Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Nach dem Sieg.

Im Hause der Sennora Corona hatte die Zeit, in der wir es nicht betreten, eine große Veränderung, und zwar nicht zum Besseren, bewirkt. Das sonst so lebendige Haus lag still und verödet, denn Isabel – vielleicht das schönste Mädchen in Caracas – war plötzlich erkrankt, und Dr. Ignacio kam fast nicht von ihrem Bette fort. Niemand erfuhr aber genau, woran sie leide. Ein Herzfehler, hatte die Sennora gesagt – ein Schlaganfall, äußerte sich der Doktor gegen einige Personen, und Juan erzählte den Leuten, die ihn danach fragten, sie sei gefallen und habe sich den Kopf schwer verletzt. Alle diese widersprechenden Nachrichten aber brachten die Damen ihrer früheren Bekanntschaft – denn in der allerletzten Zeit hatte sie sehr wenig gesellschaftlichen Umgang gehabt – fast zur Verzweiflung, weil man eben so gar nichts Sicheres erfahren konnte, und es doch so sehr gern wissen wollte. – Besuche wurden schon nicht mehr vorgelassen.

Dr. Ignacio schien auch anfangs die Sache außerordentlich leicht zu nehmen; ein Unwohlsein, das sich bald wieder heben würde, – als aber Tag für Tag verging und noch keine Besserung in dem Befinden der Kranken eintrat, und der Doktor immer selber in die deutsche Apotheke ging, um seine Rezepte bereiten zu lassen, fingen die Nachbarn an zu ahnen, daß der Fall nicht ohne Bedenken wäre, und als der Tod endlich erfolgte, lauteten die Berichte insofern einstimmig, als der Doktor sowie Juan versicherten, die Sennorita sei an einem Herzschlag gestorben. Die alte Sennora selber bekam freilich niemand zu sehen; sie ließ niemand zu sich und betrat, von dem Augenblick an, ebensowenig mehr die Straße.

Und welche Veränderung war mit der alten Frau selber vorgegangen. Sonst war sie etwas korpulent, das seidene Kleid, das sie gewöhnlich auch im Hause trug, saß straff und adrett; ihr Haar war vom frühen Morgen an geordnet, ihr Gang fest und bestimmt. Den Kopf ein wenig zurück-, die Oberlippe mit dem kleinen Schnurrbart etwas aufgeworfen, ging sie in ihrem Hause umher, als ob sie ein ganzes Reich zu regieren hätte. Wenn sie sprach, geschah es stets in einem bestimmten, fast befehlenden Ton, und ihre Meinung äußerte sie, als ob ein Widersprechen selbst undenkbar sei. Sie hielt auch dabei viel auf Sauberkeit, und ihr ganzes Haus war ein Muster von fast peinlicher Ordnung und Reinlichkeit – und jetzt?

Hohlwangig, mit stieren, glanzlosen Augen ging sie umher, die schon ergrauenden Haare wirr und ungekämmt um den Kopf hängend, das alte graue Seidenkleid zerdrückt und schmutzig und ihre Stimme fast zu einem Flüstern herabgesunken. So schlich sie durch das Haus, in dem sie sonst geherrscht hatte, und Juan selber ging ihr scheu aus dem Weg, wo er sie nahen sah, so unheimlich, so widernatürlich kam sie ihm vor – ja, er fürchtete sich fast vor ihr.

Unablässig fragte sie aber nach dem einzelnen Fortschritten der Revolution, und was aus Falcon und seiner Regierung geworden sei. Falcon war geflohen, das hatte sie gleich am nächsten Morgen erfahren, aber in der Sorge um das kranke Kind fast gar nicht beachtet. Wohin? Niemand wußte es – jedenfalls nach seiner Insel, die er angekauft hatte, und von der er niemals nach Venezuela zurückkehren würde – folgte ihm doch der Fluch des ganzen Landes. – Aber die Blauen rückten näher und näher an die Stadt – sie schickte zu Bruzual, um Genaueres zu hören, bekam aber keine Antwort – jetzt kamen die Gerüchte, daß das Heer der Regierung geschlagen und auf der Flucht sei, und starr und teilnahmslos saß sie da und hörte es an, denn neben ihr lag ihr totes Kind. Und wenn die Welt in Trümmern gegangen wäre, es hätte ihr keinen Seufzer abgelockt.

Isabel war tot – bleich und kalt, mit jungfräulichen Myrten bekränzt, lag sie in ihrem Sarg, die Züge starr, aber doch noch engelschön selbst im Tode. Auf den marmorbleichen Wangen ruhten die langen, schwarzen Wimpern, die sonst ihre hellen Augensterne beschatteten – die sanft geschwellten Lippen hatte selbst der Tod nicht entstellen können, und die zarten, fast durchsichtigen Finger waren auf der Brust gefaltet. Sonst aber umhüllte ein großes, weißes Tuch ihre Gestalt, von den Füßen bis zum Kinn hinauf, und nur ein schmales silbernes Kruzifix lag ihr oben auf der Brust, daß es fast so aussah, als ob sie es mit den Fingern hielte.

Sennora Corona stand daneben und schien in den wenigen Tagen um viele, viele Jahre älter geworden zu sein – hinter dem Bette waren zwei fremde Männer beschäftigt, den Sargdeckel zurechtzumachen und ihn dann aufzulegen.

Perdido ging mit ruhigen, geräuschlosen Schritten den Gang entlang, und als er den Hof und die Veranda erreichte, wo er sich unmittelbar vor dieser Gruppe befand, blieb er stehen und betrachtete sie mit ruhigen Blicken. Die Sennora hatte ihm gerade den Rücken zugekehrt und sein Nahen nicht gehört; erst, als sie bemerkte, daß die Leute den Kopf dorthin wandten, drehte sie sich um, und den fremden, verwahrlosten Menschen bemerkend, und gerade nicht in der Stimmung höflich zu sein, sagte sie finster:

»Was wollt Ihr hier und woher kommt Ihr? Wißt Ihr nicht, daß Ihr kein fremdes Haus uneingelassen betreten dürft?«

Der Alte sah die Frau starr, aber vollkommen ruhig an. Jetzt schweifte sein Blick von ihr ab zu der Leiche, an der er haftete, und mit völlig leidenschaftsloser Stimme und ohne den Vorwurf auch nur zu beachten, ja, vielleicht ohne ihn zu hören oder zu verstehen, sagte er:

»Arme Manuela, wie bleich sie aussieht. Aber weshalb hast du es mich nicht wissen lassen, Teodora? Ich mußte so lange umhersuchen, bis ich euch gefunden. Jetzt laß uns nur gehen: ich habe das Grab schon gegraben, und wir können sie gleich hineinlegen.«

Die Sennora stand vor ihm und starrte ihn an, die Augen traten ihr aus den Höhlen heraus, ihr Antlitz sah fast noch leichenhafter aus als das des toten Kindes; ihre ganze Gestalt zitterte, und sie griff nach der Lehne des neben ihr stehenden Schaukelstuhls, um sich daran zu halten.

Perdido achtete gar nicht auf sie; seine Lanze noch immer in der Hand, trat er der Leiche näher und sah ihr starr ins Gesicht, dann schüttelte er langsam den Kopf und strich sich mit der rechten Hand über Stirn und Augen.

»Aber das ist sie ja gar nicht,« sagte er endlich; »ich habe dich nach Manuela gefragt, Teodora; wo ist das Kind?«

Die Frau hob den einen Arm empor, aber es war nicht, als ob eigene Willenskraft sie zu der Bewegung veranlasse, als wäre der Arm von einer unsichtbaren Gewalt gehoben, so streckte sie ihn aus und deutete auf die Tote.

»Nach dem Kind frag' ich. – Wie hab' ich mich die langen Jahre danach gesehnt, es wieder einmal auf meinem Knie zu schaukeln und den dunklen Lockenkopf an meine Brust zu lehnen – und immer vergebens, bis mir der kleine Vogel, der hinter unserem Garten sein Lied singt, erzählte, daß sie gestorben wäre, und ich sie dort im Garten begraben solle. Dann hab' ich das kleine Grab für sie ausgeworfen – zuerst neben dem Orangenbaum, aber das gefiel mir nicht, weil es die Sonne nicht erreichen konnte, dann ganz im Freien, aber dort war es im Sommer zu heiß für sie, und zuletzt unter dem einzelnen Rosenbusch, den ich eingepflanzt habe, und wo sie ruhen soll, bis ich mich selber zu ihr lege.«

Die Dame hielt noch immer die Arme ausgestreckt, sie stand wie in Stein gehauen, und nur ihr Auge folgte den Bewegungen des Alten. Auch die mit dem Sargdeckel beschäftigten Männer standen lautlos bei der Szene, denn daß der alte Mann ein Recht habe hier zu sein, sahen sie an dem sonderbaren Benehmen der sonst so strengen Sennora. Wer aber war es, und wo kam er her?

Der Alte war indessen bis zu dem Kopf der Toten geschritten. Leise und behutsam streckte er jetzt die rechte Hand aus und ergriff mit zwei Fingern den Zipfel des Tuches, das bis an ihr Kinn reichte. Er hob es etwas auf und betrachtete die Leiche still und schweigend, bis sein Blick auf eine kleine, kaum zollbreite und ungeheilte Wunde fiel, die sie am Hals trug. Wieder schüttelte er den Kopf und legte den einen Finger in die Wunde, als ob er sich selber davon überzeugen wolle.

»Hast du ihr weh getan, Teodora?« fragte er.

Die Frau wollte antworten, sie öffnete wenigstens die Lippen, aber kein Laut kam hervor, und mit einem dumpfen Stöhnen sank sie ohnmächtig zur Erde nieder.

Der Wahnsinnige, ohne darauf zu achten, legte das Tuch wieder auf die Leiche, drehte sich ab und schritt dann langsam die Veranda entlang, um das Haus wieder zu verlassen.


Noch während der Kampf in den Straßen von Caracas wütete, ja, wie es nur bekannt geworden war, daß Mig. Ant. Rojas von der Falconschen Partei gewonnen und deshalb von allen seinen Truppen verlassen sei, zweifelte niemand im ganzen Land mehr daran, welcher Seite der Sieg bleiben müsse. Monagas, mit einer Armee von fünftausend Mann und der ganzen Bevölkerung hinter sich, konnte nicht unterliegen, und es mußte sich nur noch um Tage handeln, in denen die Hauptstadt von der jetzigen Regierung und ihrer Polizei gesäubert wurde. Im Land aber befanden sich eine Menge von Männern, deren Familien zum großen Teil in Caracas wohnten, und die so lange getrennt von ihnen gelebt hatten. Andere wieder, welche in Geschäftsverbindung mit der Hauptstadt standen, der sie sich als anerkannte Unionisten nicht persönlich nahen durften, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, von Falconschen Spionen verraten und eingekerkert zu werden, drängte es ebenso, die unterbrochenen Verbindungen wieder anzuknüpfen, und so kam es denn, daß eine große Zahl von Leuten dem siegreich vorrückenden Heer der Blauen fast auf den Fersen folgte und nur die Vorsicht vielleicht gebrauchte, draußen in den vor der Stadt liegenden Dörfern die bestimmte Siegesnachricht abzuwarten.

Kaum aber ertönten in der Stadt die feierlichen Klänge der Kathedrale, und einzelne Reiter flogen als Boten nach allen Richtungen hinaus, als sich die Straßen belebten, und Hunderte mit Jubel im Herzen der arg mißhandelten Hauptstadt des Landes entgegeneilten.

Wohl boten die Straßen noch einen traurigen und schmerzvollen Anblick, denn viele Unglückliche lagen dort und flehten um Hilfe, um einen Trunk Wasser, aber die Männer und Frauen aus den Dörfern und Vorstädten eilten herbei und linderten die Not der Armen, wo sie nur irgend konnten. Auch war der Verlust an Menschenleben nicht gering. Mehr als fünfhundert Tote und Verwundete lagen allein in den Straßen von Caracas, denn beide Parteien hatten sowohl mit großer Erbitterung als Tapferkeit gefochten, und nur zu bewundern war die Mäßigung der Sieger nach beendigtem Kampfe. Nicht eine einzige Grausamkeit fiel vor; der Haß der Reconquistadoren gegen ihren Unterdrücker, der fast das ganze Land unter Waffen gerufen hatte, schien mit der Niederlage und Vernichtung desselben total verschwunden, und die Verwundeten wurden in den Häusern, in die man sie zunächst hineingeschafft hatte, mit der nämlichen Sorgfalt und Aufopferung gepflegt, ob sie nun ein gelbes oder blaues Band als Abzeichen trugen.

Welche furchtbaren Grausamkeiten waren in der letzten Revolution, als sich Godos und Föderierte entgegenstanden, verübt, wie viele Hunderte arme gefangen Soldaten auf die scheußlichste Weise niedergehauen, erschossen oder erdrosselt worden, denn beide Parteien wüteten damals wie Bestien, nicht wie menschliche Wesen gegeneinander. Von dem allen fiel jetzt nichts vor, denn die Revolution hatte nur einzig und allein der Falconschen Wirtschaft ein Ende machen wollen, und von dem Moment an, wo sie das erreicht hatte, betrachtete sie auch den Kampf als abgeschlossen. Selbst der Negergeneral Colina, der verhaßteste vielleicht von allen im ganzen Lande, wurde geschont, und man bekümmerte sich nicht weiter um die Gefangenen, nachdem die Regierungstruppen entwaffnet und entlassen waren.

In Chacao, wo eigentlich der Kampf am ärgsten gewütet hatte, waren äußerlich wenigstens die Spuren schon vollkommen wieder verwischt worden. Die Toten hatte man hinaus auf das Feld gebracht und gemeinsam beerdigt, die Verwundeten in die Häuser geschafft, um sie dort zu pflegen, bis sie von ihren Verwandten abgeholt werden oder selber den Platz verlassen konnten, und ebenso war durch die späteren schweren Regengüsse das Blut vollständig aus der Hauptstraße hinweggewaschen worden. Im Innern der Häuser sah es aber freilich desto trauriger aus, und jedes der kleinen Gebäude, aus dem die Bewohner nicht vorher geflohen waren und es dann verschlossen hatten, schien in ein Lazarett verwandelt zu sein.

Allerdings fehlte es an tausend nötigen Dingen, an weichen Lagerstätten, an Verbandzeug, ja, oft selbst an den notwendigsten Lebensbedürfnissen für die vielen unglücklichen Gäste; aber man suchte sich doch zu helfen, so gut es gehen wollte, und von den benachbarten Ortschaften, wie selbst aus Caracas heraus, kam bald Unterstützung.

Zwei Reiter, der eine auf einem starken hochbeinigen Maultier, der andere auf einem kleinen aber kräftigen Esel, der wacker hinter dem Maultier hergaloppierte, kamen den schmalen Weg herangeritten, der von Westen nach Chacao herüberführte, und erst in der Hauptstraße zügelte der erstere – Sennor Castilia von der Lagune – sein Tier, und seinen Diener erwartend, der noch ein Stück zurückgeblieben war, sagte er:

»Wo ist das Haus, Felipe? Rechts oder links?«

»Links hinein, Sennor, nur noch eine kleine Strecke weit sobald wir um die Biegung kommen, haben wir es vor uns.«

Die beiden verfolgten noch etwa zweihundert Schritt ihren Weg, bis Felipe voransprengte, rechts einbog und vor einem kleinen aber freundlichen Hause absprang, sein Tier stehen ließ und zu dem Maultier des Sennors trat. Das nahm er am Zügel, bis der Herr abgestiegen war, hielt dann den Zügel mit dem linken Armstumpf, führte mit der rechten Hand seinen eigenen Esel und leitete beide Tiere an der Hecke hinauf bis zu einem jungen Orangenbaum, wo er sie mit großer Geschicklichkeit und nur mit der einen Hand befestigte. Jetzt schritt er seinem Begleiter voran zu dem Hause, an dessen Tür er pochte.

Die Frau öffnete. »Ave Maria, Felipe!« rief sie, als sie ihren Neffen sah. »Du kommst wie gerufen und findest uns hier in großem Herzeleid, das ganze Haus obendrein ein Lazarett, – herein, mein Junge – aber wer ist der Herr?«

»Ist Tadeo zu Hause, Tante?« fragte Felipe, ohne vorher die Frage zu beantworten oder der Aufforderung Folge zu leisten.

»Ja, Felipe,« lautete die Antwort, »aber so todmüde war er, daß er seit etwa drei Stunden draußen auf der Veranda liegt und schläft. Der arme Perdido ist uns in dem Kriegslärm davon gelaufen, und den hat er gesucht. Bis an die Stadt ging er, als sie noch drinnen schossen, und hat sich überall unter den Toten und Verwundeten nach ihm umgesehen. Dann ist er zurückgekommen, weil er mich nicht so lange allein lassen wollte, aber er konnte nicht mehr auf den Füßen stehen. Seit sechsunddreißig Stunden hatte er ja auch nicht geschlafen!

»Der Mann, den Ihr Perdido nennt, ist entflohen?« rief jetzt Castilia, der in peinlicher Spannung dem Bericht gelauscht hatte, »wohin?«

»Ja, die heilige Jungfrau weiß es,« seufzte die Frau; »als die Gelben geschlagen waren und die Blauen hier mit Schreien und Schießen vorbeistürmten, da wurde er so unruhig, daß ihn der Tadeo in sein Zimmer schloß, aber wahrscheinlich hat er von da aus um Hilfe gerufen, und ob sie nun glaubten, daß wir ihn gefangen hielten, denn sie konnten ja nicht wissen, daß der arme Mensch verrückt sei, genug, die Soldaten stürmten zu uns ins Haus, brachen seine Tür ein und ließen ihn heraus. – Wir konnten es nicht hindern, oder sie hätten uns selber ein Leid angetan.«

»Und dann?«

»Ja, da draußen griff er eine Lanze auf, die dort am Boden lag – Lanzen und Gewehre gab es ja überall genug – und stürmte mit den Blauen hinter den Gelben her. Der arme, alte Mann, wer weiß, wo er jetzt in seinem Blute liegt!«

»Und können wir Tadeo nicht sprechen?« fragte Castilia bewegt.

»Er hat erst eine kleine Weile geschlafen,« sagte die Frau zögernd.

»Laß mich nur zu ihm, Tante,« sagte aber Felipe, indem er ohne weiteres das Haus betrat, »es ist gerade wegen des Perdido, daß wir hergekommen sind, und unglücklich genug, daß wir ihn nicht treffen. Aber jetzt kann's nichts helfen; in dieser Zeit darf man auch keine Minute versäumen.«

Felipe wie Castilia betraten das Haus, und ein trauriger Anblick bot sich ihnen her. Neun verwundete Menschen lagen auf dem Boden ausgestreckt und nicht einmal alle auf Matten. Für die meisten hatte die Frau nasses Laub und junge Zweige zusammentragen müssen, um ihnen ein dürftiges Lager zu bereiten, und das einzige Labsal, was sie ihnen bieten konnte, war ein Trunk Wasser, mit einer Kalabasse aus einem irdenen Krug geschöpft. – Und doch hatte sie ihr möglichstes getan und alle Kräfte aufgeboten, um nur die Wunden zu verbinden und dazu auch Unterstützung bei ein paar alten Nachbarinnen gefunden.

Die Männer schritten hier hindurch. Wenn ihnen auch das Herz wehe tat, helfen konnten sie doch nicht allen, wenigstens nicht jetzt, und erreichten gleich darauf die Veranda, wo Tadeo auf den bloßen Steinen, ohne Kopfkissen, ohne Matte, lang ausgestreckt auf dem Rücken lag und wie ein Toter schlief. Felipe machte aber nicht die geringsten Umstände mit ihm, sondern faßte ihn an der Schulter und schüttelte ihn so lange, bis er ihn munter hatte. Tadeo richtete sich endlich mit einem gemurmelten Caracho halb in die Höhe und blickte erstaunt um sich, und der erste, auf den sein Blick traf, war Castilia, den er nicht gleich wieder erkannte. Was wollte der fremde Mann von ihm, und weshalb ließ er ihn nicht schlafen? Er war doch so müde.

»Tadeo,« sagte der Einarmige, »hier der Herr ist Sennor Castilia von der Lagune; er möchte dich um einiges aus Bolivar fragen. Gib ihm getreue Antwort, es soll dein Schaden nicht sein; er glaubt, daß der Perdido ein naher Verwandter von ihm ist, und kam hierher um ihn aufzusuchen. Unglücklicherweise ist Perdido fort, aber wir finden ihn gewiß in der Stadt wieder. Komm, steh auf, Tadeo, der Herr wird dir auch Geld geben, daß du, während du mit uns gehst, deinen Kranken hier im Hause Pflege verschaffen kannst und daß ihr selber was zu leben habt.«

»Purisima,« rief Tadeo seufzend, »nicht einmal für Geld ist hier in Chacao etwas zu bekommen.«

»Dann kaufen wir es in der Stadt und schicken es mit einem Boten hinaus. Ich bin ja dort gut genug bekannt – komm, Onkel! Spring in die Höhe und raff' dich ein bißchen zusammen. Wenn alles so ist, wie der Herr hier glaubt, so bist du die Sorge um den Perdido los.«

»Und Ihr dürft Euch noch versichert halten, Freund,« fügte Castilia hinzu, »daß ich Euch das, was Ihr an dem Unglücklichen getan habt, lohnen werde, wie es in meinen Kräften steht. Ich bin reich und will Euch gern alles vergüten, was Ihr die Zeit über ertragen habt, soweit das mit Geld und gutem Willen möglich ist.«

Tadeo war aufgestanden, aber ein düsterer Ausdruck lag auf seinen Zügen, und er sagte bitter:

»Mir das vergüten, was ich ausgestanden habe, und mit Geld? Kein Mensch wäre dazu imstande und wenn er alles Geld besäße, was im amerikanischen Boden ruht. Aber nicht Ihr seid daran schuld,« setzte er seufzend hinzu, »nicht der arme Perdido, und was ich getan habe, ich tat es gern für ihn – aber ein Teufel von einem Weib, ein Scheusal, wie Gottes Erde kaum ein zweites trägt.«

»Die Sennora Corona?« fragte Felipe.

»Caracho,« murmelte Tadeo zwischen den zusammengebissenen Zähnen, »nicht allein, daß sie mich glauben ließ ein Mörder gewesen zu sein, wo ich es nicht war, und mir mein ganzes Leben durch ihre Lügen vergiftete, nein, mit ihrem Gift wollte sie mich noch zum wirklichen Mörder machen, zum Mörder an dem unglücklichen alten Mann.«

»Großer, allmächtiger Gott!« rief Castilia entsetzt.

»Kommt,« sagte Tadeo, sich emporraffend, »ich habe genug geschlafen, und du hast recht, Felipe: von Caracas aus sind wir eher imstande, den Unglücklichen hier einige Hilfe zu schicken, während wir nach dem Verlorenen suchen. Wohl wäre ihm, wenn wir ihn unter den Leichen fänden, denn er hat Schweres genug sein Leben lang ertragen, und ich fürchte jetzt fast, daß auch darin dieses Weib die Hand im Spiele hatte. Sie kennen am Orinoco ein Gift, das – zu wenig genommen, einen Menschen wahnsinnig macht, während etwas mehr ihn tötet.«

»Es wäre zu furchtbar!« rief Castilia aus; »aber kennt Ihr den Vornamen des Unglücklichen??«

»Soll ich ihn nicht kennen, und bin über zwanzig Jahre in seinem Hause gewesen! Er wurde dort nie anders als Don Carlos genannt.«

»Und seine Frau hieß als Mädchen?«

»Teodora Corona.«

»Er ist es – bei den Leiden Christi – er ist es!« lief Castilia erschüttert, indem er sein Antlitz in den Händen barg, – »daß ich nie eine Kunde von ihm erhielt und doch so nah dem Orte wohnte, wo er litt und – darbte, während ich im Überfluß schwelgte. Perdido nannte sich der Ärmste, o, er hatte recht, er hatte recht, er mußte sich für verloren halten, da sich sein eigener Bruder nicht um ihn kümmerte.«

»Sein Bruder?« rief Tadeo erstaunt aus, und Felipe nickte ihm schweigend zu.

»Und hat er nie nach mir gefragt?« fuhr Castilia wieder empor, »nie nach mir verlangt? Er kennt ja doch hier die Gegend und wußte, wo seine Heimat lag.«

Tadeo schüttelte mit dem Kopf. »Er wußte nie, wo er sich befand, und glaubte sich noch immer am Orinoco – aber kommt – das alles erzähle ich Euch unterwegs, Sennor. Jenes Geheimnis, wofür das teuflische Weib meine Zunge zu binden wußte – existiert nicht mehr und damit, daß sie mich selber zum Mörder machen wollte, ist auch das letzte Mitleid für sie aus meinem Herzen geschwunden. Kommt – unterwegs sollt Ihr alles erfahren, was mich – was sie, was ihn betrifft.«

»Und ihre Tochter lebt?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte der Indianer – »ein junges Mädchen hat sie im Hause bei sich – sie war krank, als ich zuletzt die Sennora sah, aber sie sagte mir, es sei nur eine Pflegetochter und Manuela gestorben. Sie wird auch anders genannt, aber das Weib ist voll Lug und Trug und Schlechtigkeit – ich glaube, daß es ihre wirkliche Tochter ist. Doch kommt, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, denn lebt Perdido noch, so weiß man nicht, wohin er dann in seinem Irrsinn wandert.«

Felipe holte jetzt seinen Esel in die Umzäunung, sattelte ihn dort ab, nahm den Zaum herunter und ließ ihn laufen. Er wollte in der Stadt nicht damit belästigt sein, war ja doch auch die Gefahr vorbei, daß ihn die »Gelben« holen konnten. Dann nahm er Castilias Maultier am Zügel, da Castilia selber mit Tadeo zu Fuß gehen wollte, und unterwegs nun erzählte der Indianer dem aufmerksam zuhorchenden alten Herrn die ganze traurige Geschichte jener Zeit, von der Castilia selber ja auch manches leider schon erfahren hatte. Sein Bruder und seine Schwägerin hatten in Bolivar uneinig gelebt, und Don Carlos hielt seine Frau in vielleicht nicht unbegründetem Verdacht, ihm untreu zu sein. – Bittere Vorwürfe folgten, dann plötzlich erkrankte er, und mit dem Mißtrauen gegen seine Frau wollte er sich von ihr trennen – es war zu spät, seine Krankheit griff mehr um sich, als die Eheleute noch nicht geschieden waren, und die Frau beanspruchte das Recht, für ihren Mann zu sorgen. Man sagte, daß einer der Richter in Bolivar sie sehr protegiert hätte, und er – Tadeo bekam den Auftrag, den Kranken zu pflegen. Tadeo war damals noch in jüngeren Jahren und trank gern – im Trunk einst stieß er mit dem Messer nach seinem Bruder, und wie ihm Sennora Castilia dann sagte, hätte er ihn erstochen, aber sie allein wüßte um das Geheimnis, er sollte seiner Strafe entgehen, wenn er ihr von da an treu dienen wolle. Mit einem Wort, durch ihr Mitwissen an dem Verbrechen des Mordes hielt sie ihn in ihrer Gewalt und machte ihn zu ihrem Sklaven, bis sie von Bolivar fort nach dem Norden zog.

Carlos Castilia lebte weiter, aber in harmlosem Wahnsinn, und da die Sennora ihm, dem Tadeo, eine kleine Summe zurückgelassen hatte, mit der er bei seiner gewöhnlichen Arbeit recht gut leben konnte, so schien für ihn und den Alten hinreichend gesorgt. Tadeo aber ließ die Angst, daß der, wie er glaubte, von ihm verübte Mord doch noch verraten werden könne, nicht ruhen. Er hatte ein Mädchen aus der Provinz Caracas geheiratet, und da sich diese in ihre Heimat zurücksehnte, zog er mit ihr in ihren Geburtsort. Dann kam die Erzählung, wie er die Sennora zufällig wieder in Caracas gesehen hatte, wo sie aber unter ihrem Mädchennamen lebte; wie er sie zuletzt, durch dringende Not gezwungen, aufgesucht und von ihr Hilfe und – das Gift erhalten habe. Dann kam alles andere bis auf den Augenblick, wo er die furchtbare Wirkung der angeblichen Medizin an den beiden Soldaten erlebte und Perdido von ihm fort, in den Kampf hinaus geflohen sei, während er selber gleich darauf dem lange von ihm selbst ermordet geglaubten Bruder wiederfand.

Castilia schritt schweigend nebenher und unterbrach ihn mit keinem Wort. Jene unglückliche Ehe hatte damals den Sohn mit den Eltern, die ihre Einwilligung nicht dazu geben wollten, entzweit; Carlos aber, von der Schönheit seiner Geliebten geblendet, achtete auf keine Vorstellungen und ging mit ihr nach Bolivar, von wo aus er nicht einmal wieder nach Hause schrieb. Nur durch Freunde erhielten seine Verwandten dann und wann, aber auch natürlich ganz unvollständige Nachrichten, und als Antonio den Bruder später selber aufsuchen wollte, war die Familie verschollen, und kein Mensch wußte ihm anzugeben, wohin sie sich gewandt hatte.

Daß in Caracas eine Sennora Corona und zwar in ziemlich auffallender Weise lebte, hatte er wohl oft gehört, nie aber eine Ahnung gehabt, daß es dieselbe sei, die sein Bruder in der Provinz Cumana kennen gelernt und geheiratet hatte.

Als sie endlich die Stadt erreichten, besorgten sie rasch die nötigen Einkäufe für Chacao. Felipe, der hier überall bekannt war, hatte auch bald einen zuverlässigen Mann aufgetrieben, der diese an Ort und Stelle schaffte, und nun vor allen Dingen suchten sie Gonzales' Haus auf, um Don Pedro einesteils zu veranlassen, mit ihnen zu gehen, wie auch vielleicht dort Nachricht von Eloi zu hören, und wie es dem Sohne gehe. Wenn irgend wohin, hatte er sich jedenfalls an Gonzales' Haus gewandt, und große Sorge um den Sohn erfüllte die Brust des Vaters, denn zu viele Opfer waren in dieser blutigen Schlacht gefallen, als daß er hoffen durfte, diesen gerade ganz unverletzt zu finden.

An der Schwelle schon begegnete ihm José, und wie er nur in dessen Antlitz sah, wurde ihm die Gewißheit, daß er nicht umsonst gefürchtet habe.

»Eloi!« rief er mit zitternder Stimme, Josés Arm ergreifend.

»Hat eine ganze Menge Wunden,« antwortete lächelnd José, »und liegt hier im Hause, aber außer jeder Gefahr und in guter Pflege. Sorgen Sie sich nicht um ihn, er hat sich wacker geschlagen.«

»Mein armer Junge.«

»Andere sind schwerer betroffen,« seufzte José, »der junge Hierra ist geblieben und mancher wackere Mann mit ihm, aber wir haben der Natternbrut doch den Kopf zertreten.«

»Kommen Sie, Sie sollen sich selber überzeugen. Er ist in besten Händen.«

In einem kleinen freundlichen Zimmer des Hauses, schattig und kühl, von jeder nur erdenklichen Bequemlichkeit, von jedem Komfort umgeben, lag Eloi. Der Arzt war gerade mit dem letzten Verband fertig, und an seinem Bett saß Josés Mutter und Schwester, die eine, um die Pflege zu übernehmen, und Beatriz gerade beschäftigt, ihm den zuerst umgelegten Verband um die Stirn wieder mit frischem Wasser zu kühlen. Welch ein Unterschied gegen die Unglücklichen, die draußen in Chacao oder selbst in den Vorstädten in dürftige Hütten gebracht und kaum nur unter Dach und Fach geschafft waren, um in den nassen, blutigen Kleidern mit verstümmelten und zerfetzten Gliedern ihren Wunden sowohl wie einer schlechten Behandlung Trotz zu bieten.

Aber nur wie ein vorübergehender Gedanke fiel dieser Vergleich dem alten Vater ein, als er das freundliche Gemach betrat; der nächste Augenblick schon gehörte allein der Sorge um den Sohn. Eloi streckte ihm lächelnd den rechten unverwundeten Arm entgegen.

»Keine Angst, Vater,« rief er ihm zu, »ich bin in guten, lieben Händen hier, und die paar Kratzer, die ich bekommen habe, werden bald heilen. Keine von allen Wunden ist gefährlich.«

»Und hast du so viel bekommen, Eloi?«

»Fünf, Vater, ich habe kein Glück. José ist fast ohne Wunde davongekommen. Aber ich darf mich auch nicht beklagen, es ist anderen noch viel schlechter als mir ergangen, und zweimal war ich selber nahe genug am Tode. Einmal rettete der nämliche Neger, mit dem ich aus dem Gefängnis entfloh, ein andermal ein alter Mann mit schneeweißen, wirren Haaren mein Leben.«

»Wie wird sich die Mutter um dich sorgen!«

»Wenn sie erfährt wie gut ich's hier habe, gewiß nicht,« erwiderte der junge Mann und sah zu seiner Pflegerin empor. »Die Hauptsache ist, wir haben unser Blut nicht umsonst vergossen. Der Erbfeind ist zersprengt oder aus dem Lande gejagt, und meine Wunden, Vater, werden viel rascher heilen als die, welche er dem Staat geschlagen hat. Doch die Zeit macht alles wieder gut, und glücklichen, recht glücklichen Zeiten gehen wir hoffentlich entgegen.«

Castilia sah wohl ein, daß er sich unter diesen Verhältnissen nicht um den Sohn zu quälen brauchte, er hätte selbst im elterlichen Hause nicht besser aufgehoben sein können. Als er nun den Damen für die Liebe und Sorgfalt gedankt hatte, die sie dem armen Verwundeten zuwandten, drängte es ihn wieder, seinen alten Freund Gonzales aufzusuchen, um mit diesem das weitere zu bereden.

Der alte Herr war in den Lagerräumen nebenan, um dort, was er konnte, für die Verwundeten in der Stadt herauszugeben und sie in ihrer Pflege zu unterstützen. Er war wie José augenblicklich bereit, Castilia zu begleiten, um seinen verlorenen Bruder aufzusuchen. Dem Sohn hatte Castilia absichtlich nichts davon gesagt, um ihn nicht aufzuregen. Und ohne zu wissen, wohin sie sich zuerst wenden sollten, eilten sie in die Stadt hinein.



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