Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Flucht nach allen Seiten.

Der Versammlungsort der jungen Leute, die heute nacht beabsichtigten aus der Stadt hinauszubrechen und sich den Reconquistadoren anzuschließen, lag in einem kleinen Hause, das nur eine kurze Strecke von der Stadtgrenze ablag. Dort standen natürlich keine Posten, und durch die nur angelehnte Tür konnten sie alle mit einiger Vorsicht nach und nach in das Innere gelangen, ohne nach irgend einer Seite hin Verdacht zu erregen. Dieser Teil der Stadt war überhaupt nur höchst mittelmäßig, ja, fast gar nicht erleuchtet, und hier wohnte auch nur das ärmere Volk: Neger und Indianer, die von ihrer Tagesarbeit lebten.

Das Haus selber gehörte einer alten Frau, einer Wäscherin, die es aber willig für den Abend hergegeben hatte, denn ihr Sohn stand ebenfalls bei den Reconquistadoren, und je mehr Streiter dort hinauseilten, um deren Sache zu unterstützen, desto größere Hoffnung hatte sie ja auch, den einzigen Sohn glücklich und gesund wieder heimkehren zu sehen.

Um ganz sicher zu sein, daß so viele Menschen auch nicht etwa von vorbeigehenden Leuten gehört werden konnten, räumte sie ihnen die hinteren Stuben ein, und José und Hierra, welche die ersten waren, nahmen gleich von der einen ärmlich genug aussehenden Kammer Besitz. – Solange sie sich auf den Füßen gehalten hatten, war Hierra festen Schrittes mit dem Freund gegangen, aber kein Wort hatten sie zusammen gewechselt, den ganzen Weg entlang. Jetzt aber, als die erste Ruhe eintrat, verließ den Armen auch seine Kraft. Er taumelte in das Gemach hinein, und sich auf den einzigen Stuhl, der dort stand, niederwerfend, barg er sein Antlitz in beide Hände und schluchzte laut.

José störte ihn nicht. Der erste Schmerz will austoben, und Tränen lösen und lindern ihn. Erst, als er fürchten mußte, daß jetzt bald andere Kameraden hinzukämen, redete er ihm zu, sich zu ermannen.

»Hier, Hierra,« sagte er, indem er ihm ein Glas Xereswein, den er aus seinem Proviantsack gezogen hatte, hinreichte, »da nimm und trink, es wird dir gut tun, aber jetzt sei auch wieder ein Mann. Denke, wenn die Kameraden kommen, was sie sagen werden, und wer braucht das Geschehene zu wissen, als wir beide? Da, hier nimm, und dann wische die Tränen aus den Augen. Beim ewigen Gott, die Dirne ist doch wahrscheinlich nicht die Träne eines braven Mannes wert!«

»Du hast recht, José,« erwiderte Hierra, indem er vom Boden emporsprang. Er sah totenbleich aus, und die langen, schwarzen lockigen Haare hingen ihm wild um Stirn und Schläfe – »gib mir den Wein, mich fröstelt.«

José reichte ihm das Glas, welches Sierra leerte, aber seine Kraft schien gänzlich gebrochen. José neigte sich zu ihm und drückte ihn ans Herz.

»Armer Freund,« sagte er, »ich habe dir heute abend recht weh tun müssen, aber es war nötig, du hättest dich sonst dein Leben lang mit Zweifeln abgequält und wärst unglücklich und elend geworden. Jetzt, da du weißt, daß sie deiner nie wert gewesen, wirst du sie leichter vergessen, sobald nur der erste Schmerz vorüber ist.«

»Komm, José,« erwiderte Hierra, ihn leise von sich drückend, »du machst mich nur wieder weich, und das darf nicht sein; es ist vorüber – hättest du mich nur Rache nehmen lassen.«

»Es ist besser so: der Gedanke an den Mord würde dich ewig gequält haben.«

»Und ohne Strafe sollen beide bleiben?«

»Du mußt Isabel mit deinem Messer verwundet haben, ich sah wenigstens, als sie die Mutter umfaßt hielt, Blut auf dem lichten Kleide der Sennora. Sie mag die Schramme als Erinnerung an diesen Abend tragen, und in Scham erröten, wenn ihre Hand darüber streift.«

»O, daß ich ihr falsches Herz getroffen hätte! Aber es ist jetzt vorbei, ich danke dir José, daß du mich vor diesem Teufel nicht allein gerettet, sondern mir ihn auch in seiner wahren Gestalt gezeigt hast. Ich hatte keine Ahnung, daß unter einer solchen Hülle ein solches Herz schlagen könne! Und diese alte Hexe – welch ein Weib! – Aber fort mit den Gedanken. Vorbei – alles vorbei, und jetzt wollen wir aufs neue frisch und kräftig in das Leben eintauchen.«

Er schien von diesem Augenblick an wie verwandelt. Bei der Alten, die das Haus bewohnte, ließ er sich frisches Wasser geben, um Stirn und Schläfe zu kühlen, und ging dann ruhig an die Arbeit, um seine Sachen zu ordnen.

Jetzt blieb ihnen auch nicht mehr lange Zeit, denn einzelne Kameraden trafen nach und nach ein, und diese durften nicht merken oder auch nur ahnen, was geschehen sei. Es hatte aber auch jeder von ihnen heute abend genug mit sich selber zu tun, denn ihr Auszug war nicht ohne Gefahr.

Da die Regierung nämlich befürchtetes daß die Blauen doch vielleicht in der Nacht einen tollkühnen Angriff auf die Stadt unternehmen könnten, so waren überall an die Ausgänge ziemlich starke Besatzungen gelegt, und Signalisten ihnen beigefügt worden, um gleich, bei den ersten Anzeichen einer Gefahr, Hilfe herbeiziehen zu können. Einige der junge Leute rieten auch lieber den hellen Tag abzuwarten, wo man die Truppen dann wieder nach der Plaza zurückrufen würde, und nur vielleicht einzelne Posten dort draußen ließ. Die Mehrzahl war aber vollständig dagegen, denn zeigten sich nach Tagesanbruch Blaue auf irgend einer der Höhen, so konnten sie sich darauf verlassen, daß Falcons ganze Armee sich in die Vorstädte ziehen würde, und sie wußten dann gar nicht, ob es ihnen überhaupt noch gelingen werde durchzubrechen.

Die einzige Gefahr für sie war, daß sie, wenn sie mit ihrer Truppe die Straße hinunterzogen, wahrscheinlich schon von weitem entdeckt und dann durch Warnungssignale verraten würden. José entwarf deshalb den Plan, daß sie sich gleich hier im Hof zu einer wirklichen Kolonne ordneten, um draußen nicht zu lange herumzustehen. Dann sollten sie rasch und geräuschlos auf die Straße treten und wie eine der gewöhnlichen Patrouillen, zu vieren, mit festen Schritten gerade auf die Besatzung losmarschieren. Dadurch vermieden sie die Gefahr, daß das Alarmsignal früher gegeben wurde, als sie mit dem Truppen zusammentrafen. Vielleicht gelang es dann, sie gänzlich zu überrumpeln, vielleicht mußte ein Kampf entscheiden, aber sie selber waren dabei, als die Angreifenden, jedenfalls im Vorteil. Sonst ließ sich im voraus nichts Näheres bestimmen. Das mußte der Augenblick geben; alarmierten die Feinde dann auch durch Schießen die ganze Truppenmacht, so tat das weiter nichts. Sie waren dann am Ausgang der Stadt, und ehe die anderen Kolonnen dort eintreffen konnten, befanden sie sich selber draußen im Freien und konnten und würden dorthin nicht mehr verfolgt werden.

Die Truppe besaß unter achtundvierzig Mann, zu denen sie heute abend angewachsen war, vierundzwanzig Musketen im Bajonett, und etwa neunzehn Jagdflinten, aber jeder trug noch einen oder zwei Revolver im Gürtel, und viele hatten Säbel, so daß sie also auch an Bewaffnung den Feinden weit überlegen blieben. Ihre kleine Armee war rasch aufgestellt, die zwölfte Stunde schon lange vorüber, und die Straße lag wieder totenstill. Einer von ihnen mußte aber trotzdem auskundschaften, ob kein Nachtwächter in der Nähe sei, der etwa vor der Zeit ein Zeichen geben konnte. Niemand ließ sich blicken, ihre Bahn lag frei, und in Reih' und Glied rückten sie jetzt hinaus, hielten sich noch, bis sich der Zug vollständig geordnet hatte, dicht an der Häuserreihe und marschierten dann, auf das leise gegebene Kommandowort, acht Mann hoch, die Musketen und anderen Gewehre geschultert, und nur etwas durch ihr Gepäck belästigt, unerschrocken die Straße hinab, wo sie wußten, daß sie in wenigen Minuten mit den Regierungstruppen zusammentreffen mußten.

José hatte von den übrigen die Führung überkommen, und jeder von ihnen sein blaues Band oder seine Kokarde angesteckt. Das aber konnte der Feind natürlich erst erkennen, wenn sie sich in unmittelbarer Nähe befanden, und dann lag ihnen selber nicht daran, ihn länger in Zweifel zu lassen.

Hierra ging neben José. Er trug nichts als seine zwei Revolver im Gürtel.

»Hierra,« flüsterte ihm José zu, und alles andere war in dem Augenblick in der Nähe der Gefahr, die der entscheidende Moment bringen mußte, vergessen, »wahrscheinlich steht, wenn wir die Truppen erreichen, der Signalist neben dem Offizier gleich vorn. Ich bemächtige mich des Offiziers, wahre du den Signalisten, daß er seine Trompete nicht gebrauchen kann – aber nur im äußersten Notfall einen Schuß – ich habe noch immer die Hoffnung, daß wir die ganze Sache im stillen abmachen.«

»Und sind unsere Kameraden unterrichtet?«

»Von allem – wie ich den Offizier fasse, schlagen sie an, geben aber nur auf Kommando Feuer.«

»Schon gut, verlaß dich auf mich. Ich sehe im Dunkeln wie eine Katze und werde den Burschen rasch genug herausfinden. Er soll seine Trompete nicht an die Lippen bringen, oder ich schlage sie ihm in die Zähne hinein, daß ihm das Blasen vergeht. Stehen sie nicht da vorn?«

»Ich kann nichts erkennen, aber möglich ist's; wir können kaum noch achtzig Schritt von den Häusern entfernt sein.«

Links, rechts; links, rechts. Mit festen Schritten und echt militärisch marschierte die kleine Kolonne die Straße hinab, und José erkannte jetzt selber, wenn auch der Hintergrund noch durch die dicht vor der Stadt aufsteigenden Berge verdunkelt wurde, einen schwarzen Klumpen rechts von ihrem Weg. Der Mond stand zwar am Himmel, aber trübe Wolken hatten sich über das ganze Firmament gezogen und drohten schon wieder einen tüchtigen Regen niederzuschütten. Doch hatte sich wenigstens noch kein Wind erhoben, und still war es, daß man selbst das Zirpeln einzelner Grillen in den jetzt nicht mehr fernen Bäumen hören konnte.

»Quien vive?« tönte da plötzlich ein scharfer Ruf durch die Nacht, und José erkannte eine nicht unbedeutende Zahl Soldaten – nicht weniger vielleicht als sie selbst waren, rechts von dem Hause, aber ziemlich unordentlich aufgestellt. Die Leute, die den Trupp aus der Stadt herauskommen sahen, konnten natürlich nicht anders denken, als daß es ein Kommando der ihrigen sei, das wahrscheinlich hierher geschickt wurde, um sie zu verstärken, da man mit ziemlicher Sicherheit einen Angriff gegen Morgen erwartete. Der Anruf war auch nur eine Form und mußte beobachtet werden, schon um zu zeigen, daß der Posten dort auf Wache sei und nicht schlafe.

»Patria!« antwortete José ruhig mit dem Wachtwort der Gelben.

»Quien es?« lautete der zweite Anruf.

»Federal!« Und der kleine Trupp marschierte keck vorwärts, bis dicht an die Soldaten hinan.

Die Gelben hatten sich seitwärts aufgestellt, um genügenden Raum zum Vorbeidefilieren der Truppe zu lassen, auf die sie ja nicht den geringsten Verdacht haben konnten, aber José wußte gut genug, daß sie dann augenblicklich erkannt werden würden. – Die in Caracas liegenden Soldaten waren ohne Ausnahme uniformiert und trugen Jacken und Hosen von ungebleichter Leinewand, wie ihre Dienstmützen mit dem gelben Band, und die »gelben« Offiziere mußten zweifellos entdecken, daß hier ein Betrug stattfand. Zeigten doch die jungen Leute mit ihrem unregelmäßigen Gepäck, einige in hellen, einige in dunklen Kleidern, daß es keine wirklichen Soldaten wären. Jetzt befanden sie sich noch im Vorteil, wurde der Feind aber erst einmal mißtrauisch, so konnten sie recht gut eine Salve bekommen, ehe sie imstande gewesen wären, sich zu verteidigen oder gar selber anzugreifen.

»Hierra,« flüsterte José dem Freunde zu, »ich glaube, jetzt ist unsere Zeit – wahre deinen Signalisten.«

Nur wenige Schritte gingen sie weiter, da kommandierte José Halt und ging selber auf den Offizier zu, der fast gar nicht auf ihn achtete, sondern nur erstaunt die wunderlichen Gestalten betrachtete, die da vor ihm aufmarschiert standen, und die er sich, da er noch an keinen Verrat dachte, gar nicht erklären konnte. José aber sorgte dafür, daß er zu keinem Entschluß kam.

»Fertig!« rief er, und während seine ganze Mannschaft ihre Gewehre in Anschlag brachte, hatte er auch den Offizier und Hierra den Signalisten gepackt, und beide befahlen ihnen mit vorgehaltenem Revolver, kein Glied zu rühren:

»Der erste Schuß, der von eurer Seite fällt,« rief José mit donnernder Stimme, »und ihr seid alle verloren. Fügt euch in das Unvermeidliche, denn dort unten in der Straße sammelt sich noch ein zweiter Zug, der uns folgt. Wer uns entginge, fiele dem in die Hände.«

»Aber Caracho!« rief der Offizier, dem der gespannte Hahn vor der Stirn nicht angenehm sein mochte. »Was wollt ihr von uns? Wer seid ihr?«

»Reconquistadoren,« lautete die Antwort. »Es soll euch kein Leid geschehen, sobald ihr euch gutwillig meinen Befehlen fügt. Wer sich widersetzt, ist des Todes.«

»Aber was verlangt ihr von uns?«

»Die Sache ist sehr einfach, Sennor,« fuhr José fort, indem er den Revolver etwas herunter, aber noch immer gegen die Brust des Feindes gerichtet, hielt. »Wir sind im Begriff, uns den Blauen da draußen anzuschließen und wünschen nicht daran verhindert zu werden.«

»Gut,« erwiderte der Offizier, »dann gehen Sie – marschieren Sie ruhig vorbei, ich will nichts gesehen haben.«

»Sehr freundlich von Ihnen. Die Sache hat jedoch einen Haken, denn wenn Sie nachher hinter uns drein feuern, so wissen wir recht gut, daß wir Sie nicht in die Stadt hinein verfolgen können, und einige von uns möchten dabei unnützerweise zu Schaden kommen. – Aber wir haben keine Zeit, uns mit Ihnen aufzuhalten – also lassen Sie Ihre Leute die Gewehre schultern und marschieren Sie voran –«

»Voran? – Wohin?«

»Vor die Stadt hinaus – sind wir weit genug von hier entfernt, um nichts mehr von Ihren Kameraden besorgen zu müssen, so können Sie zurückkehren.«

»Caracho, Sie wissen doch, daß ich meinen Posten nicht verlassen darf, Sennor? Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –«

»Bitte, Sennor,« unterbrach ihn José ruhig, »Sie dürfen alles, was Sie müssen, und ich weiß nicht, inwieweit Sie die Pflichten eines Ehrenworts kennen« (der Bursche sah allerdings als Offizier ruppig genug aus und war von schwarzbrauner Farbe). »Aber ich glaube, es wird besser sein, ich übernehme die Führung. – Meine Herren Regierungstruppen! Schultert's Gewehr! Wenn ich drei gezählt habe, und der Befehl ist nicht befolgt, kommandiere ich Feuer! – Eins – zwei – drei –«

Die Soldaten, die von ihrem Offizier keine Gegenorder bekamen, schulterten ruhig ihre Gewehre; weshalb sollten sie sich hier mitten auf der Straße totschießen lassen? »So – ich werde jetzt bei Ihnen hier zurückbleiben, Sennor – schwenkt in Eurem gewöhnlichen Gliede ein und vorwärts marsch, bis ich Halt kommandiere. Nun, wird's bald?«

Der Offizier, mit dem Revolver auf der Brust – dem Signalisten hatte Hierra schon die Trompete abgenommen – verhielt sich vollkommen passiv, und die Soldaten ordneten sich, wie ihnen befohlen worden.

»Vorwärts marsch!«

Der Zug, der jetzt aus einigen achtzig Mann bestand, passierte die letzten Häuser und wandte sich aus der Stadt hinaus, auf der breiten Straße hin und den Bergen zu. Es war freilich kein besonders gutes Marschieren dort im Dunkeln, denn wie sie nur erst die Häuser und das Pflaster verließen und auf höheren Boden kamen, trafen sie auf tiefe Rinnen im Weg, die frühere Regen gerissen hatten, und konnten nur langsam vorrücken. Aber mit jedem Schritt, den sie machten, ließen sie die Gefahr weiter hinter sich, und sie war schon jetzt eigentlich geschwunden. Selbst den Fall angenommen, daß ihnen eine andere Kolonne von Regierungstruppen bis an das Ende der Stadt gefolgt wäre; hier in das Dunkel im Freien hätte sie sich nicht mehr hinausgewagt.

Als sie die nächste kleine Höhe endlich erreicht hatten, kommandierte José Halt und wandte sich dann an die Leute:

»So, Caballeros! Wir, die wir uns unseren Freunden und Brüdern da draußen anschließen wollen, befinden uns nun soweit in Sicherheit, und ich glaube, wir können Sie jetzt mit unserem besten Dank entlassen. Auf eins möchte ich Sie aber vorher aufmerksam machen: wir bleiben hier, die Gewehre am Backen, im Anschlag stehen und warten, bis Sie völlig außer Schußweite sind. Der erste verräterische Schuß jedoch, der von Ihnen gefeuert wird, ist das Signal zu einer vollen Salve. – Sodann noch eine Frage! Wer sich uns anschließen will, ist herzlich willkommen. Daß sich Caracas nicht länger als höchstens noch ein paar Tage halten kann, wißt ihr vielleicht so gut wie ich. Euer Offizier hier hat euch nichts zu befehlen, denn er steht unter meinem Oberkommando. – Wenn ihr gescheit seid, laßt ihr euch da drinnen nicht für einen Präsidenten abschlachten, der in diesem Augenblick schon nach La Guayra auf der Flucht ist und nie wieder nach Venezuela zurückkehrt. Was wollen denn die Leute da draußen, die sich Reconquistadoren nennen? Was anders, als den Tyrannen aus dem Lande treiben, der euch zu Soldaten gepreßt hat, und euch nicht einmal so viel dafür gibt, daß ihr satt werdet? Wir wollen nichts, als das Land dahin bringen, daß es keine Soldaten mehr braucht, und ihr zu euren Familien, zu eurer Arbeit zurückkehren könnt. Wünscht ihr aber, euch zu Krüppeln schießen zu lassen, um Sklaven zu bleiben – gut, ich habe nichts dagegen; kehrt ruhig um und marschiert wieder nach Caracas hinein. – Wenn ihr aber gescheit seid, so geht ihr mit uns. Wer dann unter den Reconquistadoren dienen will, der ist willkommen. Wer es nicht will, der mag seine Waffen und Munition abliefern und ruhig nach Hause gehen – es soll keiner gezwungen sein Soldat zu bleiben.«

Für ein paar Augenblicke standen die Leute still und regungslos. Es war augenscheinlich, daß keiner gern zuerst sprechen wollte. Da plötzlich glitt einer von den Soldaten, ohne ein Wort weiter zu sagen und sein Gewehr auf der Schulter, mitten aus der Truppe heraus und zwischen die Reconquistadoren hinein; als ob das das Signal gewesen wäre, folgten ihm fast alle übrigen. Der Offizier stand dabei und sagte keine Silbe. Nur drei oder vier blieben noch zurück.

»Sennor,« meinte da einer von diesen – »das ist alles recht gut – wir haben aber unsere Familie in Caracas, und wenn wir jetzt unter die Blauen gingen, müßten wir nachher auf unsere Brüder, die noch in der Armee sind, schießen.«

»Ich sage euch ja, daß ihr gar nicht Soldaten zu bleiben braucht!« rief José; »geht, wohin ihr wollt und wartet das Ende des Krieges ab.«

»Ja« – fuhr derselbe fort – »das kennen wir schon, Wenn wir erst einmal dazwischen sind, dann wird ein armer Teufel auch nicht mehr gefragt, ob er dienen will oder nicht. Sie machen's drüben nicht besser als hüben. Und wohin wollen wir? Wir haben keinen Centabo Geld.«

»Wieviel von euch sind es, die nicht weiter dienen wollen?« fragte José. »Denen, die unter die Reconquistadoren treten, sichere ich selber ihre regelmäßige Löhnung. Wer aber von euch nach seiner Heimat zurückkehren und dort das Ende des Krieges abwarten will, der trete hier herüber auf die Seite.«

Es dauerte eine kleine Weile, dann traten erst einzelne und dann mehrere vor, bis vierzehn von ihnen aufmarschirt und in Reih' und Glied standen; unter ihnen der Signalist.

»Ihr wollt in eure Heimat zurückkehren, meine Burschen?«

»Ja, Sennor.«

»Seid ihr hier in der Gegend bekannt? Findet ihr euren Weg?«

»Gewiß, Sennor.«

»Gut, Leute,« sagt José, indem er in die Tasche griff und eine von seinen Unzen herausnahm. »Hier ist Geld für euch als Zehrpfennig; das verteilt untereinander, damit ihr unterwegs euren Unterhalt nicht zu betteln oder zu stehlen braucht. Und nun gebt eure Gewehre ab, die ihr doch nicht mehr brauchen könnt, denn wenn man euch damit träfe, würdet ihr überall aufgegriffen werden. Außerdem, wenn ihr einen guten Rat hören wollt, so nehmt die gelben Bänder von den Mützen. Sie werden da unten im Lande nicht gern gesehen.«

Die Soldaten erwiderten kein Wort weiter, sie nahmen ihre Gewehre herunter und stellten sie auf der Straße zusammen, hingen dann ihre Patronentaschen darüber und schnallten ihre Seitengewehre ab, dann rissen sie die Bänder von der Mütze und stellten sich wieder in Reih' und Glied auf.

»Caramba, Sennor!« rief da der Offizier, »und was wird aus mir?«

»Sie haben volle Freiheit, Sennor, mit Ihren Waffen nach Caracas zurückzukehren, wenn es Ihnen beliebt.«

»So? Damit ich dort vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen werde?«

»Dann gehen Sie vielleicht mit uns?« lachte José. »Nur Ihre Falconschen Abzeichen müssen Sie fortwerfen, und zwar Ihrer selbst wegen, denn Sie setzen sich vielleicht dadurch rauher Behandlung aus.«

»Hol's der Teufel!« rief der Sambo-Offizier, indem er sein Goldband von der Mütze riß, »zu verlieren habe ich in Caracas auch nichts, und faul wird die Geschichte jedenfalls – Caracho! Wenn sie Leute haben wollen, die sich für sie totschießen lassen sollen, so müssen sie ihnen auch wenigstens so viel Geld geben, daß sie zu essen haben, so lange sie noch am Leben sind. Vorwärts marsch! Ich will's einmal mit den Blauen versuchen.«

»Dann verschmähen Sie auch vielleicht vorderhand einen guten Trunk nicht?« sagte José lachend, indem er ihm die angebrochene Flasche Xeres reichte – »Hinunter damit, Amigo, der Morgen ist kühl, und wir haben noch einen langen Marsch vor uns.«

Der Offizier trank herzhaft, wie ihm aber der feurige Wein durch die Adern rollte, sagte er zutraulich:

»Compannero, da oben, gleich etwas weiter draußen, steht noch eine andere Patrouille auf Vorposten, könnten wir die vielleicht ebenfalls mitnehmen?«

»Wieviel Mann?«

»Nicht mehr als acht oder zehn. Sie sind nur dahin postiert, um den Alarm zu geben, wenn sie etwas Verdächtiges bemerken sollten, mit der Order, gleich nachher auf die Stadt zurückzufallen. Schießen dürfen wir nicht auf sie. Die armen Teufel haben keine Ahnung von dem, was hier vorgeht.«

»Ich hoffe, Sennor,« erwiderte José, »daß wir nicht blutdürstiger Natur sind. Wir alle gehören einem einzigen großen, schönen Lande an, das glücklich und reich sein könnte, wenn es nicht einzelne gewissenlose Schurken darin gäbe. Wir haben keine Feindschaft gegen arme, zu Soldaten gezwungene Burschen. Die Leute sollen ihre Freiheit haben, zu tun was ihnen beliebt. Also vorwärts, Kameraden, ich denke, wir nehmen die nächste Patrouille auch noch mit und bilden dann zusammen ein ganz respektables Korps. Vorher aber bitte ich alle solche, die noch keine Gewehre haben, wenigstens eins der hier stehenden zu tragen. Wir dürfen keine Waffen zurücklassen, die vielleicht drüben notwendig gebraucht werden.« Damit griff er selber eins der Gewehre auf und hing sich eine Patrontasche um. Die übrigen waren rasch verteilt, und die kleine Kolonne rückte wenige Minuten später wieder vorwärts, in das innere Land hinein.

Fünfhundert Schritt mochte sie etwa gegangen sein, als ihnen das Quien vive der Vorposten entgegenschallte, aber eine Antwort war gar nicht nötig, denn von den neugeworbenen Soldaten riefen schon einige die Gegenüberstehenden bei Namen, und luden sie ein, zu ihnen zu kommen. Dem stärkeren Korps hätten sie doch keinen Widerstand leisten können, und der ganze Vorposten schloß sich nach kurzer Verhandlung dem Zuge an.

Als um zwei Uhr, in einem furchtbaren Sturm und Unwetter, das plötzlich losgebrochen, eine starke Kolonne, von einem der Generale selber geführt, die Außenposten in Caracas verstärken wollte, um gegen einen möglichen Überfall der Feinde gerüstet zu sein, fanden sie keinen Mann dort, nicht einmal auf Wache, und in das Hauptquartier mußte die Meldung geschickt werden, die ganze Patrouille sei desertiert und keine Spur mehr von ihr zu finden.


Etwa in derselben Stunde der Nacht, als so viele junge Leute, aus den besten Familien der Stadt, Caracas verließen und zu den Reconquistadoren übergingen, fuhr nach einer anderen Seite hin und die Richtung gegen La Guayra haltend, eine mit zwei starken Maultieren bespannte leichte Kalesche die Straße entlang. Als sie die Außenposten erreichte, wurde sie angerufen. Der Kutscher hielt, und der Offizier trat an den Wagen, um zu sehen, wer sich darin befände. Er erhielt nur ein einziges Wort zur Erwiderung und trat ehrerbietig grüßend vom Wagen zurück.

Drinnen in seinen Mantel eingewickelt, saß ein einzelner Herr, und als die Maultiere wieder anzogen, trieb der Kutscher die starken und ausgeruhten Tiere fast zu einem Karriere an, mit dem sie die glatte Straße dahinflogen. Das ging auch recht gut auf diesem Wege, der vortrefflich instand gehalten war und keine Gefahr bot. Anders wurde es aber, als sie nach etwas mehr als einer Stunde die Höhe überschritten hatten und nun wieder scharf zu Tal zogen. Der steile und schmale Weg wand sich hier an einem Abgrund hin, und das Gewitter, das sich über der Hauptstadt schon seit Mitternacht zusammengezogen hatte, schien sich in den Bergen oben gesammelt zu haben. Wie dann der Sturm durch das enge Tal daherbrauste, das sich nach Norden, dem Meer zu, öffnete, da gab ein mächtiger Donner das Signal zu dem beginnenden Wetter – Blitze zuckten, die den Abgrund links wie einen schwarzen Schlund erscheinen ließen, und ein Regen prasselte nieder, als ob er die Höhen in die Tiefen hinabspülen wollte.

Der Kutscher wandte sich um und fragte den Reisenden, ob er nicht lieber zurückfahren und das Tageslicht abwarten solle – es sei eine böse Nacht für den Weg, und die Bergwasser würden bald in Strömen herabstürzen. Der Reisende aber rief:

»Vorwärts, mein Bursche – wir kommen schon durch. Laß die Tiere nur an den gefährlichen Stellen langsam gehen.«

»Dann können wir den ganzen Hang hinunter Schritt fahren.« brummte der Kutscher, »sie sind alle gefährlich.«

»Du bekommst eine Unze Trinkgeld.«

»Caracho, dafür kann man schon einmal naß werden, und wenn Sie sich nicht im Wagen drinnen fürchten, ich komme schon im schlimmsten Fall herunter.«

Es wurde kein Wort weiter gesprochen; der Kutscher trieb die Tiere wieder mit der Peitsche an, und fort rollte das leichte Fuhrwerk den schmalen Weg entlang, der rechts auf der Seite den hohen, schroffen Felsen hatte, während links, durch kein Geländer und nur hier und da durch halb eingestürzte, niedere Mauern, von der Straße geschieden, der Abgrund gähnte.

Und immer ärger wurde der Sturm; es war, als ob sich die Elemente selbst verschworen hätten, den Flüchtigen, der dort mit bleichen Wangen, und fest in seinen Mantel gehüllt, im Wagen saß, nicht entkommen zu lassen. Eine Unze Trinkgeld! Das Wort hatte freilich gewirkt, und der Kutscher war entschlossen, selbst diesem Sturm Trotz zu bieten. Der Weg wurde indessen immer dunkler, es regnete nicht mehr, es strömte wie aus geöffneten Schleusen auf die Erde nieder. Selbst die Maultiere wurden störrisch, und der Kutscher mußte von seinem Bock heruntersteigen und sie eine Strecke lang am Zügel führen.

Es war eine rabenschwarze Nacht, – plötzlich zuckte ein Blitzstrahl, der die Berge grell erleuchtete und die Augen blendete – und dahinter wieder die schmetternden Donnerschläge, vor denen die sonst so ruhigen Maultiere scheuten und aufbäumten.

Langsam und Schritt für Schritt verfolgte das Fuhrwerk seinen Weg. Der Reisende im Innern des Wagens rührte und regte sich nicht – er zeigte weder Furcht noch Eile. Schlief er etwa in diesem Aufruhr der Elemente? Der Kutscher würde gestaunt haben, hätte er ihn im Wagen sitzen gesehen: ein kaltes, eisiges Lächeln lag um seine Lippen, denn sein Geist war anderswo, und er sah wohl kaum den Blitz, der seinen gefährlichen Pfad erhellte – hörte kaum den Donner, der über die Höhen prasselte; – vorwärts! Nur der eine Gedanke durchzuckte ihn, und erst, als der Wagen plötzlich hielt, fuhr er aus seinem Halbtraum empor und sah aus dem Schlag hinaus.

»Was gibt's?«

»Caracho!« fluchte der Kutscher, »seh'n Sie mal her. Bei Gott, da kommen wir nicht durch.«

Der Reisende lehnte sich rechts, nach dem Berghang zu, aus dem Wagen. Er konnte allerdings nichts im Weg erkennen, als eine weiße bewegliche Masse, hörte aber das Getöse eines Wasserfalls. – »Was ist das?«

Ein heller Blitz zuckte jetzt vom Himmel nieder. – Der Weg machte hier eine kleine Biegung nach rechts, wie in den Berg hinein: dort gerade entsprang eine starke Quelle, die aus dem Felsen brach und quer über den Weg hinüber sich den Abgrund hinabwarf. Oberwasser kam jetzt dazu, und wie ein Bergstrom mit furchtbarer Gewalt schoß es über den schmalen Pfad dahin und eilte gegen die nur wenig Fuß davon entfernte Tiefe, die schwarz wie die Nacht selber von unten herauf gähnte.

»Verdammt will ich sein, wenn wir mit heilen Knochen da hinüberkommen,« rief der Kutscher. »Die Maultiere wollen auch nicht, und wenn ihnen hier die Füße ausrutschen, geht die ganze Karre, wie ein Boot über einen Wasserfall, in das Loch da hinunter.«

»Vorwärts,« sagte aber der Mann im Wagen und lehnte sich auf seinen Sitz zurück, als ob er bei der ganzen Gefahr nicht im geringsten interessiert wäre. Der Kutscher schüttelte mit dem Kopf.

»Ist das ein Mensch,« brummte er leise vor sich hin, »vorwärts? – Caracho, ja – vorwärts: wenn wir nur nicht seitwärts abgingen.«

Er ließ die Tiere los und versuchte erst, ob er selber hindurchgehen oder wenigstens, wie weit er hineintreten könne. Das Wasser war nicht tief, es spritzte ihm wohl bis an die Kniee, ging ihm aber kaum an den Knöchel, »Wenn nur der Wagen nicht so verdammt leicht wäre, dann kämen wir vielleicht hinüber, breit ist's nicht.«

»Leg' Steine herein, dort liegen eine Menge, die das Wasser losgespült hat – rasch, die Zeit vergeht.«

Der Kutscher kratzte sich hinter den Ohren – Steine waren wohl da – er konnte sie mit dem Fuß fühlen – naß war er doch schon durch und durch – er schleppte also, was er an Steinen finden konnte, herbei und hob sie in den Wagen und vorn auf das Fußbrett, bis nichts mehr hineinging. Er hatte dabei gehofft, der ärgste Sturm sollte indessen aufhören, aber es schien fast, als ob er sich mit noch viel größerer Gewalt in dieser Ecke brach und an den steilen Felswänden herunterheulte.

»Bist du noch nicht fertig?«

»Nun denn in der heiligen Jungfrau Namen,« rief der Kutscher, der den ganzen Weg geflucht hatte, jetzt aber auf einmal an die Heiligen dachte, indem er selber auf den Bock stieg, um sein eigenes Gewicht hinzuzufügen. Vorsichtigerweise setzte er sich aber auf die äußerste rechte Seite, damit er, wenn die Sache schief ging, wenigstens hinunterspringen und sich selber in Sicherheit bringen konnte. Wagen und Tiere gehörten dem Manne, der da drinnen saß, und wenn der absolut nicht anders wollte – was lag ihm daran.

Jetzt trieb er die Tiere an, die zuerst zurückdrängten und den Wagen seitwärts, dem Abgrund zu schoben. – »Vorwärts, Kanaillen, seht ihr denn nicht?« Er hieb mit voller Wucht auf die scheuen Tiere ein – der Reisende im Innern rührte sich nicht – jetzt sprang das eine Maultier nach vorn, dann das andere, und im nächsten Augenblick kochte und quirlte die Flut unter den Rädern und warf ihre Spritzwasser bis in den Wagen hinein. Dieser wurde auch, trotz seines verstärkten Gewichts, mehrere Fuß auf die Seite gerissen, aber die gefährlichste Stelle war kaum zehn Schritt breit. Wie die stärksten Wasser den Wagen packten, hatten die Tiere vorn schon wieder harten, wasserfreien Boden unter sich und zogen ihn nach, und wenige Sekunden später lag der Strudel hinter ihnen.

»Na, an die Fahrt will ich denken,« knurrte der Kutscher, indem er wieder anhielt und vom Bock sprang, um den eingenommenen Balast auszuwerfen. »Das wäre beinahe schief gegangen, Sennor.« –

»Vorwärts!« war die einzige Antwort, und der Kutscher schüttelte mit dem Kopf. So ein Passagier war ihm noch nicht vorgekommen.

Das Gewitter schien jetzt nachzulassen; Blitze zuckten noch, aber der Donner kam, dumpf grollend, erst später hinterdrein. Es zog nach Osten hinüber, der Küstenkette folgend, und nur der Regen floß noch in einem soliden Schauer auf die übersättigte Erde herab. Die gefährlichen Stellen hatten sie zwar noch lange nicht alle passiert, aber es gab doch keine mehr wie die letzte; nur Vorsicht mußte der Kutscher gebrauchen, um in der Dunkelheit den Weg nicht zu verfehlen und in den Abgrund zu stürzen. Bei trockenem Wetter war die Chaussee leicht zu erkennen, denn sie sah dann, selbst in der Nacht, hell und weiß aus; jetzt aber hatte der Regen den sonst lichten Staub zu einem dunklen Lehmbrei zusammengeschmolzen, und der Kutscher blieb deshalb noch eine lange Strecke vorn am Kopfe seines Satteltieres und lenkte das Fuhrwerk Schritt für Schritt den Berg hinab.

Dadurch rückten sie allerdings nur langsam vorwärts. Der Reisende schien jedoch völlig befriedigt, wenn sich das Fuhrwerk nur bewegte, aber er schlief nicht, denn oft bog er sich aus dem Wagen heraus und sah nach, auf welchem Punkt sie sich eigentlich befänden.

Sie hatten jetzt den unteren Teil des Weges erreicht, das heißt die Stelle, wo er sich um den letzten Ausläufer des Gebirges herum und ein Stück an diesem hinab windet, und dann, mit der weiten, offenen See zur Linken und der wunderbaren Aussicht auf Stadt und Hafen von La Guayra, auf einer breiten, sanft sich abdachenden Bahn dem Ziel entgegen zu führen.

Im Osten dämmerte der Tag. Gerade vor ihnen hatte sich die düstere Wolkenmasse, welche die Nacht über das ganze Firmament umschleiert gehalten, etwas gehoben und zeigte darunter den wie mit Purpur gefärbten Saum des Horizonts. Rechts wurde die Aussicht durch den steil auftauchenden Hang der grünen Küstenberge begrenzt, links zeigte sich die bleigraue Färbung des weiten Karibischen Meeres, und wie ein dünner, duftiger Hauch lag ein bläulich weißer Nebel auf der Landschaft im Vordergrunde. Jetzt erglühte plötzlich und wie mit einem Schlag der Purpurstreifen zu blitzendem Golde, und zugleich zeigte sich der äußere Rand der Sonnenscheibe über dem Horizont, ein magisches Licht über die bewaldeten Berge gießend, während es die noch im Westen lagernden dichten Wolkenschichten fast schwarz färbte.

Und der Duft, der sich von dem feuchten Lande aus noch eine kurze Strecke über das Meer hinaus gebreitet hatte, zerfloß. Die Sonne war kaum mit ihrer vollen Scheibe am Himmel sichtbar, da traten, wie bei einem Nebelbild, wenn die Schatten schwinden, die einzelnen Teile der Landschaft rasch hervor, und wahrhaft zauberisch schön entfaltete sich im Nu das ganze reizende Panorama der über den Hügelhang zerstreuten Stadt mit ihren hohen Palmenwipfeln und dunklen Baumschatten, und auf der See sah man kleine weißblitzende Segel, während im Hafen die dunklen Körper der Dampfer mit ihren nur leise rauchenden Schornsteinen lagen.

Aber der Reisende im Wagen hatte für das alles nur einen einzigen Blick. Wie sich der Nebel verzog, bog er den Kopf zum Schlag hinaus und suchte, wie es schien, einen bestimmten Gegenstand im Hafen, dann lehnte er sich wieder zurück und bekümmerte sich nicht weiter um die ganze Fahrt. Der Kutscher trieb jetzt seine Pferde wieder zu rascherem Laufe an; der Weg war wohl schlammig, aber es ging doch immer scharf bergab, und die Maultiere mochten selber danach verlangen, bald in einen Stall zu kommen und Futter zu erhalten.

Jetzt hatte das Fuhrwerk das untere Land erreicht und damit auch sandig trockenen Boden, dann rasselten die Räder über das Pflaster der Stadt.

»Wo soll ich vorfahren?« fragte der Kutscher, indem er sich zurückbog, den Passagier.

»Ich werde es dir sagen, wenn du halten sollst« – und weiter rollte der Wagen bis zum Steuergebäude.

»Halt!« –

Der Passagier stieg auf der dem Meer zugewandten Seite aus. »Hier ist dein versprochenes Trinkgeld, – hier auf der Adresse steht das Haus, wo du Pferd und Wagen ablieferst.«

»Ich kann nicht lesen, Sennor.«

»Frage jemand, der lesen kann.«

Der Reisende wandte sich bei den Worten um und schritt auf das kleine Werft hinaus, wo allein Boote anlegen können. Etwa zwanzig Schritt weiter draußen lag das Boot eines Kriegsschiffes vor Anker, und die Leute warteten an ihren Rudern. Der Fremde gab ihnen ein Zeichen, und Leben kam plötzlich in die bis dahin schläfrige Mannschaft. Der kleine Anker wurde gehoben, und das Boot glitt rasch heran.

»Sind meine Sachen an Bord?«

»Jawohl, Exzellenz; schon vor Mitternacht gekommen und ehe das Wetter aufkam.«

Der Bug des Bootes glitt heran, aber es war noch etwas unruhige See, und das schwankende Fahrzeug mußte mit großer Vorsicht gehandhabt werden, daß es nicht gegen das Werft stieß und zerschellte. Der Passagier paßte also seinen Moment ab. Wie der Bug des unruhigen Bootes wieder heraufkam, sprang er von der oberen Stufe der Treppe hinein; der Bootsmann fing ihn auf und unterstützte ihn.

»An Bord!« rief er, indem er auch nicht einen einzigen Blick auf das Land zurückwarf. Der Bug flog herum, die Ruder setzten ein, und bald glitt das schlanke, kleine Fahrzeug dem größten der Dampfer, der dort draußen lag, dem »Bolivar« entgegen. Bald verkündete frisch aufsteigender Rauch, daß die Leute an den Feuern tätig waren. Zu gleicher Zeit wurde die Ankerpumpe in Bewegung gesetzt. – Der Anker kam herauf, und ohne einen Gruß zu feuern, nur die Flagge aufgezogen, verließ der Kriegsdampfer die Bai und glitt in See hinaus – nach Nordwesten zu.

So verließ »Falcon der Großmütige«, wie er von seinen republikanischen Hofschranzen genannt wurde, allein und nicht einmal von einem einzigen Freund, ja, selbst von keinem Diener begleitet, das Land, das er jahrelang beherrscht hatte, bis es in Verzweiflung zu den Waffen griff und den Tyrannen in die See hinausjagte.



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