Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Die Vergeltung.

Die Plaza, über die sie jetzt hinschritten, bot ein wildes und doch malerisches Bild – denn wie hatten die Menschen hier in ihrer Leidenschaft gewütet.

Das Regierungsgebäude war von den gelben Truppen, da man nicht viel anderes Material zur Hand hatte, größtenteils, wie vorher erwähnt, mit den dort in Masse vorrätigen Aktenstößen verbarrikadiert worden und diese nachher von den Blauen, als sie den Platz nahmen und das Papier im Wege fanden, über die Balkone hinab auf die Plaza geworfen. Dort zerrte es das Volk auseinander und trieb seinen Mutwillen damit.

Über das Fach der internationalen Verträge mußten die Soldaten ebenfalls geraten sein. Eine Menge davon, manche auf Pergament kunstvoll aufgezeichnet, trieben sich auf der Straße umher. Verträge, die mit England, Frankreich, Spanien, Amerika, Brasilien und anderen Ländern abgeschlossen waren, lagen in Stücken zerfetzt auf dem Pflaster, und die Straßenjungen rissen und prügelten sich um einzelne Fetzen.

Tote Menschen und Pferde gab es noch ringsumher, denn zuerst hatte man die Verwundeten unterbringen müssen. Auch der erzbischöfliche Palast war der Verwüstung nicht entgangen, denn auch dort hatten die Regierungstruppen, in letzter Verzweiflung, Schutz gesucht und Türen wie Balkone verbarrikadiert, so daß der Erzbischof aus seinem eigenen Hause flüchten mußte. Die Kirche hatte überhaupt im Gegensatz zu anderen südamerikanischen Staaten gar nichts mit der Revolution zu tun gehabt und sich vollkommen fern von der ganzen Bewegung gehalten. Sie hatte vielleicht, wenn irgend welches, noch mehr Interesse für die Revolution als für Falcon gezeigt, denn Falcon brauchte alles, was er von dem Volk erpreßte, allein für sich, während der Wohlstand des ganzen Landes ruiniert und dadurch auch natürlich die Einnahme der Kirche geschmälert wurde.

Eine eigene wilde und doch auch traurige Gruppe bildete mitten auf der Plaza eine kleine Herde Schlachtvieh mit vielen Kühen dazwischen, die von den Gelben im Hofe des Regierungsgebäudes zusammengetrieben waren, um ihnen, im Falle einer längeren Belagerung, zur Nahrung zu dienen. Viele dieser armen Tiere waren von einschlagenden Kugeln verwundet worden, und scheu und erschreckt von dem sie umgebenden Lärmen, drängten sie einander und suchten dann und wann einen Weg zur Flucht, der ihnen aber überall abgeschnitten wurde.

Castilia wollte den Ort nicht gleich wieder verlassen, denn so viele Menschen trieben sich darauf herum, daß ja auch die Möglichkeit blieb, sein unglücklicher Bruder hätte gerade hierher seinen Weg gefunden. So genau aber auch Tadeo und Felipe den weiten Platz absuchten, so konnten sie doch nirgends eine Spur von ihm entdecken. –

Felipe mischte sich jetzt unter die Soldaten von Alvarados Korps, von denen er viele kannte, und fragte nach dem Alten, den er ihnen beschrieb. Einige hatten ihn auch gesehen, ja, wie sie behaupteten, sogar noch in der Stadt, und soviel sie wußten, sei er nicht verwundet; wo er aber jetzt stecke, wer konnte das sagen? Disziplin herrschte gar nicht unter den Blauen, da die meisten nicht einmal einer bestimmten Kompagnie angehörten, und wäre auch zum Sammeln geblasen worden, so blieb es immer sehr unwahrscheinlich, daß der alte wahnsinnige Mann dem Rufe folgen würde.

Tadeo fand aber seinen Bruder wieder, der beim Sturm auf die Kathedrale tätig gewesen und glücklicherweise ohne Wunde davongekommen war. Da man nun den Soldaten völlig freie Hand ließ, was sie gerade jetzt mit sich anfangen wollten, denn dadurch allein konnten sie sich die seit lange entbehrten Lebensmittel verschaffen, die man ihnen überall willig gab, so schlenderte Pablo ruhig mit Tadeo die Plaza entlang, bis sie wieder, ohne von Perdido auch nur eine Spur gefunden zu haben, zu der Stelle zurückkehrten, auf welcher Castilia und die beiden Gonzales sie in peinlicher Spannung erwarteten.

Und was nun? Felipe machte den Vorschlag, daß sie sich durch die Stadt verteilen sollten, um mehrere Stellen zugleich abzusuchen, aber nur er und Tadeo kannten den Unglücklichen, und wenn sie auch noch einige von den Soldaten angeworben hätten, die ihn gesehen haben wollten, so war auf die Leute doch gerade in dieser Zeit kein Verlaß. Sie tranken und aßen, wo sie nur irgend etwas bekommen konnten, und vielen von ihnen waren die starken und ungewohnten Getränke, die sie sich in den leeren Magen gegossen, schon in den Kopf gestiegen. Aber wenigstens Tadeo und Felipe sollten verschiedene Distrikte absuchen, und da der gewandte Felipe erklärte, er würde schon noch einige Leute auftreiben, die ihm suchen halfen, um den Alten dann, wenn man ihm irgendwo begegne, nach Gonzales' Haus zu schaffen, so schlossen sich die anderen Tadeo an und schritten langsam die nächste Straße hinunter, wo sich noch eine Menge von Menschen versammelt hatte.

Dort lag Sennora Coronas Haus, und schwerer schlug Joses Herz, als er des Abends gedachte, an dem er Zeuge jener furchtbaren Szene mit Hierra gewesen. Was war jetzt geschehen? Hatte Isabel den Präsidenten wirklich auf seiner Flucht begleitet? Isabel, jener Dämon in eines Engels Gestalt, der seinen armen Freund in einen verzweifelten Tod getrieben? – Weshalb fiel er dem Freund eigentlich damals in den Arm? Falcon verdiente den Tod hundertfach, denn wie viele Menschen bluteten gerade jetzt für eine Sache, der er selber, als Anstifter und Leiter, wie eine erbärmliche Memme den Rücken gewandt hatte?

Langsam ging José hinter seinen Begleitern die Straße hinab – die anderen waren schon vorüber, aber sein Blick haftete noch auf dem Hause, dessen Tür er zu seinem Erstaunen offen sah. Das Haus der Sennora Corona offen? – Was konnte da vorgefallen sein? Er blieb – unschlüssig, ob er es nicht betreten solle – stehen, als er vor dem noch hellen Hintergrund des Hofes einen einzelnen Mann den Gang herunterkommen sah, der sonderbarerweise eine Stange oder Lanze in der Hand trug. – Wer in aller Welt konnte das sein? – Jetzt trat er heraus – ein alter Mann mit weißen wirren Haaren, totenbleich, seine Hände von Blut gerötet und eine Lanze in der Hand – war so nicht der Verlorene beschrieben?

Mit wenig Sätzen hatte er die Vorangehenden eingeholt.

»Tadeo, wer ist das, der dort geht?«

Der Alte hatte sich umgewandt und schritt von ihnen fort der Plaza zu; Tadeo warf aber kaum einen Blick auf ihn, als er rasch und fast erschreckt ausrief: »Perdido!« – und flüchtigen Laufes hinter dem Unglücklichen herrannte.

»Großer Gott!« rief Castilia, als er die Gestalt betrachtete und mit gefalteten Händen auf der Straße stehen blieb – »wäre es möglich und denkbar.«

»Aber, Perdido, wo bist du nur gewesen?« rief Tadeo, indem er den alten Mann einholte und seinen Arm ergriff, »wieviel Angst haben wir um dich ausgestanden.«

Perdido blieb stehen und sah Tadeo mit den großen Augen an. Er erkannte ihn augenblicklich, und mit der Hand zurückzeigend, sagte er:

»Wo ich gewesen bin, Tadeo? – Bei meiner kleinen Manuelita, die da drinnen bleich und kalt auf der Bahre liegt, und bei Teodora war ich.«

»Bei ihr?« rief Tadeo erschreckt.

»Nun ja, bei ihr,« antwortete Perdido, der heute merkwürdig klar auf alle Fragen hörte, »wo denn sonst? Ich habe es dir ja schon immer gesagt, daß sie tot wäre, aber du wolltest es nie glauben.«

»Wer? – sie?«

»Die Manuela – ich will mir nur Freunde holen, daß wir sie hinaustragen unter den Rosenstrauch, wo ich ihr das Grab gegraben. Dann komme ich wieder. Du kannst mir auch helfen, Tadeo,« setzte er hinzu. »Du weißt am besten, wie lieb ich das Kind gehabt habe; aber wer sind die fremden Menschen?« fuhr er fort, als Castilia mit den anderen ihn jetzt erreicht hatte und neben ihm stehen blieb, »wollen sie mir helfen?«

»Ja, Carlos,« sagte Castilia, indem er, die Augen voll Tränen, auf ihn zuging, und seine mit geronnenem Blut bedeckte Hand ergriff, »wir wollen dir helfen, verlaß dich darauf, so sicher, als du hilflos und verlassen von den Deinen bis jetzt in der Welt gestanden hast.«

»Carlos?« flüsterte der Alte und sah den Redenden stier an – »wer hieß doch gleich Carlos? Der Name kommt mir so bekannt, so merkwürdig bekannt vor – aber ich muß fort,« sagte er, wie sich besinnend hinzu, »wir haben ja den Präsidenten noch nicht gefangen, der mir meine kleine Manuela ermordet hat. – Jetzt geht der Kampf erst wieder an. Hei, wie wir die Hunde gejagt haben. Dem einen, der meinen Bruder töten wollte, habe ich die Lanze bis hierher in den Leib gerannt – sieh nur, wie rot sie ist!«

»Deinen Bruder?«

»Ei, der war mit dabei – Seite an Seite haben wir gekämpft.«

»Eloi!« rief Castilia aus – »aber wobei sollten wir dir helfen?«

»Ja so – hätt' ich das doch bald vergessen,« erwiderte Perdido, indem er Tadeos Arm ergriff – »komm – kommt alle mit herein, wir wollen die Manuela hinaus unter den Rosenbusch tragen,« und ohne sich weiter an einen der anderen zu kehren, lief er zurück und in das kaum verlassene Haus wieder hinein.

»Wohin will er?« rief Castilia besorgt.

»Dort lebt sein Weib,« sagte Tadeo. »Der Himmel weiß, wie er das Haus gefunden hat, denn seit sie dort wohnt, war er nie mit einem Fuß in Caracas.«

»Sein Weib?« rief Castilia mit blitzenden Augen, »dann folgt mir, Tadeo – das ist der rechte Augenblick ihr zu begegnen. Kommt alle, alle, und wir wollen sehen, welche Stirn sie hat, solchen Zeugen entgegenzutreten.«


Wie Sennora Corona ohnmächtig zu Boden stürzte, war ihr Diener Juan, der sich seit der Erscheinung des Alten scheu zur Seite gehalten hatte, vorgesprungen, um ihr zu Hilfe zu kommen. Furchtsam warf er dabei den Blick zu dem entsetzlichen Menschen empor, den er nicht kannte und dessen Einfluß auf seine sonst so starke Herrin er nicht begriff; aber Perdido achtete nicht auf ihn, sah ihn vielleicht gar nicht, und als er den Hof verlassen hatte, tat Juan sein Äußerstes, um die Sennora wieder zum Leben zurückzurufen.

Die Sennora hatte starke Nerven, und ehe nur einer der anderen Diener Wasser bringen konnte, schlug sie schon wieder die Augen auf und sah Juan starr an. Einen Augenblick brauchte sie auch, um sich zu besinnen, dann aber, sich auf ihre Hand stützend und vom Boden fast ohne Hilfe Juans aufstehend, sagte sie:

»Mir wurde plötzlich so merkwürdig unwohl, gib mir ein Glas Wasser, Juan. Wo ist der Mann?«

»Fort, Senora. Wer war das?«

»Er sah gräßlich aus,« antwortete die Sennora schaudernd. »Ein Wahnsinniger jedenfalls, der mit der noch blutigen Lanze seinen Weg hier herein gefunden hat. Sind meine Sachen alle gepackt, Juan?«

»Alle, Sennora – wir können in einer Stunde fort. Die Karren, die nach La Guayra gehen, werden mit Dunkelwerden hier sein.«

»Es ist gut, morgen früh folgen wir nach; beendet ihr eure Arbeit, die Träger müssen gleich kommen, daß wir die Leiche der Erde übergeben können.«

Die beiden jungen Leute, zu denen sie dies sagte, Arbeiter aus der Stadt, die den Sarg am Morgen gebracht hatten und nun gekommen waren, um ihn zuzuschrauben, blieben ganz erstaunte Zeugen dieser Szene. Aber was bedeutete das alles? – Sie konnten es nicht begreifen. Es wurde ihnen selber unheimlich in dem Hause, und sie suchten ihre Arbeit so rasch als möglich abzufertigen. Sie nahmen den Deckel und legten ihn auf den Sarg, aber während Juan die Tränen an den Backen niederliefen, stand die Mutter starr und kalt daneben und sah den Sarg schließen, ohne nur noch einen letzten Kuß auf die Lippen des Kindes zu drücken. Das Zuschrauben begann, aber der eine Schraubenzieher paßte nicht mehr. Die Leute mußten einen anderen unter ihrem Handwerkszeug suchen. Die Sennora, die sich wieder vollständig erholt hatte, stand daneben, aber ihre Augen hafteten nicht an der letzten Behausung ihrer Tochter, sondern bohrten sich in die Steine der Veranda. Vor ihrem Geist flogen die Schatten der letzten furchtbaren Begegnung vorüber, und zornig schwoll die Ader auf ihrer Stirn an und die buschigen Brauen runzelten sich finster.

»Ave Maria!« rief da Juan, der aufs neue die Gestalt des furchtbaren Fremden vor sich auftauchen sah. – »Geben Sie acht, Sennora.«

Sennora Corona sah rasch empor, aber keine Angst oder Bestürzung lag mehr in dem festen und entschlossenen Ausdruck ihrer Züge.

»Was wollt Ihr?« redete sie den alten Mann hart an – »was sucht Ihr hier, und wer hat Euch erlaubt dies Haus der Trauer zu betreten? – Fort, oder ich rufe die Leute auf der Straße zu Hilfe.«

Perdido hörte sie gar nicht. Wie ein Schatten – die Lanze noch immer in der Hand – glitt er zu dem Sarg hinan, und ein Wink von ihm war genügend, die beiden jungen Arbeiter davon zurückzuscheuchen.

»Sie hat ja da drinnen keine Luft,« sagte er leise, während er die eben nur eingesteckten Schrauben herausnahm und zu Boden warf, »wozu den dunklen, häßlichen Deckel. Wir tragen sie frei hinaus in die Abendluft, daß sie die Sterne noch zum letztenmal am Himmel und die dunklen Wolkenstreifen daran vorüberziehen sieht. Hast du Abschied von ihr genommen, Teodora?«

»Fort mit Euch!« rief aber jetzt die Sennora, die der Zorn übermannte. »Hinaus mit dir, Juan, rufe mir Leute von der Straße zu Hilfe, Polizei, Soldaten, Bürger, wen du findest. Ich will doch sehen, ob eine einzelne Frau hier nicht in ihrem eigenen Hause Schutz finden kann.«

Juan gehorchte auch rasch dem Befehl. Wie eine Schlange glitt er um den Alten herum, sprang über die Veranda und in den Gang hinein, als er unten von der Straße her mehrere fremde Gestalten in die Tür treten sah. Die kamen zur rechten Zeit, da war Hilfe, ehe er sie selbst herbeizuholen brauchte, und jetzt wurden sie auch den unheimlichen Gesellen mit seiner blutigen Lanze und den dunklen, rastlos umhersuchenden Augen los.

Perdido hatte indessen, ohne daß die beiden Arbeiter ihn zu hindern wagten, den Deckel gefaßt und wollte ihn eben wieder vom Sarge heben, als die Sennora hinzusprang und ihre Hand darauf legend ausrief:

»Fort von hier Teufel! oder wer du bist, lege nicht die Hand an dies Heiligtum, oder, bei der heiligen Jungfrau! Ich tue was mich reut.«

»Was dich reut, Teodora?« sagte Perdido, indem er seine Lanze an die Wand lehnte und ihr fest ins Auge sah – »komm, hilf mir, daß wir das Kind zur Ruhe bringen.«

»Hier ist Hilfe, Sennora!« rief Juan, indem er wieder auf den Hof trat, »da kommen eine ganze Menge Leute, und Soldaten sind auch dabei.«

Aus dem Gang kamen sie herauf – Tadeo voran mit José an seiner Seite, der alte Herr Gonzales und ein Fremder, den die Sennora gar nicht kannte – und dann ein indianischer Soldat – war denn die ganze Hölle heute gegen sie losgelassen – Pablo! und Tadeo mit ihm.

José hatte, mit bitterem Groll im Herzen, das Haus betreten. Hier war es, wo er seine erste Liebe begraben, wo dieselbe Kokette seinen Freund in den Tod getrieben hatte, und jetzt – als er den Hof betrat, fiel sein Blick auf den Sarg, und das Blut erstarrte ihm in den Adern, als in diesem Augenblick der alte Mann den Deckel, als ob es eine Feder wäre, leicht emporhob, und er Isabellens bleiche, engelschöne Züge darunter erkannte.

»Isabel!« rief er und alle die alten Erinnerungen lebten in seinem Herzen mit erneuter Schärfe wieder auf – »o, was ist geschehen, daß du so jung – so schön – sterben mußtest?«

Die Sennora schleuderte einen Blick voll Haß und Wut auf den sie freilich gar nicht beachtenden jungen Mann. War er es nicht gewesen, der all' dies Elend über sie heraufbeschworen hatte? Aber andere Schreckbilder traten ihr entgegen; entsetzt schweifte ihr Auge im Kreis umher und haftete zuletzt auf dem, vor dem ihr Herz am meisten zagte – Castilia. Dieser begegnete still und fest ihrem Blick, dann sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme, indem er auf den unglücklichen Bruder deutete:

»Sennora Castilia – kennen Sie diesen Mann?«

Die Dame zuckte, wie von einer Natter gestochen, zusammen.

»Und wer sind Sie, der mich mit einem lang' vergessenen und verhaßten Namen anreden darf?«

»Ein Mann, der diesen selben Namen trägt und schon vor langen Jahren den Tag verfluchte, an dem jener Unglückliche Sie zum Weibe nahm: Antonio Castilia, Ihres Gatten Bruder.«

»Meines Gatten – was weiß ich von ihm?« rief die Frau schaudernd. »Was wollt ihr alle von mir? Ist kein Gesetz, keine Polizei mehr im Lande, die eine alleinstehende Frau vor Einbruch und Wahnsinnigen schützt?«

»Und kennen Sie den, Sennora?« rief da Tadeo, indem er Pablos Arm ergriff und ihn ihr gegenüberstellte, »wissen Sie, wie Sie mit Lug und Trug mich zu Ihrem Sklaven gemacht haben? Und soll ich Ihnen das Fläschchen bringen, in das Sie Gift für den unglücklichen Mann getan? Gift, das zwei Soldaten mir gewaltsam wegnahmen, die elend vor meinem Hause daran verdarben?«

Die Sennora sprach kein Wort weiter, ihr Antlitz deckte Totenblässe, und scheu, vernichtet sah sie zu dem alten Herrn Castilia auf, der ernst und streng wie ein Rächer ihr gegenüberstand.

Eine merkwürdige Veränderung war indessen mit dem »Verlorenen« vorgegangen. Der alte Mann hatte eine ganze Weile neben dem Sarg gestanden und still und starr das tote Mädchen angesehen. Er sprach kein Wort, er hörte auch nichts von den Anklagen, die gegen jenes Weib, die Mutter seines Kindes, geschleudert wurden. Ganz im Anschauen der Leiche war er und blieb er versunken. Da plötzlich faltete er die Hände, barg sein Antlitz darin, sank an dem Sarg auf die Kniee nieder, lehnte seine Stirn daran und schluchzte laut.

»O heilige Jungfrau,« rief Tadeo, der bei dem Anblick all seinen Haß und Zorn vergaß, »er weint, er hat noch nie geweint!«

Der alte Herr Gonzales hatte bisher der Szene schweigend zugesehen, jetzt endlich trat er mit seiner gewöhnlichen rücksichtsvollen Artigkeit vor und sagte:

»Sennora, ich glaube, der gegenwärtige Augenblick ist für alle peinlich, und je mehr wie ihn abkürzen, desto besser. Daß wir sämtlich hier die Ehre haben, Sie genau zu kennen, dessen kann ich Sie versichern und hier noch einiges vielleicht ergänzen, was die anderen Herren nicht wissen mögen: daß Sie nämlich unserem weggelaufenen Präsidenten als Spion gedient, – daß Sie unter der Hand kleine heimliche Geschäfte machten, – daß Sie Ihre eigene Tochter verkuppelten und, kurz und gut, in allen Verbrechen eine traurige Fertigkeit erlangt zu haben scheinen. Hätten wir jetzt im Lande eine Polizei so würde es das einfachste sein, Sie derselben als Giftmischerin zu übergeben; da Sie aber, wie Sie fühlen müssen, einer ehrenwerten Familie dadurch noch mehr Schande machen können, so wird es das beste sein, – und ich glaube, Freund Castilia ist darin mit mir einverstanden, Sie lieber laufen zu lassen. Ich erinnere Sie aber daran, daß wir in spätestens drei Tagen wieder ein organisierte Polizei haben werden, und möchte Ihnen raten, sich dann nicht mehr hier treffen zu lassen. – Was sind das für Leute?« wandte er sich an Tadeo, der neben ihm stand, als sechs Männer den Gang heraufkamen und am Eingang des Hofes stehen blieben.

»Wir sind hierher bestellt, Sennor, um die Leiche abzuholen. Es wird spät und die höchste Zeit, daß wir sie hinaustragen. Der Geistliche erwartet uns schon.«

»Armes Kind,« sagte Castilia, indem er einen mitleidsvollen Blick auf die holden Züge der Toten warf, »welch ein Fluch für dich, von einer solchen Mutter durch das Leben geführt zu sein; aber laßt uns sie begleiten, Gonzales: es ist meines Bruders Kind, und der Unglückliche verläßt den Sarg doch nicht eher, bis sie ihn in die Grube gesenkt haben.«

José gab den Arbeitern ein Zeichen, den Sarg zu schließen. Der alte Mann ließ es ruhig geschehen, er rührte und regte sich nicht. Endlich, als alles bereit war, faßte ihn Castilia am Arm und hob ihn leise auf. Er ließ alles mit sich machen und folgte willenlos wie ein Kind.

Die Männer hoben den Sarg auf und schritten damit dem Ausgang zu, und jetzt war es, als ob das Gefühl der Mutter noch einmal in dem verstockten Herzen erwachte. Sie trat ein paar Schritte vor, als ob sie dem Sarg folgen oder ihn zurückhalten wolle. Da traf sie Castilias Blick, und scheu bebte sie zurück, blieb zitternd auf dem Hof stehen und folgte nur dem Sarg, solange sie konnte, mit den tränenleeren Augen.


Drüben auf der Plaza hatte sich das Volk wieder in größerer Zahl zusammengefunden, denn das Gerücht ging, daß man die bis jetzt gefangen gehaltenen Offiziere, da Bruzual nirgends aufzufinden und, wie sich später herausstellte, allein, wie alle seine Vorgänger, nach La Guayra geflohen war, einfach entlassen wolle. Was sollte man mit so vielen Gefangenen machen, und eine Gefahr war von ihnen nicht mehr zu befürchten.

Monagas hatte sie oben im Regierungsgebäude ihrer Haft nach einer kurzen und nicht unfreundlichen Ansprache enthoben und ihnen volle Freiheit gelassen, in der Provinz entweder zu bleiben – vorausgesetzt nämlich, daß sie sich ruhig verhielten – oder nach irgend einem anderen Teil des Reiches überzusiedeln. Gleich nachher fand aber unten auf der Plaza noch eine andere Feier oder Festlichkeit statt, bei der von dem jetzigen General en chef José Fadeo Monagas eine Anzahl von Soldaten, die sich besonders in der letzten Schlacht ausgezeichnet hatten, zu Offizieren ernannt werden sollten.

Teja stand unten mitten im Kreise, in welchen die Aspiranten eingeführt werden sollten, als außerhalb desselben einige der gelben, eben entlassenen Offiziere, aber ohne Waffen, vorübergingen.

»Caramba,« rief der Spanier überrascht, indem er sich rasch umdrehte, »das ist ja ein unerwartetes Vergnügen, Oberst Bermuda, Sie unter den Herren der gelben Partei zu sehen. Sind Sie nur aus Versehen darunter geraten?«

Bermuda sah über die Achsel nach Teja hinüber und wollte vorübergehen, aber so leicht entkam er seinem Gegner nicht.

»Halt, Sennor,« rief Oberst Teja, indem er aus der Reihe sprang und zu dem ihn jetzt in stolzer Haltung erwartenden Bermuda hintrat – »ich bin Ihnen noch, ehe wir wieder scheiden, Dank für einen gewissen Brief schuldig, den Sie die Güte hatten, mir hier nach Caracas her nachzusenden.«

»Was wünschen Sie, Sennor?« fragte Bermuda kalt.

Teja bog sich zu ihm hinüber und sagte leise: »Ihnen den Hals zu brechen, mein werter Herr. Bestimmen Sie mir auf morgen früh eine Stunde, wo ich mit Ihnen draußen am alten Schloß zusammentreffen kann.«

»Ist es Ihnen um Sonnenaufgang genehm?« fragte Bermuda ruhig.

Teja verbeugte sich, und sein Gegner schritt stolz vorüber.

Jetzt traten die Soldaten, die sich als besonders tapfer ausgezeichnet hatten, in den Ring, und unter ihnen stand auch unser alter Freund Samuel Brown, zeigte sich übrigens nicht im geringsten befangen, sondern er hatte beide Riesenhände, so weit das möglich war, in seine engen Hosentaschen gezwängt und machte ein ganz vergnügtes Gesicht.

Endlich kam die Reihe an ihn. Monagas las seinen Namen selber ab und sagte dann:

»Samuel Brown, du bist mir von verschiedenen Seiten warm empfohlen worden. Du warst einer der ersten im Innern der Stadt und hast zwei Offizieren im Kampf durch deine Tapferkeit das Leben gerettet. Ich ernenne dich hiermit –«

»Seien Sie so gut und warten Sie noch einen Augenblick, General,« unterbrach ihn jetzt der riesige Schwarze, indem er schmunzelnd vor sich nieder sah. »Daß ich tüchtig dreingeschlagen habe, will ich nicht leugnen, ich hatte auch die Knochen dazu; was aber das Offizierwerden betrifft, so – wollen wir das doch lieber vorderhand sein lassen, denn ich bin schon einmal General gewesen.«

»General?« sagte Monagas erstaunt, indem er die rohe, ungeschlachte Gestalt lächelnd betrachtete.

»Jawohl, General,« erwiderte Samuel – »aber nicht lange und – es war auch gerade kein Vergnügen. Jedenfalls hab' ich ein Haar darin gefunden und denke gar nicht daran, noch einmal den Offizier zu spielen. Geht's wieder mit den Gelben los, General, dann rufen Sie mich, und der Samuel schultert dann seine Muskete mit so gutem Willen wie vorher. Wenn's aber nicht nötig ist, wollen wir doch lieber das Soldatenspielen lassen. Ich habe eine alte Mutter in La Guayra, die ich ernähren muß, und um die ich mich die letzten Monate verwünscht wenig kümmern konnte. Meine Liebhaberei ist aber das Land, und da will ich sehen, daß ich wieder Arbeit bekomme und mir so viel verdiene, um mir ein Stückchen Land selber zu kaufen. Mit einem großen Titel arbeitet sich's aber schlecht, und man hat immer zu vielen Durst. – Nichts für ungut, General – das war so meine Meinung von der Sache.«

»Und ein gesunder Kern liegt darin,« erwiderte Monagas freundlich, »wenn ich dir in irgend etwas behilflich sein kann, Kamerad, dann komm' zu mir, und du sollst deinen Mann in mir finden.«

Samuel wurde über die freundliche Anrede etwas verlegen und zog sich, die Hände noch immer in den Taschen, unter die übrigen zurück. Dort mußte er sie aber heraustun, denn Teja reichte ihm etwas leichtsinnig die seine hin, die der Neger denn auch herzlich drückte.

»Samuel, alter Bursche,« sagte Teja, »ich habe Euch den Dienst, den Ihr mir geleistet habt, nicht vergessen. Wenn Ihr Bauer werden wollt, weiß ich ein gutes Plätzchen für Euch. Wo habt Ihr Eure Mutter?«

»In La Guayra – aber wo wäre der Platz, Sennor?«

»An der Lagune – aber wie steht's mit Eurer Kasse?«

»Na,« meinte Samuel verlegen, »etwas Löhnung werden wir doch für das bißchen Klopfen bekommen.«

»Es ist besser, wenn Ihr nicht darauf wartet,« fuhr Teja lachend fort. »Da nehmt das vorderhand auf Abschlag. Ihr könnt es mir später von Eurer Löhnung wiedergeben,« setzte er rasch hinzu, als er sah, daß sich der Neger weigern wollte, es anzunehmen, »und jetzt macht, daß Ihr nach La Guayra hinunterkommt, und holt die Mutter herauf. Nachher sprechen wir weiter darüber.«

»Hm, das wäre mir recht,« rief Samuel, »in La Guayra möchte ich doch nicht bleiben, denn das Lumpenvolk da würde mich ewig General nennen, bis ich einem paar von ihnen die Knochen entzweischlüge. Und wo soll's nachher hingehen?«

»Davon sprechen wir später, ich muß noch erst mit einem Freund darüber reden. Ihr findet mich im Hause von Pedro Gonzales oder könnt mich wenigstens dort erfragen.«

»Gut,« sagte Samuel vergnügt lachend, und die drei Finger seiner Hände wieder in die Taschen schiebend, schlenderte er, lustig vor sich hinpfeifend, über die Plaza hinüber.



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