Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Zwei Familien.

José verließ das Haus des Pferdevermieters erst wieder mit Sonnenaufgang, und nachdem er vorher, so gut es anging, Toilette gemacht, um keine übernächtigen Zeichen an sich zu tragen. Er nahm auch absichtlich den Weg durch dieselbe Straße, an der das Carcel lag, und bemerkte schon oben an der Ecke eine Menge Menschen, die vor dem in die Mauer gebrochenen Loche standen und die Geschichte und die Gerüchte der letzten Nacht erzählten.

Wie ein gerade Vorübergehender mischte er sich dann unter die Leute und fragte, was da vorgegangen sei; aber das Volk lachte. Sie freuten sich alle, daß der »Spion der Blauen« durchgekommen sei, und wenn sie es auch nicht direkt aussprachen, und er erfuhr jetzt – natürlich mit Übertreibungen – sein eigenes Abenteuer.

Der Erzählung nach sollte ein ganzer Trupp der »Blauen« in dieser Nacht in die Stadt eingeschlichen sein. Hier hatten sie dann die Mauer aufgebrochen, die Wache dabei niedergeschlagen und waren nachher im Triumph mit den Befreiten wieder abgezogen und auch glücklich entkommen.

»Also man hat sie nicht wieder bekommen?«

»Kein Gedanke daran,« riefen lachend die Leute, »werden sich hüten und sich fangen lassen. Eben sind die letzten Soldaten wieder zurückgekommen und die Reiter auch schon wieder da. Es heißt, daß ein Trupp der Blauen gerade da drüben hinter den Bergen liegt, und auf der Plaza stellen sie sich jetzt auf und wollen hinausmarschieren.«

José hätte laut aufjubeln mögen, und in solcher Erregung fühlte er sich, daß er jetzt nicht wagte, über die von Menschen gedrängte Plaza zu gehen. Er kehrte um, bog dann rechts ein und erreichte seine Wohnung auf einem, zwar etwas weiteren, aber wenig begangenen Weg, traf aber dort gerade zur rechten Zeit ein, um eine schwere Sorge von den Herzen seiner Eltern zu nehmen.

Er fand die ganze Familie schon angekleidet und in äußerster Unruhe im Frühstückszimmer versammelt; ja, der Vater war eben im Begriff gewesen, selber auszugehen und ihn aufzusuchen.

»Um Gottes willen, José, wo bist du die Nacht gewesen?« rief ihm die Mutter entgegen und warf sich an seine Brust. »Ach, was für Sorge hast du uns gemacht, und die Unruhe – das Schießen in der Stadt – was ist nur vorgefallen?«

»Nichts das ich wüßte, Mütterchen,« antwortete der junge Mann. Alle die jüngeren Kinder waren im Zimmer und zwei von den Dienstboten, und er hielt es nicht für ratsam, in deren Gegenwart das Geschehene zu erzählen; »ich bin mit Teja noch lange bei einer Flasche Wein gesessen; wir hatten von so manchem zu sprechen, und da es zu spät wurde, und ich euch nicht mehr stören wollte, warf ich mich dort in eine Hängematte und blieb da.«

»Und an uns hast du dabei gar nicht gedacht?«

»Gewiß – aber nicht, daß ihr euch deshalb ängstigen könntet.«

»Aber diese Unruhe in den Straßen, was bedeutet das?« fragte der Vater.

»Wie ich eben unterwegs hörte, fürchtet man, daß ein Trupp der Blauen bis nahe an die Stadt gekommen wäre, und an der Plaza stellte sich das Militär auf, um hinauszumarschieren. Ich glaube aber nicht, daß an dem Gerücht auch nur ein wahres Wort ist; was sollte ein Trupp der Blauen hier in der Nähe von Caracas ausrichten wollen. Er könnte höchstens abgeschnitten werden.«

»Du siehst so verwildert aus, José,« meinte die Mutter, die ihn ängstlich und mit sorgenden Blicken betrachtet hatte.

»Ein wenig übernächtig, liebe Mutter; ich gehe jetzt auf mein Zimmer und wasche und ziehe mich um.«

»Bis dahin ist auch das Frühstück fertig.«

»Desto besser, denn ich habe Hunger,« und damit eilte er über den kleinen Hof.

Ana war mit in dem Zimmer gewesen und hatte, als er's betrat, seinem freundlichen Gruß still und gedrückt gedankt, aber kein Wort mit ihm gesprochen. Eine Frage nach dem Bruder lag ihr wohl auf den Lippen, aber sie wagte nicht, ihr Ausdruck zu geben. Wozu auch? Hätte er etwas Gutes von ihm gewußt, so würde er es selber rasch genug ihr mitgeteilt haben, und das Schlimme? Ihr Herz bangte vor dem Augenblick, wo sie es ja doch einmal erfahren müsse.

Der alte Gonzales hatte seinen Hut wieder abgelegt und ging mit auf den Rücken gelegten Händen auf der Veranda hin und her. Als José das Haus betrat, lag etwas in seinem Blick, das ihn beunruhigte – etwas wie Scheu, wie er sich überall umsah. – Seine Worte beruhigten ihn auch nicht – es war jedenfalls irgend etwas vorgefallen, und er mußte es erfahren.

José brauchte zu seiner Toilette heute morgen ziemlich lange Zeit. Der Frühstückstisch stand schon gedeckt, und der Diener fragte eben an, ob er die Speisen auftragen solle, als Gonzales erschreckt emporfuhr, denn draußen vor seiner Haustür wurden plötzlich Gewehrkolben auf das Pflaster niedergestoßen und zu gleicher Zeit ein paar heftige Schläge mit dem Türklopfer gegen das Tor getan. Was war das? – Galt es dem Sohn?

Der Bursche sprang hinaus, um zu öffnen, fuhr aber auch im nächsten Augenblick zurück, als ein Offizier die Tür aufstieß und, von etwa zwanzig Mann gefolgt, das Haus betrat. – Andere standen noch auf der Straße, und in der Tat war das ganze Gebäude mit dem Warenlager und Geschäftslokal so eingeschlossen worden, daß man sogar in die Nachbarhäuser Patrouillen geschickt hatte, um die Scheidemauer zu überwachen. Der Rücken des Hauses war außerdem schon durch hohe, feste Mauern eingeschlossen.

Der Offizier schritt indessen, von seinen Leuten gefolgt, gerade in den Hof, an dem ihn Gonzales, anscheinend wohl ruhig, aber doch mit ängstlich klopfendem Herzen erwartete, nahm aber vorderhand noch gar keine Notiz von ihm und beschäftigte sich nur mit seiner Mannschaft.

»Verteilt euch jetzt – ihr seht selber wie das Haus gebaut ist, und postiert euch so, daß ihr jeden möglichen Ausgang, Mauer und Dachfenster genau im Auge habt. Wo sich irgend jemand an einer ungewöhnlichen Stelle oder flüchtig blicken läßt, gebt Feuer. Wenn ihr aber den Burschen bekommt, so schießt mir ihn nicht gleich auf der Stelle tot, sonst verderben wir ihm das Vergnügen des Hängens.«

»Was wünschen Sie? Wen suchen Sie hier, Sennor?« fragte Gonzales jetzt, der diese Vorbereitungen nicht begreifen konnte, denn kamen die Soldaten wirklich, um seinen Sohn zu suchen, so würden sie doch wohl erst nach ihm gefragt haben.

»Von Ihnen vorderhand nichts,« fertigte ihn der junge Offizier, der ein sehr freches und gemeines Gesicht hatte, kurz ab. »Sie haben sich hier ruhig zu verhalten, bis Sie gefragt werden. Aber halt! Eins muß ich wissen. Wohnt ein Mädchen in Ihrem Hause? Die Tochter des Rebellen Castilia?«

»Eine Sennorita Castilia befindet sich allerdings bei mir – was wünschen Sie von ihr?«

»Wenn ich etwas von ihr wünsche, werde ich es ihr schon selber sagen,« höhnte der gelbe Bursche – »für jetzt habe ich hier nichts zu wünschen, sondern zu befehlen.«

»In meinem Hause?«

»In Ihrem Haus, Sennor, und wenn Sie wissen, was Ihnen gut ist, so schweigen Sie, oder ich lasse Sie augenblicklich abführen. Wo ist Ihr Sohn?«

»Mein Sohn? In seinem Zimmer.«

Der Offizier wandte sich ab, und Gonzales, der wohl sah, daß er hier gegen die rohe Gewalt nichts ausrichten könnte, schwieg ebenfalls.

José, der den Lärm gehört hatte, trat in seine Tür und betrachtete sich erstaunt die Szene. Der Offizier nahm aber gar keine Notiz von ihm, sondern schritt jetzt in die erste Stube vorn und befahl zweien von seinen Leuten, den Raum genau zu untersuchen, und wohin sie nicht sehen könnten, nur mit ihren Bajonnetten zu stoßen. – Dies Zimmer war aber gerade der Gesellschaftssalon der Familie, und es wäre nicht möglich gewesen, daß sich jemand dort hätte verstecken können. Ein Posten wurde ebenfalls an die Tür gestellt und nun nach der Reihe im Haus fortgefahren, um jeden Winkel auf das sorgfältigste zu durchstöbern. Die Damen wollten anfangs Schwierigkeiten machen, wurden aber in so roher Weise zur Ruhe verwiesen, daß sie scheu der Gewalt wichen.

Alles wurde hier, noch dazu unter den rohen Scherzen dieses Jungen in einer Offiziersjacke, durchgewühlt, Küche und Boden, Speisekammer und Mädchenstuben bis in das Kleinste hinab, und der Herr in der Uniform schien immer schlimmerer Laune zu werden, als sie gar nichts fanden, woran der geringste Verdacht hätte haften können.

Ana hatte totenbleich und mit ängstlich klopfendem Herzen diesem rücksichtslosen Treiben der Soldaten zugesehen, aber selbst Gonzales, so ruhig und gleichmütig er sich bis jetzt betragen, lief zuletzt die Galle über.

»Komm, José,« sagte er, während der Offizier gerade an des Sohnes Stube gehen wollte – »wir können ja indessen immer frühstücken und ein Glas Wein trinken, während die Herren da unser Haus durchstöbern.«

»Ich danke dir, Vater, ich ziehe es doch vor, lieber dabei zu bleiben – man kann nicht wissen.«

»Glauben Sie, daß Sie von Soldaten der Republik bestohlen werden?« fuhr ihn der Offizier, der den Sinn der Worte nicht gut mißverstehen konnte, in voller Wut an.

»Ich habe etwas derartiges nicht geäußert, Sennor,« erwiderte José mit einem kaum unterdrückten Lächeln. »Wie kommen Sie auf den Gedanken?«

Der Offizier sah ihn zornig an, und die Untersuchung wurde fortgesetzt, während ihnen aber der junge Mann nicht von der Seite ging und besonders den Soldaten fortwährend scharf auf die Finger sah. Ebenso machte sich José ein Vergnügen daraus, mit in die Küche zu gehen, als sie an dieser beginnen wollten, und rief dabei Jean zu, das Silberzeug alles zusammenzunehmen und vorn in das Frühstückszimmer zu tragen.

Der Offizier biß sich auf die Lippen, aber er hatte kein Recht, eine Gegenorder zu geben, und alles, was er tun konnte, war: die Familie auf das äußerste zu belästigen, indem er sich alles aufschließen ließ, wo sich kaum eine Katze, geschweige denn ein Mensch hätte verstecken können. Aber es war alles vergebens, denn den, welchen sie suchten, fanden sie nirgends, und es blieb dem Kommandierenden zuletzt nichts anderes übrig, als seine Mannschaft wieder zurückzuziehen. Vorher ließ er sie aber noch einmal auf den Hof marschieren, und verlangte dann mit frecher Miene »la muchacha« – »das Mädchen« zu sprechen – die Tochter des Rebellen.

Auf seinen Säbel gestützt, den Kopf und Oberkörper zurückgeworfen, stand er dabei mitten im Hof – ein Bild bodenloser Gemeinheit.

Es war der nämliche gelbe Bursche mit den eckigen Augenbrauen, eine Mischlingsrasse von Mulatte und Indianer, der sich schon in der Offiziersstube hervorgetan.

José zuckte es in den Armen, den frechen Gesellen am Kragen zu nehmen, aber er wußte dann auch recht gut, daß er ihm dadurch nur erwünschte Gelegenheit gegeben hätte, seinen Unmut an irgend wem auszulassen, und was konnte er allein gegen das ganze Pikett der Bewaffneten ausrichten?

Ana, in ihrem einfachen, schwarzen Kleid, das Antlitz fast noch bleicher als die schneeige Krause, die ihren Hals umschloß, trat vor und fragte mit leiser zitternder Stimme, was er wünsche.

»Wo ist Ihr Bruder?« fuhr sie der Bursche mit rauher Stimme an.

Ana zitterte; sie hatte in dem kleinen, häßlichen Menschen schon lange einen der Offiziere erkannt, die sich damals an Bord des Dampfers mit gezogenen Säbeln auf ihren Bruder geworfen und ihn niedergeschlagen.

»Mein Bruder?« antwortete sie verwirrt über die Frage, »soviel ich weiß in Gefangenschaft, oder – Gott der Barmherzige,« rief sie entsetzt, als ein anderer Gedanke ihr Hirn durchzuckte – »sollte er nicht mehr leben?«

Der Offizier beobachtete sie scharf mit den kleinen, zusammengekniffenen Augen und konnte sich selber nicht verhehlen, daß sich die Schwester nicht verstellte. Sie wußte in der Tat nichts von der Flucht des Gefangenen, aber als sein Blick auf ihr haftete, verzogen sich seine häßlichen Züge zu einem höhnischen und malitiösen Lächeln, und sich zu seinem neben ihm stehenden Unteroffizier, ebenfalls einem Sambo, wendend, sagte er hämisch:

»Das ist die Dirne, wegen der neulich unser armer Benito von dem blauen Schuft erschossen wurde; aber wir werden doch noch das Vergnügen haben, ihn dafür hängen zu sehen.«

»Sennor,« rief da José, der sich nicht länger mäßigen konnte, indem er dicht vor den Offizier sprang, »ich werde direkt zu General Bruzual gehen, um mich bei diesem zu erkundigen, ob es in seiner Absicht liegt, daß seine Untergebenen anständige Damen in den Bürgerhäusern von Caracas insultieren. Eine Genugtuung für dieses freche Benehmen behalte ich mir dann später selber vor.«

»Sennor!« rief der Offizier, in die Höhe fahrend.

»Sennor?« sagte José kalt, indem er ihm fest ins Auge sah.

»Ich werde Ihr Betragen zur Meldung bringen. Nehmen Sie sich überhaupt in acht, denn Sie könnten in den nächsten Tagen selber alle Hände voll zu tun haben, um sich gegen verschiedene Anklagen zu verteidigen.«

José lächelte, erwiderte aber nichts und drehte dem Offizier einfach den Rücken, und dieser, der sich in der Gesellschaft nicht recht wohl fühlen mochte, schien auch die Drohung mit General Bruzual nicht ganz zu mißachten. Bruzual duldete allerdings keine solchen Übergriffe, und er war selber schon einmal von ihm deshalb bestraft worden. Sich wieder direkt an Gonzales wendend, forderte er diesen auf, ihm das Lagerhaus und die Geschäftsräume, die ebenfalls umstellt waren, aufzuschließen, um dort genaue Revision zu halten. Der alte Herr willfahrte ihm auch mit dem größten Vergnügen, aber das Resultat blieb dasselbe. Nicht das geringste Verdächtige wurde gefunden, viel weniger denn ein irgendwo versteckter Mensch, worauf es doch jedenfalls abgesehen schien.

Nach etwa anderthalb Stunden wurden die Soldaten wieder durch Signal zusammengerufen und aufgestellt, die Trommel rasselte, die tapferen Krieger marschierten die Straße hinunter, und die neugierige Menge, die sich indessen vor dem Haus gesammelt hatte, verlief sich nach und nach.

Ana war auf einen Stuhl gesunken und barg das Antlitz in den Händen. Josés Mutter stand neben ihr und sprach ihr Trost zu, und die Kinder kauerten neben ihr auf der Erde und betrachteten sie mitleidsvoll. José konnte den Jammer nicht länger mit ansehen und doch wußte er nicht, wie er Kinder und Dienstboten entfernen sollte. Es war auch jetzt kein Zweifel mehr, daß die ausgeschickten Soldaten in dieser Nacht keinen Erfolg gehabt, man hätte sonst wahrlich nicht in ihrem Haus nach dem Entflohenen gesucht. Er mußte dem armen Mädchen Trost zusprechen, und ohne sich lange zu besinnen, schritt er auf sie zu, blieb vor ihrem Stuhl stehen und faßte ihre Hand.

»Sennorita,« sagte er dabei leise und freundlich, »wollen Sie mir erlauben, einmal ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen, und – eine Frage gestatten Sie mir wohl: Fühlen Sie sich stark genug, in der allernächsten Zeit die Reise nach der Lagune antreten zu können?«

»Ja!« rief Ana, indem sie rasch, aber mit tränenden Augen zu ihm aufsah – »ja, Sie haben recht – ich fühle, daß ich Ihnen hier nicht länger zur Last fallen und Ihr stilles Haus dem Verdacht und Mißtrauen der Regierung aussetzen darf. O, zu lange habe ich schon Ihre Güte mißbraucht – zürnen Sie mir nicht deshalb.«

»Aber Ana,« rief Beatriz, indem sie ihre Arme um ihren Nacken schlang – »so hat es doch José wahrhaftig nicht gemeint! – Nicht wahr, José – o sprich doch zu ihr – sie darf sich ja auch nicht noch deshalb kränken und betrüben.« –

José schwieg, und selbst sein Vater, wenn ihm auch die ganze Sache fatal genug sein mochte, sah ihn verwundert an; aber Josés Blicke hingen an der gebeugten, ja, ineinander gebrochenen jugendlichen Gestalt, und noch immer ruhte seine Hand auf der ihren. Jetzt faßte er leise ihren Arm und sagte freundlich:

»Bitte, Sennorita, stehen Sie einen Augenblick auf – wir können leichter alles besprechen, wenn wir ungestört sind – Beatriz ist immer gleich so leidenschaftlich – nur einen Moment – ich muß mir in etwas, das aber auch gerade auf Ihre Reise Bezug hat, Ihren Rat erbitten.«

Ana sah ihn erstaunt an, aber sie gehorchte der Aufforderung – nur die Kniee zitterten ihr so, daß sie sich kaum aufrecht erhalten konnte. – José bemerkte das, zog ihren Arm in den seinen und sagte: »Stützen Sie sich auf mich, ich – habe Ihnen Gutes zu melden,« setzte er dann mit einem Flüstern hinzu.

Das junge Mädchen bedurfte jetzt wirklich der Stütze, so traf es sie wie ein jäher Schreck. – Gutes? O, sie war ja gar nicht mehr gewöhnt, Gutes von irgend eines Menschen Lippen zu hören. – José ließ ihr aber keine Zeit zu einer weiteren Frage; ihren Arm festhaltend, schritt er mit ihr quer über den Hof, zwischen den dort eingepflanzten Bäumen hin, und während er sich ein wenig zu ihr niederbog, sagte er leise:

»Mut! Mut! Liebes Fräulein – halten Sie den Kopf aufrecht – es ist alles gut – Sie kehren jetzt zu Ihren Eltern zurück und haben keine Sorge weiter auf der Welt als die, die wir alle teilen – unser Vaterland.«

»Keine Sorge weiter? – O, mein Gott! Mein Bruder?«

»Ist gerettet – ruhig, ruhig – nehmen Sie sich zusammen – die Kinder dürfen noch nichts davon erfahren, denn sie können die kleinen Mäulchen nicht halten, und die Diener« – er warf den Blick zurück, aber die Diener hatten die Veranda verlassen, um aus der Küche das so lange versäumte Frühstück herbeizuholen.

»Aber ich begreife nicht,« stöhnte Ana, die ihr Herz mit der Hand halten mußte, so fühlte sie es schlagen.

»Teja und ich waren im Komplott,« fuhr José fort, »sehen Sie nur, wie Mutter und Großmutter da herübersehen und so gern wissen möchten, was wir Heimliches miteinander zu besprechen haben – aber sie erfahren es noch immer früh genug, und Sie sollten die erste sein, die die Kunde davon bekam. – In der kleinen Kiste mit Lebensmitteln steckte ich ihm ein Werkzeug zu, mit dem er sich durch die Mauer arbeiten konnte – er war zum Tode verurteilt und keine Zeit mehr zu versäumen.«

»Zum Tode! Heilige Jungfrau.«

»Sorgen Sie sich nicht, er ist jetzt weit genug und in Sicherheit – gestern abend brach er aus – wir beide, Teja und ich, erwarteten ihn auf der Straße: mit den Schildwachen wurden wir fertig – Pferde standen bereit, mit Waffen war er auch versehen, und hinein ging's in die stille Nacht und in die freien Berge.«

»Aber das Schießen gestern abend – haben sie auf ihn geschossen.«

»Alarmschüsse, weiter nichts – die Soldaten verloren gewiß die Fährte – frisch und frei streift er jetzt durch die Berge, und daß sie ihn nicht wiederbekommen haben, beweist Ihnen die Nachsuchung heute morgen, da sie ihn vielleicht hier im Haus versteckt glaubten.«

»Und Sennor Teja?«

»Ist an seiner Seite und außerdem noch ein kräftiger Neger, der mit ihm zusammen gefangen saß – er ist frei wie der Vogel in der Luft.«

»Frei – frei – frei,« flüsterte das arme Mädchen, aber in einem Jubel, der ihr die Brust zu sprengen drohte – hinausjauchzen hätte sie es mögen in die Welt – »und Sie – Sie haben ihn gerettet!« Sie konnte nicht weiter, fast krampfhaft schlang sie den linken Arm um ihn, und wäre jetzt zu Boden gesunken, wenn er sie nicht aufrecht gehalten hätte.

Jetzt eilte aber auch die Mutter und Großmutter herzu, und Ana, die sich rasch von ihrer augenblicklichen Schwäche erholte – denn die Freude heilt ja bald wieder, was sie allzu plötzlich vielleicht verschuldet hat, warf sich der Mutter Josés an die Brust und flüsterte ihr in hastigen Worten ihren Jubel zu. – Den Frauen liefen auch die großen Tränen an den Wangen nieder, und die Dienstleute, die das Essen herausbrachten, wußten sich nicht zu erklären, woher es kam, daß sie auf einmal lauter freudige Gesichter sahen.

Und jetzt allerdings wurde die Abreise Anas besprochen, aber mit anderen Gefühlen als vorher, denn es drängte das junge Mädchen selber, die Heimat zu erreichen, wo ja die Eltern und der ihr neu geschenkte Bruder ihrer harren würden.

Doch hatte er auch wirklich das Lager der Freunde glücklich erreicht? – So viele Posten und Besatzungen der Feinde lagen noch zwischen, hier und dort, daß er ja leicht einem oder dem anderen derselben in die Hände fallen konnte. José beruhigte sie aber bald darüber. Teja wie Castilia waren allerdings der verschiedenen Nebenwege nicht so kundig, aber sobald sie sich nur fern von der Hauptstraße hielten, brauchten sie gar nicht zu fürchten, irgend welchen Regierungstruppen zu begegnen, die sich ja gar nicht abseits von ihren größeren Trupps wagen durften. Erstlich wären ihnen die Soldaten jedenfalls selber desertiert, und dann fühlten sie sich auch gar nicht sicher, im Bergland von den dort sich sammelnden Haufen der Blauen abgeschnitten und aufgerieben zu werden. Außerdem fanden aber auch die Flüchtigen in jedem Haciendero einen Freund und Bundesgenossen und konnten sich in den Kaffeepflanzungen, wenn ihnen wirklich einmal eine zufällige Gefahr drohte, mit größter Leichtigkeit versteckt halten. – Ana brauchte nichts mehr für die Sicherheit der Freunde zu fürchten.

Das Nähere über die Flucht versprach José ihr jedoch später zu erzählen, wenn sie einmal ungestört wären – die Leute im Hause durften das natürlich nicht erfahren.


Welche Veränderung hatte aber die kurze Stunde – ja kaum soviel –, in der das alles besprochen wurde, in Anas lieben Zügen hervorgebracht. José hatte sie nur gänzlich niedergeschlagen, die Augen mit Tränen gefüllt oder rot von Weinen, die Lippen schmerzdurchzuckt und das Antlitz bleich und gramentstellt gesehen, und wie verwandelt hatte sie die Kunde von des Bruders Rettung. Ein Lächeln war auf diese Wangen zurückgekehrt, und mit dem Lächeln zwei herzige Grübchen, und als sie jetzt, in der Erinnerung an das Überstandene, ihre Fahrt von La Guayra herauf mit einem riesigen Neger erzählte, blitzten die Augen wieder in lauter Fröhlichkeit, und ein leichter Rosenhauch legte sich über die edlen Züge. Sie hatte keine Ahnung, daß ihr Bruder gerade der Körperkraft jenes, ihr damals so widerlichen Schwarzen zum großen Teil seine Freiheit verdanke.

Es wurde nun beschlossen, all' ihre wie ihres Bruders Sachen zusammenzupacken und sie einem der Güterkarren zu übergeben, die von den fernen Haciendas mit Kaffee nach Caracas kamen und dann gewöhnlich leer oder doch nur mit wenigen Gütern beladen zurückgingen. Dauerte es dann auch etwas länger, so wurden diese Züge doch nur in sehr seltenen Fällen belästigt; man hätte ja sonst den ganzen Handel von Caracas selber abgeschnitten. Für sich selber und seinen jungen Schützling mußte José natürlich einen eigenen Wagen nehmen.

Wie er aber nur ausging, um sich danach zu erkundigen, erfuhr er von dem Pferdeverleiher, daß die Straße plötzlich, ohne zu sagen, wie lange das dauern würde, für alle Reisenden gesperrt sei. Er hatte an dem nämlichen Morgen einen Wagen mit drei Damen selbst nur nach Victoria expedieren wollen, das Fuhrwerk war aber schon unmittelbar vor der Stadt, wo es ein Pikett anhielt, zurückgewiesen, und dem Kutscher bedeutet worden, keinen zweiten Versuch zu machen, bis er sich eine Erlaubnis vom Generalkommando geholt. Und sollte er, jetzt gerade, wagen darum anzuhalten? Es war jedenfalls besser, sie ließen noch ein paar Tage darüber hingehen, bis die Herren Soldaten eingesehen hatten, daß sie die Flüchtigen auf diese Weise nicht wieder bekommen würden. Nachher fuhren Wagen wieder frei aus und ein, und keine Patrouille kümmerte sich mehr um sie, oder würde sie belästigen.

Als er zurückkehrte, um seinen Eltern und Ana die Nachricht zu bringen, mußte er das Haus der Sennora Corona passieren. Kaum zwanzig Schritt noch von ihrer Tür entfernt, traf er auf den jungen Hierra, der ihn augenblicklich an einem Knopf festhielt.

»Weißt du es schon, José? – In dieser Nacht ist Castilia mit einem Neger, den sie ihm in die Zelle geworfen, ausgebrochen und glücklich entkommen. – Das ist famos. Heute morgen wollten sie ihn erschießen, und nun ist der Bande der ganze Spaß verdorben.«

»Das also war der Spektakel in der Nacht?« – erwiderte José, der nicht daran dachte, den zwar braven, aber oft viel zu leidenschaftlichen jungen Freund gleich zum Vertrauten zu machen. »Dann haben sie auch deshalb bei uns heute morgen Haussuchung gehalten. Ich konnte mir gar nicht erklären weshalb?«

»Bei euch? – Aber wie kommt ihr dazu?«

»Auf die leichteste Art; Castilias Schwester wohnt bei uns, und sie vermuteten vielleicht, daß sich der Gefangene dorthin geflüchtet hätte.«

»Sehr wahrscheinlich,« meinte Hierra, »aber Caramba, die Herren werden mit jedem Tage frecher – sieh nur, wie sie hier überall die Häuser derer mit ihren ekelhaften Generalsnamen beschmiert haben, von denen sie wissen, daß sie zu unserer Partei halten. Wir ließen neulich unser Haus frisch anstreichen und in der nächsten Nacht, noch auf der frischen Farbe, hatten sie alles vollgeklext. Was will man machen? Man muß sie ruhig gewähren lassen, bis ihre Zeit um ist.«

»Und hat man sie nicht verfolgt?«

»Wen? Die Entflohenen? Das will ich meinen! Die ganze Nacht war das Militär auf den Füßen. Reitertrupps wurden sogar auf die Straßen bis Las Ajuntas und Los Teques hinausgeschickt, um die Wachen zu alarmieren, und von diesen sind auch wohl einige noch nicht zurück – wenn sie es aber nicht gar dumm anfangen, kriegt man sie gewiß nicht wieder. Man erzählt sich sogar, daß ein Offizier der Gelben mit ihm zu den Blauen desertiert wäre. Eben wird auf der Plaza das Offizierskorps gemustert. Der ganze Generalstab ist in Aufregung. – Aber wo gehst du jetzt hin?«

»Ich wollte nach Hause.«

»Ich will einmal zuhorchen, ob ich nicht irgendwo etwas Näheres erfahren kann. Die Sache ist zu interessant, und meine Mutter brennt darauf die Einzelheiten zu hören. Wie es heißt, hat ihnen der Schließer selber Werkzeug zugesteckt. Mit Geld ist hier alles zu machen« – und fort stürmte er, seinem Beruf entgegen.

José lächelte still vor sich hin, als er langsam seinen Weg wieder aufnahm, denn das Gerücht, daß ein Offizier der Gelben mit dem Gefangenen entflohen sei, lenkte den Verdacht auf eine andere Fährte. So tief war er auch in seine eigene Gedanken versenkt, daß er eben an Coronas Haus vorübergehen wollte, ohne auch nur einen Blick auf die offenen Fenster zu werfen, als ihn die alte Dame selber anrief.

»Caramba, Sennor Gonzales. Leben Sie denn noch? Es ist ja eine wahre Ewigkeit, daß wir Sie nicht gesehen haben?«

»Sennora,« sagte José, seinen Hut ziehend, indem er bei der Anrede fast erschrak, »ich habe mehrmals den Versuch gemacht, Sie zu besuchen, aber nie das Glück gehabt Sie zu Hause zu treffen.«

»Aber so kommen Sie doch herein und bleiben Sie da nicht auf der Straße stehen; oder wollen Sie den Leuten den Weg versperren?«

Die Einladung war zu direkt, um ihr ausweichen zu können, und doch wie wunderlich klopfte ihm das Herz, als er das Haus betrat. Juan, der Bursche, hatte ihm schon die Tür weit aufgerissen, und die alte Dame erwartete ihn in dem Empfangszimmer. Sie sah aber nicht besonders freundlich aus: ihre Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen hielt sie eingepreßt, daß der kleine Schnurrbart nur noch deutlicher hervortrat, und mit der geballten Hand stützte sie sich auf den Tisch, neben dem sie stand.

Auch Isabel war in der Stube – sie erhob sich, als José das Gemach betrat, ging ihm ein paar Schritt entgegen und reichte ihm ihre Hand – aber sie sah recht bleich aus, und das sonst so keck blitzende Auge hatte allen Glanz verloren.

»Mein liebes Fräulein,« rief José, bei dem Anblick des Wesens, das bis jetzt einen so mächtigen Zauber auf ihn ausgeübt, und dessen Erinnerung er ja noch immer nicht abschütteln konnte, – »wie freue ich mich. Sie einmal wieder begrüßen zu können. Aber Sie sehen blaß aus. Sind Sie krank gewesen?«

Isabel schüttelte langsam den Kopf, die Mutter aber sagte: »Vor Ihnen hätten wir sterben und verderben können, ehe Sie sich um uns gekümmert. Wo haben Sie nur gesteckt? So viel zu tun gehabt?« setzte sie mit einem halb lauernden Blick hinzu.

»Viel und wenig, Sennora; ich habe mich etwas mehr als früher um meines Vaters Geschäft bekümmert und bin nur wenig aus dem Haus gekommen.«

»Und von dem, was in der Stadt vorgeht, haben Sie gar nichts gehört?«

»O doch,« erwiderte lächelnd José, »in dieser Nacht hat ja ein kleiner Zwischenfall stattgefunden, der das Militär ein wenig in Atem hält.«

»Sie meinen die Flucht Castilias? Ich glaube, sie haben ihn schon wieder.«

»Ich glaube es nicht. Wie ich eben von einem Freund gehört habe, soll er mit Hilfe eines Offiziers der Gelben entkommen sein, und der wird seine Maßregel wohl sicher genommen haben.«

»Kennen Sie Castilias?«

»Gewiß, sehr gut, es ist ein Geschäftsfreund meines Vaters.«

»Nur ein Geschäftsfreund?«

»Sennora, das sind die solidesten Verbindungen, denn sie gründen sich auf gegenseitige Achtung,« sagte José und sah die Frau dabei scharf an. Sennora Corona schien aber nicht sehr darauf achten oder mit anderen Gedanken beschäftigt, sie drehte den Kopf halb ab und fragte weiter:

»Ist die Schwester des Entflohenen noch in Ihrem Hause?«

»Allerdings – jetzt aber wird sie wohl bald nach der Lagune zurückkehren. Alles, was sie hier festhielt, ist Gott sei Dank beseitigt und das rohe Soldatenvolk um seine Beute geprellt.«

»Nehmen Sie sich vor den Castilias in acht, Sennor,« meinte die Dame, »ich kenne sie genau und schon seit langen Jahren. Es ist hinterlistiges Volk, und sie gehören heute zu der, morgen zu jener Partei – man kann sich nie auf sie verlassen.«

»Meinen Sie wirklich?«

»Und dann erzählte man sich damals in Cumana – denn von dort stammen sie eigentlich – böse, grundböse Geschichten über die Familie, die ich gar nicht wage nachzusagen. Das war auch die Ursache, weshalb sie jenen Staat verließen – sie konnten sich nicht länger in der Gegend halten.«

»In der Tat?« fragte José erstaunt, »wie sonderbar, daß sie da gerade an der Lagune zu den geachtetsten Familien gehören.«

»Man wird sie auch dort bald kennen lernen, Sennor,« entgegnete die alte Dame, »so etwas geht eine Zeitlang, endlich aber kommt es doch immer zum Bruch. Ehrlichkeit währt am längsten.«

Die alte Dame sprach das mit einer solchen Würde, daß José wirklich für einen Moment stutzig wurde, und wie angstvoll haftete indessen Isabellens Blick auf ihm – wie er ihr aber nur das Auge zuwandte, wich sie ihm aus und nahm ihre Arbeit wieder auf.

»Sie sind so still, Sennorita – Sie sehen wirklich leidend aus.«

»Kopfschmerzen, die mich seit einigen Tagen quälen, weiter nichts,« erwiderte das junge Mädchen, »es mag auch sein, daß die ewige Unruhe in der Stadt viel dazu beigetragen hat mich nervös zu machen. Ich wollte, ich könnte hinaus auf das Land.«

»Und glauben Sie, daß Sie da ruhiger wohnten?« fragte José. »Die Banden der Regierungstruppen streifen überall umher, und weit in die Berge müßten Sie sich schon zurückziehen, um von ihnen nicht belästigt zu werden.«

»Also ist das Gerücht nicht wahr, daß sich blaue Truppen in der Nähe gezeigt haben?« fragte die Sennora rasch, »es hieß so heute morgen.«

»Möglich ist es, aber ich glaube es kaum. Die Reconquistadoren werden keine kleinen Streifkorps hierherschicken – wozu auch – sondern warten, bis sie stark genug sind, einen vereinten Angriff zu machen, und dann hoffe ich – ist auch die Revolution bald beendet.«

»Caramba, ja,« rief lachend die Sennora, »das glaube ich auch; aber was ich Sie fragen wollte, Sennor: nach dem heutigen Fluchtversuch oder der Flucht des einen Gefangenen wird die Regierung nur noch strengere Maßregeln gegen die anderen armen Teufel ergreifen. Ist es denn gar nicht möglich denen zu helfen? Sie sprachen doch einmal von einem Plan, den einzelne junge Leute entworfen hatten, Falcon in ihre Gewalt zu bekommen und ihn dadurch zu zwingen, die politischen Gefangenen sämtlich freizugeben. Die Sache scheint mißglückt zu sein.«

»Es scheint so,« antwortete der junge Mann, jetzt aber doch vorsichtig gemacht. »Man begreift nicht recht, woher Falcon Kunde von einem derartigen Plan bekommen haben konnte, aber einige der Beteiligten wurden plötzlich verhaftet, und ich weiß jetzt wirklich nicht, ob man noch daran denkt, einen neuen Versuch zu machen. Ich verkehre mit jenen Leuten selten und selbst dann nur zufällig.«

»Und welchen von ihnen halten Sie für den Befähigsten unter ihnen?«

»Unter wem, Sennora?«

»Unter jenen Leuten.«

»Ich wüßte da wirklich keine Auswahl zu treffen. Sie sind meist alle zu hitzköpfig und gehen nicht mit der gehörigen Vorsicht zu Werke. So etwas sollte man eigentlich keinem einzigen Menschen, nicht einmal seinem Bruder anvertrauen, wenn er nicht selber tätig dabei wirkt. Ich zum Beispiel tat sehr unrecht, selbst Ihnen damals ein Wort davon zu sagen.«

»Mir, Sennor?«

»Gewiß. Damen können so selten schweigen, besonders in einer Sache die sie interessiert und an der sie teilnehmen.«

»Ich dächte doch Sennor,« erwiderte Sennora Corona mit Würde, »ich hätte bewiesen, wie ich schweigen kann. Ich bin die Vertraute der halben Stadt.«

»Ich dächte, auch ich hätte Ihnen bewiesen, daß ich Ihnen vertraue.«

»Also wozu die langen Redensarten, es handelt sich hier nämlich um etwas Direktes – nicht um bloße Neugierde, denn die Übergriffe der Regierung werden in der Tat zu arg. Sie sperren ein, was ihnen vorkommt. – Sie selber sind ja neulich einmal verhaftet worden – kein Mensch weiß weshalb, und so wenig ich Falcon etwas Böses wünsche, so möchte ich doch selber, daß man seiner, und wäre es auch nur auf einen Tag, habhaft würde, um die Freilassung aller politischen Gefangenen zu erzwingen. Selbstverständlich dürfte dem Präsidenten aber dabei nichts geschehen.«

»Und wollen Sie mich dazu werben, Sennora?« fragte José mit einem leichten Lächeln.

»Nein,« erwiderte die alte Dame entschieden, indem sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte. »Sie würden sich dazu gerade so wenig schicken, wie ich selber, Don José, aber ich habe einen passenden Mann dazu, und es kommt jetzt nur darauf an, ihn an die richtige Quelle zu weisen, um alles, was wir wollen, rasch zu erledigen.«

»Und wer ist das?« fragte José gespannt.

»Das ist für jetzt noch mein, oder vielmehr sein Geheimnis,« sagte Sennora Corona, die Unterlippe vorschiebend, »ich will auch einmal ein Geheimnis haben,« setzte sie – ein trotziges Kind, jedoch nicht glücklich, nachahmend – hinzu, »aber ich stehe gut für ihn, und ich denke, daß ich imstande bin, für jemanden Bürgschaft zu leisten.«

»Kein Zweifel, Sennora, gewiß kein Zweifel, aber wollen Sie mir dann nicht gütigst sagen, was Sie eigentlich von mir verlangen und worin ich Ihnen dienen kann?«

»Sehr gern, mein junger Freund, nur mit der Bemerkung, daß Sie dadurch nicht mir, sondern der Sache selber dienen. Sagen Sie mir aufrichtig, an wen kann ich den jungen Mann am besten weisen? Wer ist der Tüchtigste, oder wenigstens der, den Sie für den Tüchtigsten halten, eine solche – wir können immer sagen: kleine Verschwörung zu leiten, denn die Ausführung wird doch gewöhnlich dem jungen, hitzköpfigen Volk überlassen, das selber nicht imstande ist, einen richtigen – und die Hauptsache – praktischen Plan zu entwerfen.«

»Hm,« machte José und sah sinnend eine Weile vor sich nieder, »wenn die Möglichkeit einer solchen Maßregel vorläge, so hätte ich am Ende selber nichts dagegen, obgleich ich mich bis jetzt der Sache ferngehalten habe und – aufrichtig gestanden, auch persönlich nichts damit zu tun haben mag – schon meines Vaters wegen. Der alte Herr haßt jeden entschiedenen Schritt und läßt dem Ganzen am liebsten ruhig seinen Lauf; ja, ich bin sogar noch nicht einmal mit mir im klaren, ob er im ganzen nicht eher für, als gegen Falcons Regierung ist.«

»Ich glaube – gegen,« sagte Sennora Corona, aber José schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht, es gibt Momente wo er auf das entschiedenste Falcons Partei nimmt und ihn bis aufs Blut verteidigt.«

»Aber Sie finden das überall im Bürgerstand,« meinte Sennora Corona, »ich bin erstaunt gewesen, so viele Opposition gegen – unsere Ansichten anzutreffen.«

»Glauben Sie wirklich?«

»In der Tat – doch wir kommen von der Hauptsache ab, und die Zeit drängt. Also wen würden Sie mir raten, an den sich unser junger Freund wenden kann – und daß er imstande ist Ihnen die wichtigsten Dienste zu leisten, dafür bürgt Ihnen mein Wort.«

»Ich wüßte wohl den Richtigen,« erwiderte José – der sich aber völlig auf seiner Hut befand – leise, »es wird nur schwer sein ihm beizukommen, denn er ist außerordentlich vorsichtig und dabei einer unserer bedeutsamsten Agenten, weil gerade niemand in ganz Caracas – der nicht zur intimen Partei gehört – auch nur eine Ahnung von seiner politischen Tätigkeiten hat. Aber Sie kennen ihn gewiß, denn in Ihren Kreisen muß er oft genug erwähnt sein.«

»Ich bin sehr gespannt, wer das sein könnte.«

»Sollten Sie Don Horacio nicht kennen?«

»Don Horacio? Welchen? – Ich kenne mehrere.«

»Horacio Enano.«

»Caramba!« schrie Sennora Corona fast mit lautem Gelächter auf. »Sie wollen mir doch nicht weißmachen, daß unser kleiner Horacio im stillen für die Blauen – haha! – Das ist zu komisch – im stillen für die Blauen wirke? Ein Mann, der Krämpfe bekommt, wenn er nur eine blaue Blume sieht.«

José war vollkommen ernst geblieben. – »Sie haben recht, aber was beweist das? – Weiter nichts, als daß er seine Rolle ausgezeichnet spielt.«

»Seine Rolle?«

»Glauben Sie nicht, Sennora, daß ein Mann nur zu einem bestimmten Zweck eine politische Farbe annehmen könnte? Ich bin überzeugt, eine Frau wäre das nicht so leicht imstande, denn sie hat ihr Herz zu sehr auf der Zunge, aber Enano kann es und hat es bewiesen. Er besitzt das volle Vertrauen Falcons, für dessen eifrigsten, ja zu überschwenglichen Verehrer er gilt, und ich gebe zu, daß er in manchen Dingen zu weit gegangen ist, um sich als solcher zu zeigen. Es war nicht klug, denn bei einer Verstellung muß man vor allen Dingen das rechte Maß zu halten suchen, da eine Übertreibung leicht verdächtig macht. Es scheint ihm aber trotzdem in den Augen der Regierungspartei, die für ein grobes Lob empfänglich ist, noch nicht geschadet oder Mißtrauen gegen ihn gesäet zu haben, und ich müßte mich trotzdem sehr irren, wenn er bei der Befreiung Castilias nicht ebenfalls der war, der wenigstens hinter den Kulissen die Fäden hielt – Boten zwischen ihm und dem alten Castilia gehen wenigstens fortwährend ab und zu.«

»Wissen Sie das gewiß?« rief Sennora Corona, von ihrem Stuhl halb emporfahrend.

»Seit die Sennorita in unserem Haus ist, habe ich die Beweise dafür oft in Händen gehabt. Wie er im Herzen gesinnt ist, weiß ich außerdem genau aus eigener Erfahrung, und da er das Orakel der jungen Reconquistadoren scheint, die ihn nur nachts besuchen dürfen, wie er auch alle die wichtigsten oder wenigstens gefährlichen Papiere derselben in Verwahrung hat, glaube ich, daß das der beste, ja vielleicht der einzige Mann wäre, an den sich Ihr junger Freund wenden könnte. Aber dringend – dringend muß ich Ihnen Verschwiegenheit ans Herz legen, denn gerade in dieser Zeit brauchen wir notwendig einen Mann, der uns sichere Nachrichten aus Regierungskrisen bringt, und schon ein gegen ihn erregter Verdacht würde ihn für uns unbrauchbar machen, wenn er sich auch, hinsichtlich aller Beweise gegen ihn sicher genug gestellt haben mag.«

»Ich begreife nur noch nicht recht, wie er Ihnen nützen kann,« sagte die Sennora, der der Gedanke nicht in den Kopf wollte.

»Sie begreifen das nicht? Einfach genug,« erwiderte José »denken Sie sich jemanden, der mit der Partei, welcher er angeblich in vollem Sinne zugehört, frei und offen verkehrt. Wird er nicht alles erfahren, vorüber sich diese untereinander ausspricht? Ihre Pläne, ihre Befürchtungen, ihre Hoffnung? – Ja, das nicht allein, er lernt auch die geheimen, und dadurch gefährlichsten Kundschafter kennen, und mancher von der Regierung vorbereitete Schlag wurde von der Revolution, die zeitig Nachricht davon bekam, entweder ganz abgewehrt, oder doch eines sonst sicheren Erfolges beraubt.«

»Merkwürdig,« rief die Sennora in vollem Erstaunen, »ich hätte es im Leben nicht für möglich gehalten, und es will mir noch nicht in den Kopf. Es ist nicht denkbar, daß sich ein Mann so verstellen könnte!«

»Enano? Trauen Sie dem,« sagte lachend José, »der hat es tüchtig hinter den Ohren – aber meine Damen, ich bedaure, meine Zeit ist abgelaufen – nur noch eins, Sennora, wollen Sie Ihren Freund zu Enano schicken, so lassen Sie ihn nicht allein gehen, oder der kleine Bursche denkt gar nicht daran, einem Fremden zu vertrauen. Es muß jemand dabei sein, den er genau, als zu der Partei gehörig, kennt, und ich erbiete mich da sehr gern, Ihnen behilflich zu sein.«

»Ich danke Ihnen, Sennor,« rief die Dame, die noch immer in Gedanken mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, »ich werde mich an Sie wenden, wenn ich erst mit meinem jungen Freund gesprochen habe. Indessen bitte ich aber auch Sie, über die Sache tiefes Stillschweigen zu beobachten. Sie ist noch nicht reif, und je weniger davon gesprochen wird, desto besser.«

»Sie dürfen vollständig auf mich rechnen, Sennora. Und haben Sie, Sennorita, keinen einzigen freundlichen Blick für mich heute?«

»Ich – Sennor?« entgegnete Isabel, die bis dahin keine Silbe in die Unterhaltung geworfen. »Sie waren so sehr mit meiner Mutter beschäftigt, und ich verstehe so wenig, so gar nichts von Politik.«

»Ich habe Sie noch nie so still, so gedrückt gesehen, Isabel,« sagte José herzlich, »fehlt Ihnen etwas? Kann ich Ihnen vielleicht in etwas helfen? Sie wissen kaum, wie gern ich es tun würde.«

»Ich bin davon überzeugt,« erwiderte das junge Mädchen leise, »aber es ist wirklich nichts als ein augenblicklicher, hoffentlich vorübergehender Kopfschmerz, und ein Arzt,« setzte sie mit einem fast wehmütigen Lächeln hinzu, »sind Sie ja doch nicht.«

»Vielleicht dennoch,« rief José, »vielleicht ein Seelenarzt.«

»Ach was,« rief Sennora Corona, während Isabel den Kopf abwandte, »Seelenärzte brauchen wir hier im Hause nicht; das Mädel hat Migräne, alles, was ihr fehlt, ist meine Natur, ich war anders in dem Alter, Don José, aber das weiß der Henker, unsere Jugend wird von Jahr zu Jahr zimperlicher und schwächer. Sie braucht nichts wie Ruhe, die aber freilich in diesem gesegneten Venezuela nicht mehr zu finden ist, bis einmal ein oder die andere Partei wieder Ordnung hergestellt hat.«

»Leben Sie wohl, Isabel,« sagte José, dem jungen Mädchen die Hand entgegenstreckend, »wenn ich Sie wieder sehe, hoffe ich Sie heiterer zu finden.«

Isabel sah ihn mit ihren großen Augen voll an, sie versuchte zu lächeln, aber der Blick schwamm in Tränen.

»Leben Sie wohl,« entgegnete sie, aber so herzlich, wie sie nie mit ihm gesprochen, es war auch fast, als ob sie noch etwas hinzusetzen wolle, aber der scheue Blick suchte nur die Mutter, und sie schwieg. José fühlte dabei, daß ihn die alte Dame los sein wollte, denn sie drängte schon der Tür zu; er hob deshalb nur Isabellens Hand leise an die Lippen, schüttelte dann der Sennora Corona herzhaft die Hand und fand sich, wenige Minuten später wieder mit seinen eigenen Gedanken allein, draußen auf der Straße.



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