Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Die Flucht.

José und Teja, nachdem sie Gonzales' Haus verlassen, durchschritten vor allen Dingen einen Teil der Stadt, durch welchen Teja nachher, wenn die Befreiung Castilias wirklich gelang, mit diesem entfliehen mußte. Es war das unumgänglich nötig, damit er das Terrain genau kennen lernte und nicht aus Versehen seinen Feinden wieder gerade in die Hände lief. Gefahr hatten sie aber nachher und weiter draußen fast gar nicht zu fürchten, denn Patrouillen gingen da nicht oder doch sehr selten, und fast das ganze Militär war im Mittelpunkt konzentriert. Erst auf der Landstraße trafen sie wieder Piketts, wie in den kleinen Ortschaften starke Besatzungen, und die mußten sie deshalb unter jeder Bedingung vermeiden. Das beste war, sie wandten sich rechts von der Straße und zwar dicht vor der Stadt ab, zogen sich in westlicher Richtung durch die Felder und Hügel hin – der sternenklare Himmel zeigte ihnen da deutlich genug den Weg – und suchten nur vor Tag irgend eine Hacienda zu erreichen, wo sie sich, wenn das nötig werden sollte, den Tag über versteckt halten konnten, oder auch vielleicht gleich einen Führer fanden, der sie sicher weiter und zu der Lagune geleitete.

Ein solcher Weg war wohl außerordentlich beschwerlich, aber er hielt sie auch von jeder Gefahr fern. Gleich hinter Los Teques aber, einer gar nicht so sehr weit entfernten kleinen Stadt, hatten sich ja schon die Vorposten der Blauen gezeigt, und die Regierungstruppen wagten sich dort gar nicht mehr in einzelnen Patrouillen aus ihrem Garnisonplatz hinaus.

Selbst hier in der Vorstadt von Caracas ließ sich nachts kein Soldat blicken – nur Polizei war dort, aber ebenfalls spärlich, verteilt: Serenos, wie sie in vielen spanischen Kolonien genannt werden. Diese konnten ihnen aber kaum ein Hindernis in den Weg legen, besonders wenn sie erst die – in einem benachbarten Hof bereitstehenden Pferde bestiegen hatten. Es fällt auch außerdem in heißen Ländern sehr häufig vor, daß Leute, die einen längeren Ritt beabsichtigen oder zu einer Reise mitten in der Nacht aufbrechen, nur die kühle Zeit benutzen, während sie dann in der Tageshitze unter Dach und Fach bleiben.

Teja trug übrigens seinen Revolver, wie José ebenfalls einen solchen für Castilia zu sich gesteckt hatte. – Wurden die Flüchtigen wirklich draußen irgendwo angehalten, dann mußten sie sich ihren Weg mit Gewalt bahnen. Sie befanden sich ja nun einmal im Kriegszustande, und Leben um Leben war überall die Losung.

Daß Castilia das Brecheisen richtig erhalten hatte und seine Freunde da zu finden erwartete, wo er ausbrechen konnte, war außer allem Zweifel. Wer aber konnte der andere Gefangene sein, den man zu ihm hineingesteckt hatte? Und würde er sich der Flucht anschließen oder ihn hindern? – Es blieb ihnen keine Wahl, als sich auf das erstere vorzubereiten. Gelang es ihm, seinen Mitgefangenen mit zur Flucht zu bewegen, so zweifelten sie auch nicht daran, daß er imstande sein würde, in der bestimmten Zeit die Mauer zu durchbohren, und so blieben ihnen ja noch zwei volle Stunden, um jenen Augenblick abzuwarten.

Langsam gingen sie deshalb – bald nachdem es zehn Uhr geschlagen, und die Posten abgelöst sein mußten, die Straße entlang, die nach der Plaza führte, und kamen dort an der Pulperia vorüber. Noch immer trieben sich dort müßige Soldaten herum; es war überhaupt keine Ordnung in der ganzen Mannschaft, denn die armen Teufel bekamen nicht einmal ihre rechtmäßige Löhnung, und um sie nur halbwegs bei guter Laune zu erhalten, durfte man nicht zu streng gegen sie verfahren. Sie taten so ziemlich – gerade in dieser Zeit – was sie wollten, und wenn sie nicht direkt zu desertieren versuchten, ließ man sie gewähren.

Jene Soldaten, die da vor der Schenke saßen, hatten allerdings ihre Musketen nicht bei sich, denn die Gewehre mußten sie auf der Wache stehen lassen, aber ihre Seitengewehre trugen sie doch, und Lärm konnten sie ebenfalls machen, falls sie etwas Verdächtiges bemerkt hätten, worauf nur eine der Schildwachen ihre alte Flinte abzufeuern brauchte, um die ganze Wache auf die Beine zu bringen. – Gefährlich konnten sie also immer werden, aber was half's. Das Unternehmen war begonnen und mußte durchgeführt werden.

Die Mauer nahm reichlich die Hälfte der Quadra oder Straße – bis zur nächsten Querstraße – ein, während an der anderen Seite die Kirche mit einem alten Kloster lag. Gegenüber der Gefängnismauer befand sich also keine Wohnung, so daß man von dort her wenigstens keine Störung zu fürchten brauchte. Oben an das Kloster schloß sich die Pulperia an, und die an der Mauer befindlichen Posten sollten auch nur diese bewachen, was ihnen jedenfalls eine sehr nutzlose Arbeit schien. Der obere schlenderte manchmal bis zur Pulperia hinauf, während der untere um die Ecke nach der Plaza zu trat und mit den dort befindlichen Schildwachen plauderte. Es gab zuweilen Viertelstunden, wo sich niemand in unmittelbarer Nähe des bezeichneten Platzes befand. Jetzt freilich, kurz nach der Ablösung, hielten die Leute noch ihren bestimmten Wachtgang ein. Da Teja aber schon seinen Säbel umgeschnallt hatte und das gelbe Band an der Mütze trug, fielen die beiden Freunde nicht im geringsten auf, und der erste Posten zog sogar das Gewehr vor ihnen an.

An der Stelle, die sich José gemerkt hatte, wo Castilias Zelle lag, blieben sie stehen, und José entzündete ein Streichhölzchen, bei dem sie sich die Zigarren anbrennen konnten – das war etwas zu Natürliches, um aufzufallen. – José brachte dabei sein Ohr so nahe als möglich der Mauer – beim Himmel, da drinnen bohrte es – Castilia war an der Arbeit – also er hatte keine Schwierigkeiten bei seinem Mitgefangenen gefunden, aber jetzt galt es auch, das einmal Begonnene durchzuführen.

Doch was war zunächst zu tun? Sollten sie den nächsten Posten gleich zu gewinnen suchen? Sie durften es nicht wagen, denn sie wußten nicht, wieviel Zeit Castilia gebrauchen würde, um sich frei zu arbeiten. Gelang es ihm aber nicht bis zwölf Uhr, so war hier alles vergebens gewesen und das Geheimnis sogar in fremden, feindlichen Händen.

Sie durften hier aber auch nicht zu lange stehen bleiben, wenn sie nicht Verdacht erregen wollten. Der untere Posten kam schon langsam auf sie zu, und Arm in Arm schlenderten sie ihm deshalb entgegen.

An der Plaza liefen sie allerdings die Gefahr, daß sie von einem der sich dort herumtreibenden Offiziere angeredet wurden – aber selbst die Offiziere kannten nicht alle ihre Kameraden – er konnte von La Guayra – von Victoria eben eingetroffen sein – eine Ausrede fand sich da leicht. Es redete sie auch keiner an, und schräg über die Plaza, von der Wache weg hinüberschneidend, tauchten sie bald wieder in die gegenüberliegenden dunklen Straßen ein.

Sollten sie jetzt einen Bogen machen und von oben noch einmal denselben Weg verfolgen? – Das ging nicht – dadurch hätten sie schon Aufmerksamkeit erregt, und das beste war, sie zögerten hier eine kleine Weile und gingen denselben Weg zurück. Das konnte nicht auffallen. Wer wußte denn, ob sie nicht dort oben wohnten.

Beide waren aber so aufgeregt, als schüttelten ihre Glieder in Fieberfrost.

»Lassen Sie uns ein Glas Wein trinken,« sagte endlich José.

»Gern – aber finden wir noch ein Haus offen?«

»Im Hotel – es ist nicht so weit von hier, und solange Zeit haben wir noch – es ist besser, als wenn wir zum drittenmal den Platz passieren müssen –«

»Und wenn wir dort Bekannte finden?«

»Seien Sie ohne Sorge – nur Fremde wohnen dort, am meisten kehren Amerikaner da ein, denn der amerikanische Konsul wohnt in dem Hotel – Kommen Sie, Teja – ein Glas Wein wird uns beiden gut tun, denn Sie besonders haben eine scharfe Nacht vor sich.«

»Aber kann ich mit meiner falschen Militärmütze – mit meinem Säbel dort einkehren?«

»Dort eher als irgendwo anders,« erwiderte José, »denn in der gemeinsten Pulperia sind wir der Gefahr ausgesetzt, wirkliche Offiziere der Gelben anzutreffen – dort aber nicht. – Ich würde Sie nicht hinführen, wenn ich uns nicht völlig sicher wüßte« – und ohne weiteres schritten die beiden jungen Leute durch einige Querstraßen dem Hotel zu. José kannte auch den Platz genau. Nur ein paar gerade von La Guayra heraufgekommene Fremde, zwei Amerikaner und drei Franzosen, fanden sie dort, und sich an einen der Tische auf die überhaupt halb dunkle Veranda der ersten Etage setzend, ließen sie sich eine Flasche Xeres geben und rauchten ihre Zigarre dazu.

Jetzt schlug es draußen ein Viertel nach zehn.

»Wir müssen fort,« flüsterte José – »ich weiß nicht, mir läßt es keine Ruhe mehr – wenn wir die rechte Zeit versäumen, können wir Unheil anrichten.«

»Mir brennt der Boden schon lange unter den Füßen,« rief Teja, indem er aufsprang und seinen Säbelgurt etwas fester schnallte. »Wollte Gott, ich säße erst wieder im Sattel. Auf meinen eigenen Füßen fühle ich mich nicht halb so heimisch.«

»Und sind Sie überzeugt, daß Sie Ihren Weg jetzt finden könnten?«

»Und wenn keine einzige Laterne in der Stadt brennte – nur nach dem Sternenlicht.«

»Gut denn! Vorwärts!« Und die beiden jungen Leute schritten, ohne ein Wort weiter zu wechseln, die Treppe wieder hinab – die dies Hotel ausnahmsweise hatte – und die Straße entlang, die sie aufs neue der Plaza entgegenführen mußte.

Jetzt war es totenstill da draußen – keinem einzigen Menschen begegneten sie mehr; nur hier und da an den Häusern, aber in langen Zwischenräumen lehnte ein schläfriger Nachtwächter, in seine Cobija gehüllt, denn die Luft wehte frisch vom Norden herunter und von der See her, – hielt seinen Degen in der Hand und wünschte sich, daß es erst wieder Morgen wäre.

Auch die Soldaten der Plaza hatten sich in das Wachtlokal zurückgezogen – nur die beiden Posten standen zusammen im halboffenen Torweg und plauderten dort mit jemandem, der sich noch im Schatten des Gebäudes befand.

Über die Plaza kam ein höherer Offizier zu Pferde, sein Tier ging einen kurzen Trab. Als er vor den beiden Freunden vorbeikam, blieb Teja stehen und grüßte militärisch. – Der Offizier warf kaum einen Blick herüber, dankte flüchtig und ritt vorbei.

Jetzt erreichten sie die Ecke der Plaza und hatten die ziemlich öde Straße vor sich – die Schildwachen standen weiter oben zusammen und plauderten miteinander. Hatten sie etwas gemerkt? – Aber nein – in dem Fall würden sie ja augenblicklich Lärm geschlagen haben.

Sie schritten rasch die Straße hinauf, bis zu der Stelle, wo der Name an die Mauer geschrieben war: Viva el Gral Guzmann – sie horchten einen Augenblick, und es durchzuckte sie wie ein Blitz, als ein kleines Stückchen Backstein, das der Arbeitende nicht vorsichtig genug hereingenommen hatte, hinaus auf die Straße und dicht vor ihren Füßen niederfiel.

Waren sie schon so weit, dann hatten sie auch den inneren Raum vollkommen frei und konnten in wenigen Minuten die letzten Schwierigkeiten weggeräumt haben. Der Augenblick der Entscheidung nahte, und längeres Zögern war zur Unmöglichkeit geworden.

Der eine Posten hatte die beiden Männer dort stehen sehen, und kam langsam, das Gewehr im Arm, die Straße herab. – José stellte sich so an die Mauer, daß er die Stelle, hinter welcher er jetzt den Freund wußte, verdeckte, und selbst Teja klirrte ein wenig mit seinem Säbel – sie waren beide noch unschlüssig, was sie tun, wie sie handeln sollten, denn ihre Sache wurde verzweifelt, sobald sich die Schildwache weigerte, sie zu unterstützen.

Der Posten, der, wie er meinte, in dem einen der späten Wanderer einen Offizier erkannte, ging ruhig vorüber und der Ecke der Plaza wieder zu. Wenn Castilia jetzt bereit gewesen wäre, so hätten sie es nur mit dem einen da oben zu tun gehabt und ihren Weg vielleicht mit Gewalt erzwingen können.

»Bei Gott, die arbeiten rasch,« rief José leise, als er wieder einen Blick auf die Mauer warf – »sie nehmen die Steine nur so fort – seht das Loch da – ein Mann kann schon hindurch.«

»Da kommt der andere Posten – laßt uns ihm ein Stück entgegengehen, daß wir die Stelle verdecken. Die andere Schildwache scheint unten zu bleiben. Vielleicht geht alles leichter als wir dachten.«

Langsam, um sich nicht zu weit von dem Ort zu entfernen, taten sie jetzt ein Paar Schritt die Straße hinauf. Oben die Pulperia war fast leer – nur zwei dunkle Gestalten standen noch in der matt erleuchteten Tür. Eine von diesen trat jetzt ebenfalls hinein, die andere blieb draußen und wandte sich, wie es schien, langsam die Straße herab.

Der Posten kam näher und war nur noch wenige Schritt entfernt. Teja hatte wieder ein Zündhölzchen in Brand gebracht und tat, als ob er eine Zigarre anstecke. Dabei ließ er den Säbel wieder ein klein wenig auf dem Pflaster klirren. Der Posten kam dicht heran – wenn er sie passierte, mußte er das Loch in der Mauer sehen, ja, Teja konnte sogar das Flüstern der beiden hören.

»Buenas noches, Sennores,« sagte der Soldat, indem er, wie die vorige Wache, passieren wollte.

»Compannero,« erwiderte da Teja, indem er vor ihn trat und die Hand auf seinen rechten Arm legte. »Willst du heute abend hundert Pesos verdienen und ein freier Mann werden?«

»Caracho, das ist viel auf einmal,« meinte lachend der Soldat, der immer noch glaubte, er habe es mit einem Offizier zu tun, »aber womit, Sennor? Es ist lange her, daß ich keine hundert Reals gesehen habe.«

»Willst du mit mir entfliehen?«

»Desertieren? – Wohin?«

»Einerlei, ins Land – fort, wo kein Krieg ist – hier hast du Abschlagsgeld,« und er drückte dem Soldaten eine Anzahl Dollars in die Hand, die dieser eben erstaunt betrachten wollte, als er hinter den beiden Fremden ein merkwürdiges Geräusch hörte.

Gerade gegenüber, an der anderen Seite der Straße, ging letzt auch der andere Soldat vorüber, um sein Wachtlokal wieder aufzusuchen,

»Wir haben hier zwei Gefangene, mit denen wir entfliehen wollen,« flüsterte ihm der also gedrängte Teja zu, »dein Glück ist gemacht, Compannero. Der eine ist eines reichen Mannes Sohn. Hundert Pesos und ein gutes Maultier.«

»Caracho!« rief der andere Soldat über die Straße herüber, der plötzlich einen dunklen Gegenstand aus der Mauer herauskugeln sah, ohne jedoch unterscheiden zu können, was es eigentlich sei. – Der andere Posten von unten kam jetzt ebenfalls, aber noch immer langsam die Straße wieder herauf, denn dadurch, daß der Neger zwischen der Gruppe und ihm auf die Straße sprang, konnte er nicht deutlich erkennen, was sich da bewegte.

»Purisima!« rief aber auch jetzt der Soldat neben Teja erschreckt, als plötzlich die riesige Gestalt des Negers dicht vor ihm auftauchte, und suchte seinen Arm von Tejas Griff los zu bekommen. Drüben war ein Zeuge, wenn er auch hätte der Verführung nachgeben wollen, wie sollte er hier entwischen können.

Der Neger enthob ihn aber jeder weiteren Zweifel, denn während er mit der linken Hand nach der Muskete griff, hieb er dem armen Teufel mit dem eisernen Brecheisen eins dermaßen über den Schädel, daß er lautlos zusammenbrach.

»Fort!« rief Samuel, und an seiner Seite war schon Castilia.

Der Soldat auf der anderen Seite der Straße, der wohl merkte, daß hier etwas nicht in Ordnung war, hatte sein Seitengewehr aus der Scheide gerissen und sprang mit wildem Fluchen auf die Gruppe zu, José aber unterlief ihn und schleuderte ihn mit solcher Gewalt auf das Pflaster nieder, daß er für einen Augenblick wie tot liegen blieb.

»Caracho! Steht!« schrie jetzt der andere Posten, der nun in vollem Lauf herankam, und aus der Pulperia vor ihnen sprang noch ein Soldat heraus, der letzte Gast; der sich, mit keinem Centabo mehr in der Tasche, nur noch wenigstens in Sicht der Flaschen eine Weile herumgetrieben und mit dem Wirt geplaudert hatte.

Der Posten wollte schießen, aber unter der Gruppe, die in diesem Augenblick die Straße hinauflief, sah er im Schein der Laterne eine Muskete blitzen – war das sein Kamerad? Und vor ihm im Weg lag ein dunkler Körper. Jetzt hatte er diesen erreicht und merkte das Loch in der Mauer – rechts im Fahrweg lag auch jemand und raffte sich gerade wieder empor – und der Tote da vor ihm – alle Teufel, da lag ein Silber-Dollar – und da noch einer – da zwei – die fand er nicht oft auf der Straße – aber der Tote hier war ja sein Kamerad!

»Mord!« schrie er, so laut er schreien konnte, und feuerte nun sein Gewehr – aber noch in die Luft, als Signal ab, denn vorhin war ja auch ein Offizier dabei gewesen, und auf den konnte er doch nicht schießen – der war es jedenfalls, der dort hinter einem der Flüchtlinge herlief und ihn wieder einzufangen suchte. Durch das Geldaufnehmen hatte er freilich viel Zeit verloren.

Die vier Flüchtigen sprangen indes die Straße hinauf, als der obere Soldat ihnen den Weg verrennen wollte; aber Tejas vorgehaltener Revolver machte ihn rasch zur Seite fahren. Sollte er sich fremder Leute wegen totschießen lassen?

Unten an der Plaza hatte die dortige Wache ihre Gewehre aufgegriffen und war hinausgestürzt, aber sehen konnten sie nichts mehr, denn eben bog der Trupp der Flüchtigen um die Ecke der Quadra.

José war an Castilias Seite. »Nun, helf' Euch Gott!« rief er ihm zu, »daß Ihr auch dieser letzten Gefahr entgeht – hier den Revolver nehmt, wenn Ihr noch gezwungen wäret, Euch zu verteidigen.«

»Wie soll ich Euch danken? – Aber welchen Weg schlage ich jetzt ein?«

»Ihr habt einen treuen Freund zur Seite, den Hauptmann Teja, der von der Lagune hereingekommen ist; er kann Euch auch Nachricht von den Euren geben. Eure Schwester ist bei uns gut aufgehoben – in den nächsten Tagen bringe ich sie Euch selber hinaus. – Jetzt hier wieder rechts um – dort gleich müssen die Pferde stehen – und dann fort, was sie laufen können!«

»Halt, quien vive?« schrie ein Sereno, der dort im Schatten der Häuser stand.

»Libertad!« brüllte ihm der Neger ins Ohr und versetzte ihm dabei einen so furchtbaren Schlag, daß er augenblicklich zusammenknickte.

Rechts im dritten Hause befand sich der Stall, in dem die Tiere bereit und gesattelt stehen sollten, und der Eigentümer hatte seinen Auftrag gut erfüllt – aber natürlich nicht auf den Neger gerechnet.

»Nehmt Ihr das Pferd, Companero,« rief Castilia diesem zu, als sie das Hoftor aufwarfen und hineinsprangen.

»Ein Pferd?« fragte lachend Samuel Brown, »daß ich ihm den Rücken bei den ersten drei Sprüngen zerbräche? Mich trägt keins, aber meine Füße sind desto besser. Kommt Ihr nur so flink hinter mir drein, als ich Euch voran bin« – und ohne sich aufzuhalten, floh er die Straße hinunter und war bald in einer der Biegungen verschwunden.

Teja und Castilia saßen im Nu im Sattel, und fort klapperten die Hufe über das Pflaster, daß die Funken stoben. – José aber schloß das Tor wieder und blieb da drinnen horchend stehen, um zu hören, wie rasch die Verfolger hinter den Flüchtigen drein sein würden.

Es dauerte auch in der Tat nur wenige Minuten, so hörte er hastige Schritte in der Straße – und Stimmen stritten sich, welchen Weg sie nehmen sollten.

»Sie sind rechts umgebogen,« rief einer – »sie wollen uns irreführen.«

»Den Teufel sind sie,« rief ein anderer – »die nehmen den geraden Weg nach den Bergen, darauf könnt ihr euch verlassen. Feuert eure verdammten Gewehre ab, um die Wachen zu alarmieren, ich hab' es euch lange genug gesagt. Die laufen vor dem Tod, und wir holen sie doch nicht ein.«

Jetzt knatterten dicht vor dem Hoftor, hinter dem José stand, vier oder fünf scharfe Schüsse in die Luft hinein – mochten die Kugeln schlagen, auf welches Dach sie wollten.

»Wir hätten die andere Straße nehmen sollen,« sagte wieder eine Stimme. »Ihr wolltet aber nicht hören – hier kamen sie gar nicht vorbei. Und der Neger ist mit fort.«

»Ach, der möchte zum Teufel gehen, aber der Bursche, der morgen früh erschossen werden sollte, und der Skandal, den jetzt Bruzual machen wird. – Na, Gott sei Dank, daß ich nichts damit zu tun hatte.«

Die Stimmen wurden undeutlich. Die Leute hatten jedenfalls auf irgend ein Zeichen von außen her gewartet, und da sie das nicht erhielten, nahmen sie die Verfolgung, jetzt ziemlich hoffnungslos, wieder auf.

Der Eigentümer der Pferde stand neben José.

»Daß alle die gelben Kanaillen der Böse hole,« brummte er ingrimmig vor sich in den Bart – »aber sie werden ihre Rolle hier wohl bald ausgespielt haben – verdamm' sie, und dann wünsch' ich mir nur eins, daß die Blauen den Falcon erwischen, um ihn für die Semana santa auszustopfen und als Judas Ischarioth zu verbrennen. Blutegel, verdammter. – Mir haben sie schon sieben von meinen besten Pferden aus dem Stall geholt, und gesegnet der Real, den ich für eins von ihnen je bekommen werde – nicht einen Centabo, und das nennen sie das Land regieren.«

»Glaubt Ihr, Amigo, daß es möglich ist, jetzt nach meinem Haus zu kommen?«

»Wenn Ihr aufgegriffen und eingesteckt sein wollt, könnt Ihr's ja versuchen, dann wäre ich die beiden Pferde vielleicht auch los. Wenn Ihr aber einen vernünftigen Rat annehmen wollt, so legt Ihr Euch hier in eine Hängematte, und schlaft bis die Sonne über die Dächer scheint.«

»Ich glaube, Ihr habt recht; die ganze Garnison scheint auf den Füßen zu sein, jetzt haben sie auch die Kavallerie herausgetrieben.«

Über das Pflaster klapperten die Hufe einer Anzahl Reiter, die in voller Flucht die Straße entlang kamen. Diese schienen aber unter besserem Befehl zu stehen. Wie ein Wetter sausten sie an dem Haus vorüber, und dem Geräusch nach kam es den Lauschenden fast so vor, als ob sie sich an der nächsten Ecke geteilt und zwei verschiedene Wege eingeschlagen hätten. Dann war eine Zeitlang alles ruhig – ob sie die Verfolgung aufgegeben? – Ob sie draußen mit dem Eifer fortgesetzt wurde? Es ließ sich von hier innen nicht unterscheiden, und der Pferdevermieter hütete sich wohl, seinen Torweg wieder zu öffnen.

Jetzt endlich kamen wieder einzelne zurück, und zugleich konnte José deutlich unterscheiden, daß eine Patrouille die Straße herab marschierte. Es war also doch gut, daß er das Haus nicht noch in der Nacht verlassen hatte, denn wäre er von einer solchen aufgegriffen worden, so konnte sich der Verdacht leicht auf ihn lenken. – Was halfen ihnen jetzt freilich die Patrouillen. Von den Bewohnern der Stadt, die das Schießen gehört, öffnete keiner seine Tür, und die paar Menschen, die sie wirklich aufgegriffen, mußten sie wieder laufen lassen, denn es stellte sich bald heraus, daß sie mit der Flucht der Gefangenen auch nicht in der geringsten Verbindung standen.

Die einzige Person nur, der diese Flucht einen großen Spaß machte, und die fortwährend über den Hof auf und ab ging und sich vor lauter Vergnügen die Hände rieb, war höchst merkwürdigerweise der Schließer des Carcels selber.

Zuerst allerdings, wie die Soldaten hereinstürmten und ihn anfuhren, daß er einen oder zwei Verbrecher habe entspringen lassen, erschrak er natürlich und zitterte an allen Gliedern, denn daß er selber jetzt eingesperrt werden würde, lag außer allem Zweifel. Wie er aber die Zellen revidierte – denn von außen konnte man nicht gleich beurteilen, welche Nummer es im Innern war – und an Nr. 37 kam, das Nest ausgeflogen und hinten in der Wand das große Loch fand, da glänzte sein ganzes Gesicht vor innerlichem Vergnügen, denn ihm konnte jetzt gar nichts auf der Welt passieren.

Er freute sich aber nicht etwa darüber, daß der zum Tod Verurteilte entkommen sei – was kümmerte ihn der – er wäre ihn am nächsten Morgen doch losgeworden – nein, er hatte sich geweigert, den dicken Neger dort mit hineinzustecken, und der Offizier der Wache ihn dazu gezwungen. Nun hatten sie's. Er konnte selbstverständlich nicht hinten und vorn vor dem Gefängnis zu gleicher Zeit sitzen und auf die Gefangenen acht geben. Was da draußen geschah, ging ihn hier drinnen nichts an. Und das Werkzeug, womit sie ausgebrochen waren? Denn deutlich konnte man an der Mauer die breiten Spuren eines eisernen Meißels, und besonders an den Stellen erkennen, an denen im Anfang Castilia die verunglückten Versuche gemacht hatte, einen Stein zu lösen. Bah, das hatte der Neger jedenfalls bei sich geführt, und es war ihm ja nicht einmal erlaubt gewesen ihn anzurühren. Er sollte ihn ja ruhig und gebunden so liegen lassen bis zum anderen Morgen.

Vor allen Dingen konfiszierte er jetzt das Kistchen mit den kaum berührten Lebensmitteln, in dem er auch noch eine volle Flasche Wein fand. An dem entdeckte er aber bald genug den Schieber, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als das Kistchen auseinanderzuschlagen und die unteren Teile zu verbrennen. Das wußte jetzt niemand wie er, und daß er sich nicht den Mund damit verbrannte, war gewiß, denn darüber hätte er zur Strafe gezogen werden können.

»Ob die Kanaillen nicht mit allen Hunden gehetzt sind,« brummte er vor sich hin, als er das Holz auseinanderbrach, »das hätt' ich nur wissen sollen. Und der verdammte Neger, der mir noch einen Tritt vor den Leib gab, als wir ihn hineinschleppten. Bah, ich kriege ihn vielleicht ein andermal wieder, und den kenn' ich jetzt, darauf kann er sich verlassen.«



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