut sind?«
»Ja, aber weshalb?«
»Komm nur mit mir – wir gehen noch einmal zu der Sennora Haus.«
»Zusammen?«
»Nicht hinein – nur bis zu dem Haus – bitte, laß mich gewähren, ich werde dich führen und dir etwas zeigen. Urteilen magst du dann selber – ich will dir mein Urteil nicht aufdrängen.« Vater und Sohn verfolgten schweigend ihren Weg, bis sie die Stelle erreichten, wo das Haus der Sennora Corona abgrenzte. Dort blieb Gonzales einen Augenblick stehen und sagte leise: »Jetzt sei so gut und zähle einmal die Schritte bis zur nächsten Ecke – wir schreiten gleichmäßig aus – komm und tu, wie ich dir sage.« Damit drehte er wieder um, und sie gingen denselben Weg, den sie gekommen. Als sie die Ecke erreichten, hatten sie jeder zweiundachtzig Schritt gezählt.
»Zweiundachtzig,« sagte Gonzales – »so, jetzt biegen wir hier in diese rechtwinklige Querstraße ein – du brauchst nicht eher zu zählen, bis wir an die andere Ecke kommen.«
José schüttelte mit dem Kopf. Er begriff nicht, was das alles bedeuten solle, folgte aber fast willenlos dem Vater. Endlich, als sie die nächste Ecke erreichten, sagte der alte Gonzales, indem er seinen Sohn wieder anhielt, um links einzubiegen:
»So, mein Junge – nun wollen wir von hier, die Straße hinauf wieder zweiundachtzig Schritt abzählen – laß uns genau so große Schritte machen, als vorher. Also eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs –«
Schweigend zählten beide halblaut vor sich hin bis zweiundachtzig. Vier oder fünf Schritte weiter brachten sie zu einer Tür.
»Weißt du, wer hier wohnt, José?«
»Es ist das Haus, das mit der Rückseite gerade an das der Sennora Corona stößt.«
»Ja – weißt du, wer hier wohnt?«
»Nein – ich bin in dieser Straße gar nicht bekannt.«
»Der Präsident Falcon.«
»Falcon? – aber du irrst, Vater. Falcon hat –«
»Dies Haus schon seit längerer Zeit gemietet und jetzt angekauft – angeblich um hier verschiedene Sammlungen aufzustellen oder zu irgend einem anderen Zweck – was weiß ich. Er ist hier sehr häufig gegen Abend gesehen worden.«
»Vater!«
»Guten Morgen, José – ich habe dort hinüber noch einiges zu besorgen, und du wirst doch jetzt wahrscheinlich nach Hause gehen. Versäume die Essenszeit nicht – ich werde auch pünktlich sein« – und sich von dem Arm des Sohnes freimachend, ging er raschen Schrittes die Straße hinab.