Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Wirkungen.

Während sich draußen im Lande die Revolution mit jedem Tage kräftigte und neue Anhänger fand, die einen anderen Zustand der Dinge jetzt unter jeder Bedingung mit den Waffen herbeiführen wollten, überließ man sich in der Hauptstadt oder wenigstens in den leitenden Kreisen einer völligen Sorglosigkeit. Bei Falcon selber, der nur seine Kreaturen hörte, schien sich auch der Glaube entschieden festgesetzt zu haben, daß die ganze Revolution in weiter nichts ihren Ursprung habe, als in den Köpfen einiger Unzufriedenen in Caracas, und daß er nichts für sich zu fürchten brauche, wenn er diese nur niederhielt. Allerdings stand die Eröffnung der Kammern wieder bevor, und über die Stimmung der Majorität war er unterrichtet – aber was konnten sie machen? Protestieren, – weiter nichts, und daß sie nicht zu keck vorgingen, dagegen hatte ihm schon sein Kriegsminister versprochen, Sorge zu tragen. Falcon war allerdings kein Mann gewaltsamer, besonders blutiger Maßregeln, kein Tyrann im vollen Sinn des Wortes, aber seine Ruhe wollte er haben. Die Leute sollten sich nicht um Dinge bekümmern, die sie seiner Meinung nach gar nichts angingen, und da er nur sehr selten Leute fand, die ihm, wie Arvelo, vom Herzen weg die Wahrheit sagten, so hielt er solche einzelne, mit denen er zusammentraf, immer nur für »Schwarzseher«, und hörte lieber auf andere, die ihm den Stand des Landes in den rosigsten Farben schilderten.

Er war heute gerade in nicht besonderer Laune, denn seine beiden Minister, Oleaga wie Montes, hatten sich bei ihm anmelden lassen, und er wußte im voraus, daß sie ihn wieder mit einer Menge von unangenehmen Dingen behelligen, wie ihm besonders raten würden, einen Reiseplan, den er hegte, aufzuschieben, und das war ihm unbequem. Er fühlte sich nämlich nicht mehr so ganz sicher in Caracas, noch dazu, da ihm das Attentat, vor dem er schon früher gewarnt worden: daß man sich nämlich seiner Person zu irgend welchem Zweck bemächtigen wolle, vor einigen Abenden wieder auf fatale und deutliche Art ins Gedächtnis zurückgerufen wurde.

Vermummte Männer hatten nämlich auf der Straße einen Mann in einer Cobija, der aus dem »Palais« kam, überfallen und fortgeschleppt, ihn aber später, als sie sein Gesicht gesehen, wieder unbelästigt frei gelassen, ja, ihn nicht einmal beraubt, und er vermutete nicht ganz mit Unrecht, daß es auf ihn selber abgesehen war und jener fälschlich für ihn gehalten wurde.

Die Polizei hatte sich dabei als vollkommen nutzlos erwiesen und Falcon jetzt selber mehrere Aufträge gegeben, ihm verdächtige Personen zu überwachen. Aber er konnte sich in einer solchen Umgebung doch nicht wohl fühlen, und die einzige Schwierigkeit blieb nur, einen Designado oder jemanden zu ernennen, der in seiner Abwesenheit die Regierung führen solle, denn einen Vizepräsidenten gab es eigentlich gar nicht.

Falcon lag in seiner Hängematte, als ihm die Minister gemeldet wurden; er stand auf und ging ihnen entgegen.

»Caballeros, ich bin sehr erfreut, Sie bei mir zu sehen.«

»Exzellenz wissen, was uns herführt?« fragte Montes.

»Nicht genau – ich hoffe, nichts Unangenehmes.«

»Das vielleicht nicht – aber auch nichts Erfreuliches,« erwiderte Montes, »Ich habe eben Nachricht von Victoria bekommen, daß sich gleich nach Colinas Durchzug eine Masse von blauen Soldaten dort ganz in der Nähe zusammengezogen haben, und überall davon gesprochen wird, gegen Caracas vorzurücken.«

Falcon lachte. – »A propos, Montes, was haben Sie denn gestern mit Colina gehabt? Ich hörte davon.«

Montes warf den Kopf ärgerlich zurück. »Ach eigentlich nichts, Exzellenz; es handelte sich um einen Neger, den Sie auf Colinas Fürwort zum General gemacht haben, und der Bursche, ein wüst und roh aussehender Gesell aus der untersten Hefe des Volkes, kam während Colinas Abwesenheit zu mir, und ich konnte mir nicht anders denken, als daß er das allerdings echte Patent gefunden oder gestohlen habe, und erkannte es deshalb nicht an. Später scheint sich nun der Bursche, der fortwährend halb trunken war, unnütz gemacht zu haben und wurde eine Nacht auf die Wache gesteckt, brach aber von dort aus und ist seit der Zeit verschwunden. – Colina wollte mich deshalb zur Rede stellen.«

»Ich habe davon gehört,« sagte Falcon. »Die Sache ist mir sehr fatal. Der Mann soll höchst unwürdig behandelt sein.«

»Exzellenz,« fuhr Montes etwas pikiert fort »wenn nicht wirklich ein Irrtum in der Person liegt, was ich zu Colinas Ehre glauben will, so war der Mann auch ein sehr unwürdiges Subjekt für einen solchen Posten. Sogar die Soldaten haben sich über ihn lustig gemacht, und gleich die erste Nacht in Caracas hat er betrunken auf der Straße zugebracht. Ich muß bitten, mir künftig die Personen, die zu einem solchen militärischen Rang befördert werden sollen, auch selber erst persönlich vorzustellen, ich werde wenigstens nur unter dieser Bedingung meinen Namen wieder unter ein ähnliches Patent setzen. Wir haben überhaupt jetzt schon eine sehr wunderliche Mischung von Generalen in der Armee, und die Fremden fangen an, sich darüber lustig zu machen.«

»Und was sagten Sie von den Rebellen?« fragte Falcon, dem dies Thema nicht paßte.

»Daß wir ernste und entschiedene Maßregeln gegen sie in den allernächsten Tagen ergreifen müssen, oder sie statten uns hier selber einen Besuch ab.«

»Aber, bester Montes, sie haben nicht einmal gewagt, Colina mit seinem kleinen Korps anzugreifen.«

»Weil er ihnen wahrscheinlich zu rasch durchmarschiert ist. Er selber hat aber ebensowenig wagen dürfen, auch nur in der Nachbarschaft zu rekognoszieren, und ist, wie auf einer halben Flucht, hindurchgezogen. Wir hätten die Truppen nie nach Calabozo schicken sollen, ich war von Anfang an dagegen. Was nützen sie uns jetzt dort? – Gar nichts. Sie fehlen uns nur hier, wo wir sie nächstens einmal notwendig brauchen werden.«

»Sie sehen immer Gespenster. Das rebellische Nest mußte gezüchtigt werden, und die anderen Städte mögen sich ein Beispiel daran nehmen.«

»In Kagua sollen über tausend Mann Blaue liegen.«

»Unsinn – wenn die Leute zwanzig Mann beieinander stehen sehen, so macht ihre eigene Furcht in der nächsten Minute zweihundert daraus. Lehren Sie mich meine Venezuelaner kennen! Glauben Sie, daß jenes Gesindel je wagen würde, selbst Victoria anzugreifen? – Nie, und mit der Garnison dort im Rücken dürfen sie sich nicht einmal auf die Straße von Caracas wagen.«

»Exzellenz haben eine sehr feste Zuversicht.«

»Die habe ich allerdings, lieber Montes – und nun, wie ist es, Oleaga – haben Sie etwas herausbekommen in der Sache?«

»Von der Verschwörung? Nein, Exzellenz – den Mann, den Sie mir bezeichneten, habe ich auf das schärfste beobachten lassen, aber es ist mit dem besten Willen nichts Verdächtiges an ihm zu entdecken. Er scheint vollkommen harmlos – und eher ein bißchen schwach an Verstand.«

»Er scheint so – ja, das weiß ich,« rief Falcon rasch, »und gerade mit dem Schein hat er Sie ruhig bei der Nase herumgeführt. Wenn Sie bei ihm eine Haussuchung vornähmen, würden Sie die überraschendsten Dinge finden.«

»Aber, Exzellenz,« rief Oleaga erschreckt »– bei Enano eine Haussuchung! Die ganze Stadt würde darüber ihre Witze machen.«

»Und ich ersuche Sie trotzdem darum,« entgegnete Falcon scharf – »glauben Sie mir, daß ich nicht auf das Geratewohl einen Verdacht ausspreche – ich habe meine gewichtigen Gründe dafür.«

»Wir haben schon einmal auf solche Gründe hin Mißgriffe gemacht,« erwiderte der Justizmister, der sich gegen diese Zumutung auf das entschiedenste sträubte. »– Wir mußten den Koch wieder freilassen und den jungen Gonzales ebenfalls.«

»Weil die Untersuchung nicht geschickt genug geführt wurde,« bemerkte der Präsident gereizt. – »Sie haben alles nur halb getan, Oleaga, und zwar aus reiner Gutmütigkeit. Damit kommen wir nicht zum Ziel, und ich bin deshalb fest entschlossen, das Übel diesmal gleich an der Wurzel zu fassen. Jener Herr, der sich in höchst auffallender Weise für meinen treuesten Verehrer ausgibt, ist mir wegen seiner übertriebenen Lobeserhebungen schon immer verdächtig gewesen. Er kann das nicht so meinen, wie er es fortwährend öffentlich ausspricht, und ich wünsche deshalb einmal genau zu wissen, wie ich mit ihm stehe.«

»Und was vermuten Exzellenz bei ihm zu finden?«

»Lassen Sie vorzüglich nach Schriften suchen, und verwenden Sie einen geschickten Mann dazu. Ich vermute bei ihm versteckte Schriftstücke.«

»Exzellenz befehlen also die Maßregel?«

– – »Ja,« sagte Falcon nach einigem Zögern – »wenn Sie mich dazu treiben – aber weshalb wünschten Sie mich eigentlich heute zu sprechen? Ich möchte gern alles erledigen, da ich in nächster Zeit zu verreisen gedenke.«

»Ich muß Exzellenz dringend bitten,« erwiderte Montes, »den Reiseplan wenigstens auf so lange hinauszuschieben, bis wir Gewißheit über die Zustände im Innern haben. – Ich möchte wenigstens die Verantwortung jetzt nicht übernehmen und Sie sonst lieber ersuchen – einen anderen in meiner Stelle zu erwählen.«

»Caramba, Montes – Sie setzen mir das Messer auf die Brust,« rief Falcon, »und ich bin fest überzeugt, daß Sie am hellen Tag Gespenster sehen.«

»Ich kann mich irren, aber ich handle nur nach meiner Überzeugung.«

»Dann beruhigen Sie sich vorderhand noch – der Tag ist noch nicht bestimmt und – ich kann Sie auch jetzt nicht entbehren.«

»Ich selber würde mich schon leicht beruhigen, Exzellenz, wenn ich dasselbe nur von der Armee sagen könnte – die Soldaten haben aber in den letzten vierzehn Tagen nur dreimal jeder einen Real Löhnung bekommen und desertieren, wo sie die Gelegenheit günstig finden.«

»Es ist ein Lumpenvolk,« rief Falcon – »Republikaner wollen sie sein, und haben nur immer ihr eigenes Interesse im Auge. Woher soll ich das Geld nehmen? Silva liegt mir so schon den ganzen Tag in den Ohren.«

»Dann tut es mir doppelt leid,« sagte Oleaga, »daß ich selber eigentlich in einem ähnlichen Anliegen Exzellenz zu sprechen suchte.«

»Den Teufel auch, Sie kennen doch unsere Finanzverhältnisse!«

»Leider, aber ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Die Gefängnisse sind mit politisch Verdächtigen überfüllt, und ich kann niemanden mehr unterbringen, ich müßte ihn denn in meine eigene Wohnung nehmen. Mit etwa dreitausend Pesos aber wäre ich imstande, das neben der Kaserne liegende Gebäude –«

»Und ich kann Ihnen in dem Augenblick nicht dreitausend Centabos zur Verfügung stellen,« unterbrach ihn Falcon; »sehen Sie zu, wie Sie sich einrichten, und lassen Sie lieber die Trunkenbolde und sonstiges Gesindel, das Sie auf wenige Tage eingesperrt halten, frei. In der Kaserne selber sind auch noch einige Kasematten, die benutzt werden können. Sie müssen sich zu helfen suchen, Amigo; bedenken Sie, daß wir jetzt jeden Peso brauchen, um nur die nötigen Waffen herbeizuschaffen, und die Douanen liefern fast kein Geld mehr.«

»Dann, Exzellenz,« entgegnete Oleaga ruhig, »möchte auch ich um Enthebung von meinem Dienst bitten. Sie finden vielleicht einen Ersatz für mich, der besser mit dem ›Wenigen᱑ zu wirtschaften versteht, als ich.«

»Aber ich kann Sie ebensowenig entbehren, Amigo, wie Freund Montes. Sie müssen noch bei mir aushalten. Wie wäre es denn, wenn wir, wie es in früheren Revolutionen ebenfalls geschah, die Güter der Rebellen konfiszierten? Sie sind bis jetzt in unverantwortlicher Gutmütigkeit geschont worden und konnten dadurch in der nämlichen Zeit Schätze sammeln, in der unser Staat langsam zugrunde ging, oder doch wenigstens verarmte. Weshalb haben Sie mir dazu noch keinen Vorschlag gemacht?«

»Exzellenz,« sagte Oleaga achselzuckend, »das wäre ein Gewehr, das nach hinten und vorn zugleich schießt, und ich möchte nicht der sein, der es abfeuert. Meiner individuellen Meinung nach hat die Revolution viel größere Dimensionen angenommen, als Sie zu glauben scheinen, und wenn wir heute zu einer so verzweifelten Maßregel griffen, so sind wir nicht sicher, ob uns die Herren von der anderen Partei nicht einmal bei der nächsten Gelegenheit alles heimzahlten. Ich habe zum Beispiel selber eine Hacienda an der Lagune, die bis jetzt nicht mehr besteuert ist, als alle die übrigen, ohne Unterschied der Partei. Würde ich aber heute einen solchen Gewaltakt befürworten, so könnte ich mich auch darauf verlassen, daß sie mir dort draußen keinen Stein auf dem anderen ließen. Solange ich Minister bin, werde ich zu solchen Maßregeln nie meine Zustimmung geben.«

Falcon lächelte. »Von ihrem Standpunkt aus haben Sie vollkommen recht, Oleaga. Wir sind uns selbst die nächsten – aber Sie reden ja, als ob die Revolution überhaupt siegen könnte.«

»Exzellenz,« fuhr Oleaga fort, »sie hat schon gesiegt, wenn sie sich in diesem Umfang nur halten kann, denn sie untergräbt unsere Regierung dadurch, daß sie uns alle Einkünfte abschneidet. Wir befinden uns hier wie in einer belagerten Stadt, und Montes hat ganz recht – wenn wir diesem Zustand nicht mit gewaffneter Hand ein Ende machen können und zur Offensive übergehen, müssen wir unsere Sache als eine verlorene aufgeben.«

»Ich will es mir überlegen, drängen Sie mich nur nicht.«

»Außerdem scheint es, als ob die Revolution nun doch wirklich einen Kopf bekäme. Bis jetzt stritten sich Miguel Antonio Rojas und einige andere Generale darum, und wir hatten dabei nicht so viel zu befürchten. Dalla Costa hat ebenfalls eine Führerschaft entschieden abgelehnt, und es gab keinen Mann, der die Zügel in die Hand nehmen konnte. Jetzt hat sich einer gefunden.«

»Wer?« fragte der Präsident gespannt.

»Monagas.«

Falcon lachte laut auf. »Und ist das Ihr Ernst, Oleaga? Glauben Sie in der Tat, daß die Venezuelaner dem »Tiger des Ostens,« wie er mit Recht genannt wurde, die Köpfe noch einmal in den Rachen stecken werden, nachdem er schon verschiedene Male zugeschnappt hat? Glauben Sie, daß sie ihm das Blutbad im Franziskanerkloster vergessen haben, wo er die Deputierten wie wilde Tiere niederschießen ließ, oder seine früheren Metzeleien der Indianer? Wenn wir niemanden weiter zu fürchten haben, Amigo, vor Monagas sind wir sicher genug.«

»Quien sabe,« meinte achselzuckend der Minister, »es sind schon wunderlichere Dinge in Venezuela vorgekommen. Monagas arbeitet jedenfalls in diesem Augenblick an einem Aufruf an das Volk und – Exzellenz kennen gewiß das Sprichwort: ›Unter den Blinden ist der einäugige König‹.«

»Was Sie mir da sagen, Oleaga,« erwiderte Falcon, »beruhigt mich sehr. Wenn wirklich etwas derartiges im Werke ist – was recht gut möglich sein kann – und das Volk wartet darauf, so haben wir überflüssig Zeit unsere Maßregeln zu treffen, denn Monagas, darauf gebe ich Ihnen mein Wort, ist uns nicht gefährlich. Mit Ihnen, Montes, werde ich später – morgen oder übermorgen, sprechen, was wir am besten tun können, um die Rebellen an der Lagune auseinanderzujagen. Vielleicht schicken wir ihnen Colina auf den Hals, und Sie, Oleaga, bitte ich dringend, den besagten Herrn heimzusuchen – aber ohne Zögern. Je rascher sie es tun, desto besser, damit er nicht gewarnt wird. Von dem entflohenen Castilia hat man nichts wieder gehört?«

»Nein, Exzellenz.«

Der Präsident zuckte mit den Achseln und zog sich mit einer leichten Verbeugung in ein anderes Zimmer zurück, es den beiden Herren überlassend ihren Heimweg unverrichteter Sache anzutreten.


Oben in der Calle del Comercio bewohnte Sennor Enano, oder Don Horacio, wie er nur in der ganzen Nachbarschaft genannt wurde, ein kleines, allerliebstes Haus, das er sich aufs beste hergerichtet.

Er hatte einen kleinen niedlichen Hof darin, kleine niedliche Stübchen mit eben solchen Möbeln, und ein kleines allerliebstes Mädchen, das die Küche besorgte und die gröberen Arbeiten verrichtete. Das einzige nur, was nicht zu dem allen stimmte, war seine Gattin, die man allerdings weder klein noch allerliebst nennen konnte. Sie war lang und hager – etwa fünf Jahre älter als Don Horacio, der im Anfang der Vierziger stand, und – man hätte fast sagen können, häßlich – wenigstens nahmen ihre scharfen Gesichtszüge und ihr fast zahnloser Mund nicht besonders für sie ein, während das Gerücht ging, daß ihre Zunge noch viel spitzer sei als ihre Nase.

Don Horacio war, wie wir schon gesehen haben, ganz das Gegenteil von ihr – d. h. klein, dick und gemütlich, etwas schwärmerischer Natur. Seine Freunde hatten ihn sogar im Verdacht, daß einige Gedichte, die in der offiziellen Zeitung gestanden (denn den »Föderalista« verachtete er gründlich als oppositionelles Blatt), aus seiner Feder geflossen seien. Diese Gedichte besangen stets ein Ideal, das der Autor suchte, aber nicht finden konnte. Besonders schwärmte er für weibliche Ideale – der Autor nämlich – Enano verwahrte sich übrigens auf das heftigste gegen diese Autorschaft, da seine Gattin ihm diese ewige Sehnsucht nach Idealen nie verziehen haben würde. Aber auch das Vaterland wurde zuweilen besungen, und einmal erschien eine Ode an Falcon selber, die das überschwenglichste leistete, was man von einem wirklichen »Hofpoeten« hätte erwarten können.

Beide Gatten hingen übrigens dem jetzigen Regime mit voller Hingebung an – und weshalb? – Die böse Welt sagte, Falcon sei Donna Rosauras erste Jugendliebe gewesen, und daß Don Horacio keine andere politische Meinung haben durfte, als die ihrige, verstand sich von selbst. Wie dem aber auch sei, sie waren Falcon persönlich zu Dank verpflichtet, der ihnen in früheren Zeiten das kleine Haus geschenkt haben sollte, und da Don Horacio selber etwas Vermögen besaß und eine, wenn auch untergeordnete Stelle im Finanzministerium bekleidete, hatten sie genug, um sorgenfrei zu leben.

Don Horacios größter Genuß aber war, nachmittags um vier Uhr, nach dem Schluß seiner Bureaustunden, nach Haus zu kommen, sich dann unter das Portal auf seinen Hof zu setzen, in welchem in der Mitte ein Granatbaum und rundherum einige Topfpflanzen standen, und hier, bei einer Creolschokolade, die offizielle Zeitung bis zu der letzten Annonce hinab gewissenhaft durchzulesen. Er ärgerte sich wohl zuweilen über Helmbolds sich ewig wiederholende Anzeige seines De Buchu-Extrakts, wie über Peyer y C., der eine Annonce unter der anderen immer wieder mit demselben Namen brachte – aber das schadete nichts – es war gerade seine »Erholung«, und von der ließ er sich eben nichts kürzen – nicht einmal die Annoncen.

So saß er auch heute wieder, nachdem er sein frugales Mittagessen eingenommen, auf seinem bequemen Rohrstuhl in der balsamischen und kühlen Luft, und genoß noch mit vollen Zügen – weniger die Luft als den Leitartikel, der die »verzettelte« Rebellion verhöhnte und den »Blauen« einen baldigen und ruhmlosen Untergang prophezeite, als draußen sehr entschieden an die Tür gepocht wurde, so daß Don Horacio überrascht von seiner Zeitung aufsah. Es war etwas zu Außergewöhnliches und dabei Unangenehmes, daß er in seiner Lektüre gestört wurde.

»Der hat's sehr eilig,« sagte Donna Rosaura, die sich, neben ihrem Gatten, ohne Lektüre, dem Genuß einer Tasse Kaffee hingab – »aber ich glaube, er wird wohl warten können« – und sie rührte sich nicht auf ihrem Stuhl. Wenn sie aber geglaubt haben mochte, den Klopfenden durch solche Mißachtung einzuschüchtern, so hatte sie sich sehr geirrt, denn die Worte waren kaum ihren Lippen entflohen, als das Getöse an der Tür, und zwar in so verschärftem Maße wiederholt wurde, daß das kleine Haus ordentlich zitterte.

»Eine solche Unverschämtheit ist mir aber in meinem Leben noch nicht vorgekommen,« rief Dame Rosaura, von ihrem Stuhl emporfahrend, »ich hoffe nicht, daß das einer von deinen Freunden ist, Horacio.«

»Ich hoffe es auch nicht,« murmelte Horacio leise vor sich hin, als seine Gattin mit raschen Schritten dem Torweg zuging, denn er wußte, was ihn später in diesem Falle erwartet hätte. – Er horchte auch vorsichtig nach der Tür hinüber, die er von seinem Sitze aus nicht sehen konnte, hörte aber merkwürdigerweise gar nicht die Stimme seiner Gattin, sondern nur einen tiefen Baß, der nach Don Horacio fragte, und ob er zu Hause wäre.

Donna Rosaura mußte, natürlich bejahend, geantwortet haben, denn Schritte wurden auf dem mit Fliesen belegten Gang hörbar, und Enano seufzte tief auf. Ein Besuch, und gerade in dieser Stunde – es war so unangenehm als möglich, ließ sich aber auch nicht mehr ändern, und seine angeborene Gefälligkeit verhinderte ihn, selbst nur ein mißvergnügtes Gesicht zu zeigen. Er lächelte.

Die Schritte kamen näher – es konnte möglicherweise ein Vorgesetzter sein, und Don Horacio, die Zeitung mit einem Seufzer auf einen kleinen, runden Tisch legend, stand von seinem Stuhl auf und sah sich, einige Sekunden später, zu seinem unbegrenzten Erstaunen einem ihm sehr gut bekannten Polizeioffizianten gegenüber, der noch, um einen amtlichen Besuch außer Zweifel zu stellen, zwei gewöhnliche Polizeidiener bei sich hatte.

»Don Pablo,« rief Horacio mit dem erstauntesten Gesicht von der Welt, indem er ihm verlegen die Hand entgegenstreckte, »was verschafft mir diese Ehre?«

»Don Horacio,« erwiderte der Mann des Gerichts, indem er die dargebotene Hand kräftig schüttelte, »es tut mir in der Tat leid, Sie zu belästigen, aber Sie wissen, der Pflicht steht alles andere nach; dürfte ich Sie vielleicht um eine Zigarre bitten, ich habe meine zu Hause vergessen.«

Horacio sah ihn verblüfft an. – »Jawohl, mit dem größten Vergnügen,« griff dabei in die Tasche und holte ein Paket Papierzigarren heraus, wie sie in Venezuela gewöhnlich geraucht werden – »hier, mein bester Don Pablo; aber ich kann mir doch nicht denken, daß Sie deshalb allein und in dieser Begleitung hierhergekommen wären.«

»Nein,« antwortete Don Pablo, indem er die Zigarre nahm, sie auf- und dann wieder fest zusammendrehte und zuletzt mit einem auf dem Tisch stehenden Feuerzeug anzündete – »deshalb nicht, Don Horacio – das ist eine famose Havana – aber ich habe den Auftrag bei Ihnen Haussuchung zu halten, und ich möchte Sie deshalb freundlich bitten, mir Ihr Arbeitszimmer aufzuschließen. Bitte, beunruhigen Sie sich nicht, Sennora – weiter nichts, nur das Zimmer, wo der Schreibtisch steht – die ganze Sache hat sonst keinen Zweck.«

Horacio stand da wie aus Stein gehauen. Bei ihm Haussuchung und von seiten der Regierung? – Es war gar nicht denkbar und mußte auf einem Irrtum beruhen.

»Don Pablo,« bemerkte er endlich mit seiner gewinnendsten Höflichkeit, »Sie haben sich doch nicht in der Hausnummer geirrt? Ich habe Nummer 45. Neben mir wohnt ein Schneider, ein sehr zweifelhafter Charakter, den ich schon mehrmals habe revolutionäre Lieder singen hören. Lautet der Befehl wirklich bei Horacio Enano?«

»Das sind die Worte,« sagte der Polizeibeamte, »Hausnummer kommt gar nicht in Betracht. Dürfte ich Sie bitten, mir das Zimmer zu öffnen?«

War Horacio erstaunt gewesen, so war es seine Frau noch mehr, denn ohne eine wirkliche Veranlassung, konnte doch die Polizei nicht eine solche Maßregel ergreifen, und was hatte ihr unglückseliger Mann wieder getan? Konnte man ihn überhaupt auch nur eine Stunde sich selber überlassen, ohne daß er Dummheiten machte? Und nun kamen sogar die Gerichte, Falcons Polizei, und hielten ihn für einen verdächtigen und gefährlichen Menschen!

Horacio war ganz blaß geworden, denn überhaupt ängstlicher Natur, hatte er, obgleich selber bei der Regierung angestellt, von Jugend auf eine gewisse Scheu vor der Polizei gehabt, die er sich immer nur – wie die Engel mit dem Schwert – als wachsame und strenge Richter vorstellte. Aber war er sich irgend eines Vergehens bewußt? – So sehr er sich abmühte, es fiel ihm nicht ein einziges ein, was auch nur im entferntesten eine solche Heimsuchung verdient hätte. Wenn es einen Menschen in Venezuela gab, der mit der Regierung vertrauensvoll durch dick und dünn ging, so hieß der Horacio Enano – und jetzt wollte man bei ihm haussuchen? – Er war mild und sanft von Charakter, aber dagegen empörte sich doch sein Selbstgefühl, und mit einer besonderen Würde, die er sonst nicht zum Vorschein brachte, sagte er:

»Don Pablo, wenn Sie einen solchen Auftrag von unserer Regierung, die Gott erhalten möge, haben, so steht Ihnen bereitwillig das ganze Haus zur Disposition. Bitte, beginnen Sie; ich werde Ihnen nicht das geringste Hindernis in den Weg legen.«

»Ich habe es nicht anders von Ihnen erwartet, Don Horacio,« erwiderte der Polizeibeamte, »und nun seien Sie so gut und lassen Sie uns so rasch als möglich ans Geschäft, denn die Sonne geht bald unter, und ich möchte doch noch gern vor Dunkelwerden fertig sein.«

Horacio erwiderte kein Wort weiter. Er warf nur noch einen wehmütigen Blick zurück auf die Zeitung, der ganze Nachmittag war ihm verdorben, und ging dann festen Schrittes dem Beamten voran, in sein Arbeitszimmer hinein, wo er nur mit einer einladenden Bewegung seines rechten Armes seinem Begleiter die Erlaubnis erteilte, darin umherzustöbern, wie es ihm beliebte.

Der Mann ließ sich auch nicht lange nötigen. Er besaß, nach den vielen ähnlichen Aufträgen der letzteren Zeit, schon eine ziemliche Erfahrung in derlei Dingen, und seinen Hut ablegend, winkte er nur seine beiden Leute herbei, um vor allem die Untersuchung des Schreibtisches zu beginnen.

Der Schreibtisch war ein altspanisches oder vielleicht sogar ein französisches oder deutsches Möbel, das Horacio einmal auf einer Auktion erstanden, mit einer Masse Schiebladen und Fächer und verschließbarer Klappen, in dem sich ein gelernter Tischler kaum zurecht gefunden haben würde. Der Beamte schien aber gerade der Mann dazu, sich auch dadurch nicht irre machen zu lassen, und visitierte mit einer Kaltblütigkeit die verschiedenen Gefache, daß es selbst Donna Rosaura in Erstaunen setzte. Aber er fand nichts, was selbst in den Augen eines Polizeibeamten staatsgefährlich gewesen wäre.

Don Horacio hatte nämlich so wenig Korrespondenz oder andere Schriftstücke, daß er die Fächer weit mehr zu häuslichen Zwecken, als dazu gebrauchte, wozu sie doch jedenfalls ursprünglich bestimmt gewesen. In dem einen lagen seine Socken, ein Paar weniger als ein halbes Dutzend, in dem anderen frischgewaschene Hemden, darunter Vorhemdchen und Kragen, links verschiedene Unterkleider. Eine Schieblade enthielt nichts weiter als ein Paar weiße, aber schon getragene Glacéhandschuhe, und dann kam eine andere, in der Zigaretten ihren Aufenthalt hatten. Don Pablo nahm sich eine davon, denn die seinige war aufgeraucht.

Papiere fanden sich allerdings auch noch vor, aber vollkommen harmloser Natur: quittierte Rechnungen, Notizen über Einnahme und Ausgabe mit einem sehr kleinen Vorrat von noch weißem Papier und einigen Kuverts, und Enanos Frau stand daneben, wie der Beamte die verschiedenen Stücke kopfschüttelnd in der Hand herumdrehte und dann eins nach dem anderen wieder auf seinen Platz legte. Don Pablo war aber kein Mann, der die Sache oberflächlich abmachte, und als er alle zugänglichen Fächer genau durchgemustert, fing er an, sich den Schreibtisch im allgemeinen zu betrachten, um zu sehen, wie die Schiebladen mit dem Umfang des Möbels übereinstimmten.

Da stellte sich denn bald heraus, daß das in der Tat nicht überall der Fall war. Links und rechts befanden sich zwei Schiebladen, die nicht die ganze Länge des Schreibtisches ausfüllten, sondern noch einen dahinter befindlichen leeren Raum vermuten ließen, und der Beamte sagte deshalb mit der größten Ruhe und Artigkeit.

»Sie haben hier auch geheime Fächer, Don Horacio: dürfte ich Sie bitten mir dieselben zu öffnen?«

Geheime Fächer?! – Davon hatte selbst Donna Rosaura nichts geahnt, und sah deshalb ihren Mann mit der größten Spannung an; Horacio dagegen, der wohl wußte, daß jetzt kein Sträuben half, warf einen unruhigen Blick auf seine Gattin, konnte sich aber nicht in den Augen des Beamten auch nur insoweit bloßstellen, diese Aufforderung selbst für einen Moment zu mißachten, und drückte deshalb ohne weiteres an einer kleinen Feder, die im Nu einen rechts befindlichen Schieber aufspringen machte.

Das Fach war allerdings nicht leer, aber nach dem, was sich darin befand, hatte der Beamte nicht gesucht. Es enthielt eine weiße, etwas schmutzige, seidene Schleife, eine in Papier gewickelte, rabenschwarze Locke, eine Anzahl getrockneter Blumen, einen linken Frauenhandschuh und einen in Papier gewickelten, sehr einfachen und wertlosen goldenen Ring.

»Aber Horacio?« rief seine Frau, die sich, unähnlich dem Beamten, mit voller Neugierde über diese Schätze einer vergangenen Zeit herwarf. »Was ist denn das? – Was soll das bedeuten? Davon habe ich noch kein einziges Stück gesehen.«

Horacio faßte sich, ein glücklicher Einfall rettete ihn. »Teure Andenken an meine selige Mutter,« sagte er mit einem wehmütigen Blick auf die Gattin. »Ich wollte dir das Herz nicht schwer machen, Rosaura, und habe sie hier, der Welt verborgen, aufbewahrt.«

»Von deiner Mutter, Horacio?« rief die Frau, noch immer etwas ungläubig.

»Bitte, nun das andere Fach,« bemerkte aber der Beamte, der sich für solche Andenken nicht im geringsten interessierte.

»Und glauben Sie mir nicht auf mein Wort,« entgegnete Horacio, »wenn ich Sie versichere, daß jenes letzte Fach nichts enthält, was für den Staat von der geringsten Bedeutung sein könnte?«

»Tut mir leid, Don Horacio,« erwiderte der Polizeikommissar, »ich bin hierhergeschickt, um gar nichts zu glauben, sondern um alles zu sehen. Bitte, drücken Sie einmal auf die andere Feder, ich kann nicht herausbekommen wo sie steckt.«

Horacio seufzte tief auf, aber er wußte recht gut, daß ihm jetzt eine Weigerung nichts mehr geholfen hätte. Er drückte, und als auch diese Schieblade aufflog, sah der Beamte plötzlich einen Haufen von Manuskripten vor sich, der ihm allerdings Hoffnung gab, daß seine Untersuchung nicht ganz nutz- und erfolglos gewesen. Er kannte den kleinen Horacio schon seit langen Jahren, und hatte ihn immer gern gehabt, aber ein Polizeibeamter besitzt auch sein Ehrgefühl: den Wunsch eines Erfolges, ähnlich dem, wie ein Jäger, der nach Wild jagt. An dem Wild selber liegt ihm vielleicht gar nichts, aber – er mag doch nicht leer nach Hause kommen.

Der Polizeibeamte zog den Kasten auch – trotz seiner Freundschaft für Don Horacio – ziemlich heraus, stellte ihn auf den Tisch und fing an, die verschiedenen Papiere, die fast nur aus einzelnen Blättern bestanden, erst durchzuwühlen und dann nacheinander herauszunehmen und zu betrachten, aber der Erfolg war wiederum kein befriedigender.

»Caramba, Don Horacio,« rief der Beamte, indem er die Papiere durchblätterte und einiges flüchtig las, »das sind ja lauter Verse; ich habe gar nicht gewußt, daß Sie auch dichten könnten.«

»Dichten?« wiederholte Donna Rosaura, indem sie herbeikam und die Hand nach den Papieren ausstreckte.

»Bitte,« wehrte sie aber der gewissenhafte Beamte ab, »zuerst muß ich Sie ersuchen, mir die Durchsicht der Papiere zu überlassen. Wenn ich damit fertig bin, stehen sie Ihnen zu Diensten. – An sie – An die Entflohene – die Entflohene?« Er wurde aufmerksam und las das Gedicht zur Hälfte etwa durch – aber er fand es vollkommen harmlos, denn es war reiner Unsinn, mit überschwenglichen Worten in Reime gebracht. Er suchte weiter – ha, da war des Präsidenten Name, groß geschrieben – aber die Überschrift hieß: »An Falcon den Großmütigen,« und wie er nur ein Paar Zeilen davon gelesen, rief er erstaunt aus: »Purisima das ist ja das nämliche Gedicht, was neulich in der Zeitung gestanden hat. Sind Sie der Verfasser, Don Horacio?«

Don Horacio wurde bis hinter die Ohren rot und stammelte verlegen etwas von einfachen Versuchen, großer Verehrung usw. vor sich hin, das ebensowenig Sinn hatte, als das Gedicht selber. Donna Rosaura aber schlug in Verwunderung die Hände zusammen und lauerte nur auf den Augenblick, wo sie die übrigen Blätter an sie, an die Entflohene usw. in die Hände bekommen würde. Der Polizeibeamte stellte ihre Geduld auch nicht auf eine zu harte Probe. Nachdem er die poetischen Ergüsse flüchtig durchgesehen und gefunden hatte, daß dieselben nicht das geringste Staatsgefährliche oder gar Verräterische enthielten, sondern daß sich in ihnen höchstens die »Milch frommer Denkungsart« offenbarte, stopfte er die Blätter ziemlich rücksichtslos wieder in das Fach zurück und untersuchte nun vor allen Dingen noch einmal den Schreibtisch, ob er nicht weitere verborgene Stellen fände. Aber er fand nichts mehr. Die Schiebladen stießen alle bis hinten an die Rückwand, und nachdem er sich dann noch einmal im Zimmer umgesehen, sagte er freundlich:

»Don Horacio, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, heute bei Ihnen Haussuchung gehalten zu haben.«

»Bitte,« erwiderte Horacio, »mir haben Sie den ganzen Abend verdorben.«

»Lassen Sie sich das nicht gereuen,« tröstete ihn aber der Mann des Gerichts. »Ihr Charakter steht jetzt rein da, und verleumderische Zungen müssen schweigen – ja Falcon selber wird beschämt sein, wenn er erfährt, daß gerade der Mann, den er in falschem Verdacht gehalten, sein Dichter ist.«

»Der Präsident!« rief Horacio baß entsetzt aus; »aber es ist doch nicht möglich, daß Seine Exzellenz etwas Unrechtes von mir denken konnten, denn in meinem ganzen Leben habe ich nicht –«

»Denunziation,« sagte Don Pablo mit einer wegwerfenden Handbewegung: »besorgen Sie deshalb nichts, kommt bei uns alle Tage vor, Don Horacio. Sennorita, ich habe die Ehre, mich gehorsamst zu empfehlen,« und seinen beiden Leuten winkend, verließ er das Haus wieder, vor dem sich aber schon eine Menge Leute versammelt hatten, um Don Horacio Enano von der Polizei heimgesucht zu sehen.

Don Horacio, den sie immer scherzweise den »kleinen Falcon« nannten, das war etwas zu Außergewöhnliches und Absonderliches. Daß man bei ihm nichts Verdächtiges gefunden, verstand sich von selbst, wer aber um Gotteswillen, war nur auf den abenteuerlichen und absurden Gedanken geraten? Und es wurde am nächsten Tage von fast nichts weiter in der Stadt gesprochen. So viel glaubte man herauszusehen, daß, wenn Falcon selber einem Menschen nicht mehr traue, der ihn auf wirklich lächerliche Weise verehrte, er auch das Vertrauen auf seine ganze Regierung verloren haben müsse, und, was man überall hoffte und jetzt erwartete, nächstens abdanken würde. Nur Falcon selber dachte nicht daran.

Die Szene, die sich indessen vor Horacios Arbeitstisch abwickelte, als Donna Rosaura die Gedichte »an sie« – »an die Entflohene« usw. – noch viel genauer untersuchte, als vorher der Beamte, und das Manuskript sogar konfiszierte, geht uns nichts an. Es sind das reine Familienangelegenheiten.



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