Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am andern Morgen.

José Gonzales verbrachte eine traurige Nacht in dem dumpfen, kalten Loche. Wenn er auch noch so oft an dem Abend verlangte vor den Präfekten geführt und verhört zu werden – es half ihm nichts. Die Leute mußten jedenfalls besondere Order erhalten haben, denn nicht einmal Geldversprechungen, die sonst selten ihre Wirkung verfehlten, wollten anschlagen. Der Schließer antwortete ihm zuletzt gar nicht mehr, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich – so gut es eben gehen wollte, einzurichten.

Die Matratze war viel zu schmal, als daß beide Gefangene hätten darauf liegen können, sie reichte kaum für den einen aus, aber José konnte sie doch wenigstens als Kopfkissen benutzen, und so, auf die Kuhhaut ausgestreckt, legte er sich hin und suchte der langen Nacht ein paar Stunden Schlaf abzuringen. Das war freilich nicht so leicht, und noch dazu gingen ihm eine Menge Gedanken im Kopf herum, die ihn gar nicht zur Ruhe kommen ließen.

Weshalb, in aller Welt, konnte man ihn verhaftet haben? Weil er seiner Gesinnung nach zu der Revolution gehörte? – Dann hätten sie drei Vierteile der Bevölkerung von Caracas einstecken müssen. – Um von seinem Vater Geld zu erpressen? – Denn der Gedanke kam ihm ebenfalls; aber das konnte doch unmöglich geschehen, wenn sie nicht vermochten einen bestimmten Anklagepunkt aufzustellen. Und wie kamen sie dazu sein Hutband zu untersuchen? Hatten sie vielleicht schon mehrfach heimlich versteckte blaue Kokarden gefunden? Und wohin war die eine gekommen, während dafür ein weißer Lappen im Hutband steckte? Er begriff es nicht. Und was würde Isabel sagen, wenn sie es erfuhr? Merkwürdig, daß sich das Mädchen solche Mühe gab, die Regierung zu verteidigen; da hatte sie jetzt einen prächtigen Beweis, wie sie wirtschaftete; allein ihr gutes Herz verleitete sie zu solchen Ideen, in der törichten Hoffnung, einen Bürgerkrieg zu hintertreiben. Aber war das möglich? Konnte denn das Volk diese Mißhandlungen länger ertragen? Da dachte die alte Dame anders. Eine angenehme Frau konnte man die Sennora Corona gerade nicht nennen, das mußte er selber zugeben; sie hatte etwas zu Entschiedenes in ihrem ganzen Wesen und Benehmen – beinahe etwas Männliches – aber dafür auch eine entschiedene politische Meinung, und ließ sich wahrhaftig nicht durch eine Herzensschwäche davon abbringen. Gemüt schien sie nicht viel zu besitzen. – Und wie seine Eltern wohl eine nähere Verbindung mit ihrer Familie ansehen würden? Er fürchtete allerdings, daß weder sein Vater noch seine Mutter besonders erbaut sein würden, und das war auch die einzige Ursache, weshalb er daheim noch keine Silbe von seinen Wünschen und Hoffnungen gesagt, ja selbst die Besuche bei der Sennora Corona geheim gehalten hatte. Wenn er nur erst einmal eine Gelegenheit fand, Isabel den Eltern zuzuführen, daß sie sie wenigstens sahen und kennen lernten, dann war er auch überzeugt, daß sie einen mächtigen Eindruck auf sie machte und sie sich vielleicht mit der alten Dame befreunden würden – aber wie das einrichten, ohne daß sie gleich die Absicht merkten? – Isabel war so lieb und hold – und so wunderbar schön dabei – – er vergaß alles andere darüber, und ihr Bild vor Augen, fiel er endlich in einen unruhigen Schlaf, aus dem er jedoch bald wieder geweckt wurde.

Herr des Himmels! Myriaden von Flöhen gab es in dem wüsten Raum, die in dem Backsteinstaub ihren Aufenthalt haben mußten – er fühlte sie über den ganzen Körper, er war ja noch nicht daran gewöhnt. Castilia schlief sanft – José hörte, wie er regelmäßig atmete – er aber warf sich vergebens auf seinem harten Lager umher und konnte sich dabei nicht einmal warm halten. Er hatte nicht geglaubt, daß es in Caracas so kalt sein könne – aber freilich drang auch nie ein Sonnenstrahl in diese Höhlen.

Er horchte – da draußen hinter der Mauer rasselte ein Wagen, also führte dort jedenfalls eine Straße vorüber, und die Mauer konnte nicht sehr dick sein, denn er hörte das Geräusch des Fuhrwerks ganz deutlich. Jedenfalls standen aber dort ebenfalls Posten, und sollte es nicht möglich sein, die zu erkaufen? Sie brauchten ja nichts gesehen zu haben, und wenn sie nachher abgelöst wurden, wer konnte dann bestimmt behaupten, bei welcher Wache die Flucht bewerkstelligt wäre. – Aber wenn sie ihn selber nun hier festhielten oder Castilia in ein anderes Gefängnis brachten, oder noch jemanden zu ihm legten? – Die Gedanken schwirrten ihm durch das Hirn, und durch den Kampf gegen das Ungeziefer wurde er zuletzt so müde, daß nicht einmal seine Quälgeister imstande waren, ihn länger wach zu halten. Wohl ging es schon gegen Morgen, aber er schlief doch endlich fest ein und erwachte auch nicht wieder, bis der Schließer mit Geräusch die Tür öffnete und hineinrief: »Steckt hier jemand drin, der Gonzales heißt?«

»Allerdings, Amigo,« antwortete José, in die Höhe fahrend und sich den Schlaf aus den Augen schüttelnd.

»Herauskommen,« rief der Mann lakonisch.

José zögerte einen Augenblick, er hätte gern mit Castilia noch einmal gesprochen, aber das ging nicht, er durfte keinen Verdacht erregen und dem Schließer nicht die Gewißheit geben, daß der Kranke reden und sich verständlich machen könne. Er wußte ja auch gar nicht, was man von ihm wolle, und ob man ihn nicht in eine andere Zelle brachte.

»Na? Wird's bald?« sagte der Mann. »Es gefällt Ihnen wohl da drinnen?«

»Könnt' ich nicht behaupten,« erwiderte José, indem er der Aufforderung Folge leistete, »aber was soll ich?«

»Sie? – Weiter nichts, als machen, daß Sie fortkommen, brummte der Schließer, – »ist eben Befehl gekommen, Sie freizulassen.«

»Das ist merkwürdig«, rief José – »und ohne Verhör? Weshalb bin ich denn eigentlich eingesteckt und wie ein Verbrecher behandelt worden?«

»Hören Sie, lieber Freund,« meinte der Schließer, »Sie scheinen mir soweit ein vernünftiger Mann zu sein, wenn Sie also wissen, was Ihnen gut ist, so stellen Sie keine Fragen weiter, sondern machen einfach, daß Sie fortkommen, und sind froh, diesmal so durchgewischt zu sein; da, hier ist Ihre Uhr.«

»Die Herren vom Gericht können also machen, was sie wollen?«

»Sie tun's wenigstens, und das kommt am Ende auf eins heraus.«

»Hm,« machte José, und warf dabei einen Blick nach der Mauer hinauf, die über ihrer Zelle emporragte – gerade an der Stelle, die etwa hinter der Scheidewand zwischen Nr. 36 und 37 sein mußte, hing in den Glassplittern ein alter Lappen, der wohl bei heftigem Wind hinaufgeweht und hängen geblieben war. »Sie haben recht, wie spät ist's wohl?«

»Die Sonne kommt da drüben herauf, es wird etwa halb sieben sein. Ihre Uhr ist wohl stehen geblieben?«

»Könnten Sie mir wohl etwas Waschwasser besorgen, Amigo? Ich sehe doch zu schmutzig aus, um so über die Straße und nach Hause zu gehen. Vielleicht ist irgendwo ein Waschbecken.«

»Ja,« rief lachend der Schließer, von dem Gedanken erbaut, »irgendwo wird wohl eins sein, aber hier nicht. – Kommt gar nicht vor, daß sich hier jemand wäscht, die werden alle gewaschen. – Was haben Sie denn da oben zu gucken? Ist da etwas?«

»Sehen Sie einmal da drüben, was ist das für ein merkwürdiger Vogel, der da fliegt? Gerade ein Stück über der Mauer; den kenn' ich ja gar nicht.«

»Wo denn, ich sehe nichts?« erwiderte der Schließer und sah nach dem blauen Himmel hinauf.

»Ja, dort nicht, etwas weiter unten, dicht über der Mauer, – ja, jetzt ist er weg, warten Sie einen Augenblick; vielleicht kommt er wieder hierauf.«

»Da hätte ich Zeit dazu,« knurrte der Bursche, »was gehen mich die Vögel an, die da draußen umherfliegen; die sind frei, und mit denen habe ich nichts zu tun.«

»Schließer,« sagte José, indem er sich zum Gehen wandte und wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, »der arme Teufel, der da drinnen verwundet auf seiner Matratze liegt und keinen Laut von sich gibt, tut mir leid.«

»Wird nicht lange zu bedauern sein,« antwortete der Mann, aber doch nicht mehr so rauh als vorher, denn José griff in seine Tasche, – »sowie er wieder auf den Füßen stehen kann, hängen sie ihn jedenfalls. Haben sich schon nach ihm erkundigt.«

»Ich hätte ihm selber gern die paar Pesos, die ich noch in der Tasche habe, dagelassen, aber er antwortet auf keine Frage, und scheint noch gar nichts von sich zu wissen.«

»Hat ein paar tüchtige Schmisse über den Kopf gekriegt, und geschieht ihm recht.«

»Wären Sie vielleicht so freundlich, das Geld für ihn zu übernehmen?«

»Wenn ich Ihnen einen Gefallen damit tun kann, warum nicht.«

»Hier, bitte, heben Sie ihm das auf und geben Sie ihm, wenn er wieder zu sich kommt, ein Glas Wein und etwas zu essen. Ich werde dann einmal wieder vorfragen, oder ihm auch selber einen Korb oder ein Kistchen mit Essen herschicken. Wollen Sie mir versprechen, daß Sie ihm das hineinstellen?«

»Von Herzen gern, dagegen ist kein Befehl da. Aber verschlossene Körbe oder Kasten darf ich nicht annehmen.«

»Nichts Verschlossenes, alles soll offen sein, und Sie können es von oben bis unten nachsehen.«

»Gut, dann habe ich nichts dagegen, soll alles pünktlich besorgt werden, verlassen Sie sich ganz auf mich. Wir sind nicht so schlimm wie wir aussehen, wenn einem auch manchmal die Galle überläuft.« Er nahm dabei das ihm überreichte Geld, zählte es flüchtig durch, es kam ja nicht so genau darauf an, und schob es dann in die Tasche, und José, der alles, was es hier im Hof noch zu sehen gab, sich angesehen hatte, schritt langsam der Wache zu, wo er, da ihn der Schließer als Legitimation begleitete, auch nicht mehr angesprochen wurde. Am Tor selber entging ihm aber eine durchbrochene Stelle der Mauer nicht, an der, wie es schien, ein paar Schießscharten angebracht waren. Die Mauer hatte hier wirklich kaum einen vollen Fuß im Durchmesser, und es schien nicht wahrscheinlich, daß sie an den Seitenwänden dicker sein sollte. Wenn sich nicht andere Hindernisse zeigten, das Durchbrechen würde wenig Schwierigkeiten geboten haben.

José, der immer viel auf sein Äußeres, besonders auf Reinlichkeit hielt, schämte sich allerdings, in diesem Zustand am hellen Tag über die Straße zu gehen, aber was ließ sich dagegen machen? Ein Wagen war nicht zu bekommen, und den kleinen zerdrückten Hut, auf dem er die Nacht eine Zeitlang mit dem Kopf gelegen, so tief als möglich ins Gesicht ziehend, schritt er die Straße hinab. Er wollte auch gerade die nächste Ecke passieren, als ihm einfiel, daß er die Mauer von außen hatte rekognoszieren wollen. Sollte er das jetzt tun? Kam er später, so war vielleicht der Lappen fortgeweht, der ihm jetzt noch einen Anhalt gab – er mußte jedenfalls den Versuch machen.

Er bog links ein und schritt an der anderen Seite die Straße hinab. Es war richtig die Mauer, die das Gefängnis begrenzte und dann auch jedenfalls die Rückwand der Zellen bildete. Dort oben konnte er auch jetzt sein Zeichen erkennen, und unten – er hätte es sich nicht besser wünschen können – hatten die Soldaten eine ihrer gewöhnlichen Inschriften angebracht, mit denen sie schon anfingen, die Häuser der ganzen Stadt, besonders solcher Leute zu beschmieren, die man in Verdacht hatte, der Regierung Opposition zu machen. »Es lebe der und der General!« wurde dann mit schwarzer Farbe und riesigen ungleichen Buchstaben – nicht immer orthographisch – an die Wände der besten Häuser angeklext, und das Übertünchen half dagegen nicht einmal etwas, denn gerade an frisch gemalten Häusern schien es ihnen das größte Vergnügen zu machen, ihre Schreibübungen zu versuchen. An den Kasernen und öffentlichen Gebäuden fand man es aber ebenfalls, und hier hatte sich denn eine künstlerische Hand, oder ein einzelner Finger besser gesagt, das Vergnügen gemacht, die Worte anzuschreiben, die etwa vierzehn Fuß Breite einnahmen:

Viva el Gral Guzmann

wobei besonders das Viva außerordentlich groß ausgefallen war. Das erste große V stand aber gerade unter der Stelle, wo der alte Lappen übergeweht war, und unmittelbar links davon mußte also auch der Ort sein, wo Castilia, wenn er überhaupt in der Zelle blieb, durchbrechen würde. Er hätte sich kein deutlicheres Zeichen wünschen können.

Um aber keinen Verdacht zu erregen, hielt José sich dort nicht auf, sondern schritt jetzt rasch in der Straße weiter und dann wieder rechts ab, seiner eigenen Heimat zu. Er wußte ja, was er wissen wollte, und alles übrige mußte doch der Zeit überlassen bleiben. –

Das war ein Jubel, als er sein elterliches Haus betrat. Die Mutter lachte und weinte – lachte über sein Aussehen und weinte über die Angst, die sie ausgestanden, denn wenn sie es auch nicht geäußert, das Herz hatte es ihr doch fast zusammengedrückt, wenn sie sich die Möglichkeit dachte, daß José, trotz allem, etwas bei sich getragen, was der Polizei nur den geringsten Halt gegeben hätte.

José äußerte, daß er jetzt klagbar gegen die Polizei werden wolle, denn sie hätte kein Recht gehabt, ihn so zu behandeln. Der Vater aber antwortete ruhig:

»Mein lieber Sohn, in diesem Augenblick fragen wir hier in Caracas gar nicht nach Recht, sondern nur nach Gewalt. Die Polizei, oder was gleichbedeutend ist, die Militärbehörde, kann in dieser Zeit alles tun und tut alles, und je weiter man sich von der entfernt hält, desto besser. Wenn du meinem Rat folgst, so gehst du so rasch als irgend möglich ins Innere, denn daß sie dir bis jetzt aufgepaßt haben, bezweifle ich keine Sekunde, und daß sie dir von jetzt an noch mehr aufpassen werden, ist ebenso gewiß. Du bist ihnen nun einmal, Gott weiß durch was – vielleicht nur durch irgend eine unbedachte Äußerung, verdächtig geworden.«

»Aber ich habe mit keinem Menschen über Politik gesprochen, Vater, von dem ich nicht fest überzeugt bin, daß er treu und fest zu unserer Partei gehört – das weiß ich ganz genau.«

»Was du aber nicht genau weißt, ist: wer überhaupt dazu gehört oder – wer sich nur den Schein davon gibt. Falcon hat eine große Zahl von geheimen Polizeibeamten in seinem Sold, und ich möchte sagen, man ist jetzt vor keinem fremden Menschen sicher.«

»Aber mit fremden Menschen habe ich ja auch gar nicht verkehrt, Vater, nur mit Freunden, die ich, wie gesagt, genau kenne.«

»Und trotzdem rat' ich dir: mach', daß du fortkommst, denn die Großmutter hat recht. Ans Leben werden sie dir kaum gehen, aber mir an die Kasse, und ich sehe nicht ein, wozu man das provozieren soll.«

»Ein Glück nur, daß ich vorher meine blaue Kokarde verloren hatte,« sagte José, »denn nach der suchten sie.«

Die Kinder lachten; »Großmutter hat sie dir heimlich weggenommen, José, die war gescheiter als du.«

»Großmutter?«

»Ja, und da ist sie,« sagte die alte Dame, das fragliche Stück emporhaltend, »und solange du hier in Caracas bist, bekommst du sie auch nicht wieder. Brauchst du einmal wieder eine, so kannst du dir auch eine neue kaufen. Diese hier hebe ich mir zum ewigen Angedenken auf.«

»Und wo ist Ana?«

»Auf ihrem Zimmer noch. Das arme Kind hat alle Hoffnung verloren. Es steht schlimm um ihren Bruder.«

»Ich weiß alles, ich war mit ihm in einer Zelle,« und nun erzählte José mit kurzen Worten, wie er Castilia gefunden, und wie jede Hoffnung, die er selber habe, nur darauf beruhe, ein paar Tage Zeit zu gewinnen. Von seinem eigenen Plan erwähnte er aber kein Wort. Die Mutter hätte sich nur unnötigerweise wieder darüber geängstigt und doch nichts daran geändert, denn er war fest entschlossen, den Versuch zu wagen.


Draußen auf der Hacienda an der schönen Lagune von Valencia ging es heute außerordentlich lebhaft zu, denn der Durchmarsch Colinas, dessen Ziel natürlich niemand wußte, da es der Negergeneral, selbst gegen seine Offiziere, solange als möglich geheim gehalten, beunruhigte die Reconquistadoren und ließ sie nicht recht zu Atem kommen. Man traute dem Burschen alles zu, denn er galt für einen der tapfersten Soldaten in dem »gelben« Heer. Hier konnte er sie aber in der Tat in Verlegenheit bringen, wenn er von der Straße ab eine Seitenbewegung nach rechts machte und sie dadurch in die Flanke bekam, während recht gut von Caracas aus ein anderer Zug ihn unterstützen mochte. Daß sein Ziel in Calabozo lag, fiel keinem von allen ein, denn was in aller Welt hatte er dort zu suchen? Die ferne Stadt im Innern konnte nie einen Ausschlag geben und mußte sich dem Sieger, wenn hier der Kampf ausgefochten wurde, doch jedenfalls fügen.

Flüchtlinge brachten dabei die Nachricht, daß Colina trotzalledem in Eilmärschen auf der Straße gen Süden vorrücke und Schrecken verbreite, wohin er immer kam. Was außerdem seine Soldaten an Vieh erbeuten konnten, nahmen sie gründlich fort, schlachteten, was sie brauchten, an Ort und Stelle und trieben das übrige mit, bis zum nächsten Haltplatz. Wer aber nur ein Gewehr schultern konnte, mußte machen, daß er aus dem Wege kam, denn Erbarmen kannte Colina nicht. Und wenn es ein Familienvater gewesen wäre, der allein für die Seinen zu sorgen hatte – die Vergrößerung der Truppe ging vor, und er wurde schonungslos aufgegriffen und marschierte eine Stunde später, ein gelbes Band um den Hut gebunden, eine Flinte oder Lanze auf der Schulter, die staubige Straße entlang, fort von den Seinen.

Sämtliche kleine Wirtshäuser am Weg, an denen die Arrieros sonst gewöhnlich vorsprachen und für wenige Centabos Lebensmittel bekamen, plünderten die Soldaten rein aus, und die glücklich Entronnenen konnten kaum genug erzählen, welches Entsetzen die ganze Bevölkerung erfaßt hatte. Die Kunde, daß Colina nahe, ging auch schon vor ihm her, und wer die Mittel besaß, fortzukommen, hielt sich gewiß nicht länger an der Straße auf.

Wohin er wolle, wußte man allerdings nicht – aber man vermutete überall, daß er bis San Juan del Morro, ziemlich in der Nähe der Ebenen, vordringen, und dann möglicherweise nach der Lagune zu eine Schwenkung machen würde.

Miguel Antonio Rojas hatte mit Sehnsucht die ihm in einem Brief angezeigten Depeschen, aber vergebens, erwartet. Sie waren, wie das Schreiben vorsichtigerweise, um keinen Namen zu nennen, anzeigte, einem »zuverlässigen Freund« übergeben worden, aber sie trafen nicht ein, und der »zuverlässige Freund« hätte, wenn er eilte, schon wenigstens vor zwölf bis sechzehn Stunden an der Lagune sein können. Und gerade diese Papiere waren von größter Wichtigkeit, da sie ja eben danach ihre Operationen entwerfen wollten.

Rojas befand sich wieder auf der Hacienda, im Kreis der Familie, als Hauptmann Teja von seinem Ritt zurückkehrte und freundlich eingeladen wurde, teil an dem eben aufgetragenen Essen zu nehmen. Er mußte dabei berichten, was er gesehen, denn Geheimnisse hatte der General nicht vor der Familie, die, wie er recht gut wußte, der Revolution mit Leib und Seele angehörte und also auch den innigsten Anteil an ihrem Fortschreiten nahm. Er konnte auch in der Tat nur Gutes melden, denn selbst Colina hatten ihnen Vorteil und eine Vermehrung ihrer Streitkräfte gebracht, da viele der jungen Leute, wenn sie denn doch einmal für eine oder die andere Partei kämpfen sollten, die der Blauen entschieden vorzogen. Überall bildeten sich kleine Trupps, oft noch heimlich, oft aber auch ganz offen, wählten sich Führer, trugen das blaue Band am Hut und warteten nur auf spezielle Befehle, wohin sie sich wenden, und welchem größeren Korps sie sich anschließen sollten.

Sinto, der junge Indianer-Bursche, kam hinauf auf die Veranda und meldete, daß ein Bote, der Felipe mit dem einen Arm, den sie alle kannten, eingetroffen sei und einen Brief von Caracas bringe. Er hatte ihn aber nicht an ihn abgeben wollen, sondern behauptete, strengen Auftrag zu haben, ihn selber zu überreichen.

»Ein Brief von Caracas? – Um Gottes willen!« rief die Mutter erschrocken, »es wird doch nichts vorgefallen sein? Eloi und Ana könnten selber schon hier sein, wenn sie sich gleich einen Wagen genommen hätten, und ich bin den ganzen Morgen in Sorge um sie gewesen.«

»Aber, liebes Herz,« sagte Sennor Castilia, der sich jedoch selbst nicht ganz frei von einer unheimlichen Ahnung wußte, »wie kann man sich auch nur gleich das schlimmste denken. Das einfachste ist doch, wir lesen erst den Brief. Schick' Felipe herauf, Sinto, und setz' ihm einen Teller da drüben auf den Tisch, er wird müde und hungrig sein und kann uns dann selber gleich erzählen, wie es in Caracas steht. Der Bursche ist schlau,« fügte er gegen Rojas hinzu, »und hat die Augen fortwährend offen, wenn er sich auch um gar nichts zu bekümmern scheint. Er wird auch von allen freundlich behandelt, weil man ihn als Krüppel für ungefährlich halt.«

»Wo hat er den Arm verloren?«

»In der letzten Revolution und vielleicht zu seinem Glück, denn da er sicher ist, daß er nicht zum Soldaten genommen werden kann, zeigt er sich zu vielen Dingen, besonders als Bote brauchbar und verdient sich damit jetzt recht hübsches Geld.«

Sinto hatte indessen Felipe herbeigerufen, und der Bursche, seinen Hut unter dem kurzen linken Armstummel, unter dem er auch noch einen langen Stock trug, den Brief in der rechten Hand, trat in das geräumige Gemach und ging mit einem »Buenos dias«, bei dem er aber niemanden ansah, direkt auf den Hausherrn zu.

»Du kommst gerade von Caracas, Felipe?« sagte Sennor Castilia, indem er ihm den Brief abnahm und öffnete.

»Ja, Sennor, bin gestern mittag dort fortgefahren.«

»Fortgefahren?«

»Die Sache hat wohl Eile.«

»Schön, wir werden ja sehen. Setz' dich da drüben an den Tisch, Felipe, und laß dir von Sinto zu essen geben – dort steht auch ein Glas, du wirst von der langen Tour hungrig geworden sein.«

Felipe nickte nur mit dem Kopf und ging dann ohne weiteres zu dem bezeichneten Tisch, wo er Hut und Stock auf die Erde legte, sich die Haare mit der Hand aus dem Gesicht strich und dann erwartungsvoll nach der Tür sah, ob Sinto mit den versprochenen Speisen noch nicht käme.

Der alte Herr Castilia hatte indessen schon lange den Brief mit den Augen überflogen, und ein eisiges Gefühl trat ihm ans Herz, als er den Inhalt mehr erriet, als wirklich genau las.

Die Mutter hing mit angstvollen Blicken an seinen Zügen.

»Von wem ist der Brief, Antonio?«

»Von Ana,« antwortete der Vater, und die Buchstaben flirrten ihm vor den Augen; »es ist da – eine fatale Geschichte vorgefallen, die aber hoffentlich nichts zu bedeuten hat.«

»Um Christi Wunden willen sage mir alles,« bat die Mutter, »ich vergehe vor Angst.«

Teja hatte schon lange einen Blick nach Rojas hinübergeworfen. Es war eine Familienangelegenheit, und sie störten vielleicht. Jetzt erhob er sich halb von seinem Stuhl und die beiden anderen Offiziere folgten seinem Beispiel, Castilia aber, es bemerkend, streckte die Hand gegen sie aus und rief:

»Bitte, bleiben Sie, meine Herren – es ist kein Geheimnis, was wir hier zu verhandeln haben. Mein hitzköpfiger Junge hat sich in eine augenblickliche Verlegenheit gebracht, bei der Sie selber mir vielleicht einen guten Rat geben können, wie ich ihn wieder herausbekomme.«

»O, was ist vorgefallen, Vater?« bat die Frau, »mir verzehrt die Angst ja das Herz.«

»Der Brief ist von Ana, und das arme Kind scheint selber in große Aufregung gewesen zu sein, als sie ihn schrieb, aber sie hofft das beste, denn der Justizminister war sehr freundlich gegen sie –«

»Der Justizminister?« fragte jetzt Rosa erschreckt – »aber was hat Ana mit dem Justizminister zu tun?«

»Der Brief lautet: Lieber Vater, komme, so rasch Du kannst hierher oder sende jemanden – Eloi hat Unglück gehabt. Auf dem Dampfer von Barcelona insultierte mich ein Offizier der Regierungstruppen – Eloi kam mir zu Hilfe. Der Bube zog seinen Degen und schlug nach dem Bruder. In Selbstverteidigung erschoß dieser ihn. Er ist jetzt gefangen –«

»O, mein Gott!« stöhnte die Mutter und wurde totenbleich.

Felipe, der indessen sein Essen bekommen hatte, war ebenso durstig wie hungrig gewesen. Ein Glas stand auch auf seinem Tisch, aber nichts zu trinken. Einige Schritte von ihm entfernt, bemerkte er verschiedene Karaffen mit Wein, und nicht weniger als blöde, stand er auf, ging dorthin und schenkte sich ein volles Glas ein.

»Sennora,« begann jetzt Rojas, der die Aufregung sah, in der sich die Mutter befand – »die Sache ist fatal, aber nicht verzweifelt – ängstigen Sie sich nicht zu sehr deshalb. So schlimm Falcon in mancher Hinsicht sein mag, blutdürstig ist er nicht. Übereilt wird der Prozeß keinenfalls, und wenn Beweise gebracht werden, daß Ihr Sohn nicht der Angreifer, sondern der Verteidiger war – und er hat die geschicktesten Advokaten unserer Partei auf seiner Seite, so braucht er für sein Leben nichts zu fürchten. Außerdem ist die Regierung jetzt, wie jedermann weiß, in der größten Geldnot. Ich bin fest überzeugt, daß sich alles mit Geld arrangieren lassen wird.«

Felipe war mitten im Trinken bei den Flaschen stehen geblieben, um sich gleich noch einmal einzuschenken. Jetzt setzte er das Glas hin, wischte sich mit dem rechten Hemdärmel den Mund und sagte:

»Sie haben eine Menge Papiere und Depeschen bei ihm gefunden.«

Totenstille herrschte in dem weiten Raum – selbst Castilia erbleichte.

»Und woher weißt du das, Muchacho?« fragte Rojas endlich.

»Bei der Diligence erzählten sie es, wie wir fortfuhren. Er hatte auch ein paar Hiebe über den Kopf bekommen, und sie konnten jetzt nichts mit ihm anfangen, bis er wieder zu sich käme.«

Rosa sprang rasch nach der Mutter, die sich an der Tischplatte hielt, und fing sie in ihren Armen auf. Das war zu viel für sie gewesen, und die Männer selber sahen sich schweigend an, denn sie begriffen die Tragweite dieser furchtbaren Nachricht vollkommen.

»Das erklärt das Ausbleiben der Depeschen,« sagte endlich Rojas, leise mit dem Kopf vor sich hinnickend – »sie sind jetzt in Feindes Hand, und ich fürchte, von nicht geringer Bedeutung für Falcon.«

Felipe sah allerdings das Unheil, das er mit seiner Nachricht, die so unvorbereitet die Mutter traf, angerichtet hatte – aber was konnte es helfen? Erfahren mußte sie es ja doch, und den armen Leuten wurde in dieser furchtbaren Zeit nie ein Schmerz erspart, – weshalb sollte er die Reichen verschonen, die ja sonst alles hatten, was sie zu einem glücklichen Leben brauchten.

Was war zu tun? – Castilia beschäftigte sich mit der ohnmächtigen Frau, die bald wieder zu sich kam und nun verlangte, alles – das schlimmste zu hören. »Was stand weiter in dem Brief?«

»Nichts von Bedeutung, Kind,« erwiderte ihr Gatte freundlich – »Ana ist gut aufgehoben, in Pedro Gonzales' Haus. Sie hat den Brief, wie es scheint, gleich am ersten Morgen geschrieben und konnte uns da noch nichts Näheres mitteilen. Wir werden sie auch jetzt nicht erwarten dürfen, denn sie verläßt Caracas sicher nicht, bis sich das Schicksal Elois entschieden hat. – Armes Kind – wie furchtbar diese Sorge auf ihr lasten muß!«

»Und was willst du tun – Antonio?« fragte die Frau, ihm starr ins Auge sehend.

»Laß mich nur erst überlegen, mein Herz, was ich tun kann. Es ist jetzt alles noch so neu – das Ganze kam so unerwartet, daß ich Zeit haben muß, um mich zu sammeln. Bitte, geh' auf dein Zimmer, Eva – Rosa mag dich begleiten.«

»Laß mich nach Caracas,« bat die Frau, die Hände faltend. »Wenn jemand imstande ist, etwas auszurichten, so muß es die Mutter sein. Falcon soll von Herzen gut sein. Er wird einer Mutter nicht ihren einzigen Sohn nehmen wollen.«

»Geh jetzt auf dein Zimmer, Eva – ich bitte dich darum – ich werde mit dem General indessen überlegen, was geschehen kann. Nachher sprechen wir darüber. Wir dürfen das Gefühl hier nicht die Oberhand gewinnen lassen, oder wir versäumen darüber das richtige Handeln.«

Rosa selber bat die Mutter, ihr zu folgen, und diese, die auch wohl fühlte, daß sie eine kurze Zeit der Ruhe bedürfe, verließ endlich an der Tochter Arm den Saal.

Sie mußte an Felipe dicht vorüber, was diesen jedoch nicht störte, denn er war wirklich ausgehungert gewesen und räumte nun unter den vor ihm stehenden Speisen tüchtig auf.

Castilia ging mit untergeschlagenen Armen und auf die Brust gesenktem Haupt im Speisesaal auf und ab, und Teja scheute sich, das Schweigen zu brechen. Was half hier Trost, wenn man nicht Hilfe bringen konnte!

»Wenn Sie nun selber nach Caracas gingen, Sennor,« sagte Rojas nach einer Weile, nachdem er ebenfalls schweigend vor sich niedergeblickt hatte. »Vielleicht könnten Sie den Präsidenten bewegen –«

»Glauben Sie,« entgegnete Castilia, vor ihm stehen bleibend, »daß man in Caracas nicht weiß, welche Gäste ich hier in meinem Hause beherberge? Glauben Sie, daß meine eigene Gesinnung nicht ebenso genau dort bekannt ist? Falcon haßt mich außerdem persönlich; ich weiß das aus sicherer Quelle, wenn ich ihm auch nie zu nahe getreten bin. Ich würde in demselben Augenblick verhaftet werden, in dem man erführe, daß ich in Caracas wäre.«

»Und haben Sie keinen Freund in Caracas, dem Sie Auftrag und Vollmacht geben könnten, für Sie zu handeln?« fragte Teja.

Oberst Bermuda, der sich noch mit im Zimmer befand, hatte bis dahin kein Wort gesprochen. Die Sache schien ihm selber sehr fatal zu sein, aber was konnte er dabei jetzt tun. Nur als Rosa in diesem Augenblick wieder in den Saal kam, ging er auf sie zu und suchte sie zu trösten.

»Du hättest lieber bei der Mutter bleiben sollen, Kind,« meinte Castilia. »Wenn sie nun Hilfe braucht.«

»Sie hat mich selber fortgeschickt, lieber Vater,« entschuldigte sich das junge Mädchen – »sie wünscht für kurze Zeit allein zu sein und sich zu sammeln.«

»Teja hat recht,« begann jetzt Rojas wieder – »wenn es so mit Ihnen steht, kann ein Freund, der einigen Einfluß dort hat, vielleicht das nämliche und mehr ausrichten.«

»Ich kenne nur einen Menschen in Caracas,« erwiderte Castilia, »dem ich es zumuten könnte, und das ist Gonzales, mein Geschäftsfreund, in dessen Haus sich meine Tochter jetzt befindet – aber er würde es nur sehr ungern übernehmen und dann sehr vorsichtig dabei zu Werke gehen. Er ist außerordentlich ängstlicher Natur und – wenn auch im Herzen zu unserer Partei haltend, wäre er doch der letzte Mann in Caracas, der es mit der Regierung verderben möchte, denn leider glaubt er nicht an den endlichen Sieg der guten Sache und sucht sich deshalb stets den Rücken freizuhalten. Er war vor etwa drei Monaten einmal hier, und ich habe vergebens versucht, ihn zu überzeugen – er wäre der unpassendste Mann zu einem solchen Auftrag.«

»Was sagen Sie, Bermuda?« fragte nun der General, »wissen Sie keinen Ausweg? Sie haben doch eine Menge Freunde und Verwandte in Caracas. Ihr Onkel z. B. soll nicht unbedeutenden Einfluß auf Falcon ausüben. Glauben Sie nicht, daß der es übernehmen würde, für den jungen Castilia zu vermitteln?«

Bermuda zuckte mit den Achseln: »General,« erwiderte er, »dadurch, daß ich zu Ihrer Partei übergegangen bin und offen die Waffen für die Revolution ergriffen habe, mußte ich auch – wie Sie sich wohl denken können, den Einfluß bei meiner Familie verlieren. Ich hoffe allerdings, daß sich das später wieder ausgleichen wird, aber vorderhand möchte jeder Versuch der Art nutzlos sein, und ich dürfte die Verantwortung nicht übernehmen, eine Angelegenheit, die so rasche Erledigung verlangt, durch unerfüllbare Versprechungen verschlimmert zu haben.«

»Wollen Sie mir Urlaub geben, General Rojas?« fragte jetzt Teja, der eine Zeitlang mit sich gekämpft hatte, jetzt aber vollkommen entschlossen schien.

»Urlaub? Wozu?«

»Nach Caracas zu gehen und dort zu sehen, was sich tun läßt.«

»Und wenn man Sie erkennt, werden Sie einfach als Spion gehangen,« antwortete der General. »Was wollen Sie überhaupt ausrichten?«

»Ich habe sehr viele Bekannte in der Hauptstadt, besonders unter meinen Landsleuten; unser Konsul ist sogar mein spezieller Freund, und kein Mensch dort weiß bis jetzt, daß ich aktiv bei den Blauen eingetreten bin.«

»Und wenn nun ein Spion Sie bei mir gesehen hätte?«

Teja zuckte die Achseln. »Als Soldat kann ich hier so gut sterben wie dort, und außerdem stehen wir alle in Gottes Hand. Ich habe nun einmal Vertrauen zu der Sache, und wenn menschliche Hilfe überhaupt nicht imstande ist, zu dem Gefangenen zu dringen, nun dann bringe ich der Familie hier doch wenigstens Gewißheit über das Schicksal des Unglücklichen, und die schlimmste Gewißheit ist besser als solch ein quälender Zweifel.«

»O, das weiß Gott, das weiß Gott!« seufzte Rosa, und ihr Blick hing in dankbarer Erregung an den Zügen des im Eifer für seinen Plan erglühenden jungen Mannes.

Bermuda war zu Rojas getreten und flüsterte ihm einige Worte zu – der General sah ihn wie fragend an und sagte dann:

»Lassen Sie mir eine halbe Stunde Zeit, die Sache zu überdenken, Teja. – Was meinen Sie überhaupt dazu, Sennor Castilia, – Sie haben Ihre Meinung, die doch hier die wichtigste ist, noch nicht ausgesprochen. Glauben Sie, daß Teja dort etwas nützen könnte?«

»Ich weiß es nicht, Sennor,« erwiderte Castilia wie gebrochen – »je mehr ich mir die Sache überdenke, je mehr scheint mir, daß hier menschliche Hilfe überhaupt zu spät kommt. Erholt sich mein armer Junge wirklich von den erhaltenen Wunden, so liegt gegen ihn das schlimmste vor, was überhaupt vorliegen kann – noch dazu in einer Zeit, wo der Belagerungszustand so gut als erklärt ist und das Militär die volle Macht in Händen hat: Tötung eines Offiziers und ›Landesverrat‹, wie es die Herren jedenfalls nennen werden. Ich fürchte« – setzte er fast tonlos hinzu – »mein Sohn ist verloren.«

»Und doch geben Sie die Hoffnung noch nicht auf,« rief Teja – »es herrschen jetzt eigentümliche Verhältnisse in Venezuela. Kein ehrgeiziger Usurpator will den Präsidenten stürzen – im Gegenteil, das Volk wäre in größter Verlegenheit um einen Kandidaten, wenn Falcon in diesem Augenblicke zurücktreten sollte. Jedermann scheut sich vor dem wirklichen Ausbruch des Bürgerkrieges – jeder scheut aber auch demzufolge entscheidende Maßregeln, und das allein kann auch die Ursache sein, weshalb bis jetzt so wenig Blut geflossen. Kein Mensch freilich kann sagen, wie sich das ändern wird, wenn einmal der erste Schlag gefallen ist.«

Rojas war, während Teja sprach, mit Bermuda vorn hinaus auf die Veranda getreten.

»Was wollten Sie mir sagen, Bermuda?«

»Ich wollte Sie warnen, General, dem Spanier zuviel zu trauen. Er ist in alle unsere Geheimnisse – vielleicht zu sehr – eingeweiht, er hat, wie ich weiß, wohlhabende Verwandte in Caracas, die zum großen Teil der Falconschen Partei angehören.«

»Und ist das nämliche nicht mit Ihnen der Fall, Bermuda?«

»Aber ich bin Venezuelaner und liebe mein Vaterland. Er ist ein Fremder und unserer Rasse feindlich.«

»Ich glaube fast, daß wir die Spanier mehr hassen als sie uns. Aber haben Sie sonst etwas gegen ihn? – Ich halte ihn für ehrlich und treu.«

»Nein,« sagte Bermuda, »Bestimmtes nicht, doch ich wollte Sie nur aufmerksam machen, General, welcher Gefahr wir ausgesetzt sind, wenn Teja – zum Verräter würde. Die Regierung hat die Depeschen von Barcelona in Händen und weiß genau, wie es dort steht, während wir nur oberflächliche Kunde daher erhalten haben. Erfährt sie jetzt auch noch, wie schwach und zerstreut unsere eigenen Kräfte hier sind, während Colina, soviel wir wissen, vielleicht schon unsere Flanke bedroht, so kann sie uns mit einem Schlage hier vernichten, und ich gebe dann für die ganze Revolution keinen falschen Peso.«

»Sie scheinen überhaupt nicht viel Vertrauen zu unserer Sache zu haben, Bermuda,« warf der General ein. »Sie machten schon gestern eine ähnliche Andeutung.«

»Ich weiß nicht,« bemerkte Bermuda ausweichend: »daß sich Falcon nicht wird halten können, glaube ich bestimmt, aber ob wir imstande sind, das ganze jetzige Regiment in Caracas umzustoßen, ist ungewiß – wir müßten denn das Zehn- oder Zwanzigfache an Truppen haben, als was uns zu Gebote steht – und wo Waffen für alle die Soldaten herbekommen? – Ja, wenn wir die Hafenstädte besetzen könnten, aber die liegen, fast ohne Verteidigung, Falcons Kriegsdampfern vollständig offen.«

Rojas sah eine Weile still und schweigend vor sich nieder.

»Ich teile Ihre Besorgnisse nicht,« meinte er endlich, »und – auch nicht Ihren Verdacht gegen Teja. Mir liegt aber jetzt gerade daran, Genaues über die Stimmung in Caracas zu erfahren, und – ich selber habe da einige Quellen. – Teja mag gehen und sein Glück versuchen, wenn er glaubt, etwas auszurichten, denn wir sind Castilia zu großem Dank verpflichtet, um ihm irgend eine mögliche Hilfe zu verweigern. – Jedenfalls gibt es den armen Leuten einen Trost in dieser ersten schweren Zeit.« – Und sich von seinem Adjutanten abwendend, schritt er in den Saal zurück und sagte, sich zu Teja wendend:

»Kapitän, wenn Sie wirklich glauben in dieser traurigen Sache irgend eine Hilfe leisten zu können, oder wenigstens den Versuch dazu machen wollen, so steht Ihrem Urlaub nichts im Wege. Wir sind doch, nach den letzten Vorfällen, und ehe wir nicht genaue Nachricht von Barcelona haben können, zur Untätigkeit verdammt, und ein einzelner Mann wird da nicht so schwer vermißt. Ich verlasse mich aber ganz auf Sie, Teja,« setzte er hinzu, den jungen Offizier fest ansehend – »und halten Sie sich nicht länger auf, als unumgänglich nötig ist. Je früher Sie zurückkommen, desto besser. Daß Sie alle Ihre Abzeichen hier lassen, versteht sich von selber – Herr Castilia wird Ihnen vielleicht eine Anzahl Kaffeeproben mitgeben, die allenfalls zu Ihrer Legitimation unterwegs dienen können.«

»Und einen Kreditbrief an Gonzales,« setzte Castilia bewegt hinzu. »Jede Summe, die Sie brauchen, soll Ihnen zur Verfügung stehen, und wenn es der letzte Real wäre, den ich besitze.«

»Auf Geld habe ich meine größte Zuversicht gesetzt,« erwiderte Teja. »Es gibt keinen besseren Schlüssel in Caracas als Geld. Fassen Sie guten Mut, Sennorita, noch ist nicht alles verloren, und wenn ich Glück habe, bringe ich Ihnen den Bruder wieder.«

»Und ewig, ewig würde ich Ihnen dankbar dafür sein,« hauchte das junge Mädchen.

Rojas hatte die beiden beobachtet. Wie er sich abwandte, sagte er leise zu Bermuda.

»Der kommt uns wieder, Bermuda. Haben Sie den Blick gesehen, den er der jungen Dame zuwarf? – Der geht nicht zu den ›Gelben‹ über.« – Damit schritt er hinüber auf sein Zimmer.

Bermuda antwortete nicht und starrte nur mit zusammengezogenen Brauen auf Teja hin. Dann wandte er sich plötzlich ab und folgte dem General in sein Gemach.



 << zurück weiter >>