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Auf der Hacienda an der Lagune war mit der Rettung des einzigen Sohnes auch wieder Glück und Freude und damit Vertrauen zu einer besseren Zukunft eingezogen. Das freundschaftliche Verhältnis zu Rojas befreite die Familie von jeder Belästigung, ohne daß sich der alte Castilia aber dadurch hätte abhalten lassen, für die Sache und das Heer der Reconquistadoren jedes Opfer zu bringen, das nur in seinen Kräften stand.
Viele Soldaten hatten, solange sie in der Gegend im Quartier lagen, für ihn gearbeitet und dafür guten Lohn bekommen; der größte Teil ihrer Zeit war aber doch darauf verwendet gewesen, dem Militär selbst Mundvorrat zu erzeugen, den sie sich sonst nur schwer oder gar nicht hätten verschaffen können. Sie pflegten teils das Vieh und bekamen dadurch gute Milch, wie sie auch keinen Mangel an frischem Fleisch litten: sie bauten Gemüse im Garten und hielten den Boden von Unkraut frei, damit es gedeihen könne, und verrichteten nebenbei die in der Kaffeepflanzung nötigen Arbeiten.
Indessen wurde die ganze Revolution zu einer Krisis gedrängt; denn so willig das Land die Kosten trug, die es sich durch die Ernährung der freiwilligen Truppen auferlegte, so nahmen doch besonders die Lebensmittel in ganz bedenklicher Weise ab, und das Schlimmste war, sie konnten nicht erneuert werden. Die Regierungstruppen hielten nämlich die Häfen in Besitz, und die Reconquistadoren machten auch, selbst von Valencia auf Port Cabello hin, nicht einmal einen Versuch, sie ihnen zu entreißen, da sie doch recht gut wußten, daß es ihnen nichts helfen würde. Falcon hatte mit seinen drei Kriegsdampfern die Herrschaft über die Meeresufer in Händen und konnte die Hafenplätze jeden Augenblick zusammenschießen, wie auch fremde Schiffe verhindern, dort einzulaufen. Weshalb sollte man also diese Städte ruinieren, ohne daß sich ein Vorteil dadurch bot.
Ebenso war aber auch der Handel mit dem inneren Land unterbrochen, denn wenn auch die in die kleinen Städte des Innern geworfenen Garnisonen der Hauptmacht entzogen blieben und sich nicht wieder mit ihr vereinigen konnten, so bedrohten sie doch alle Warenzüge und besonders Viehtransporte, die sonst von daher regelmäßig eingetroffen waren, und machten eine weitere Zufuhr unmöglich.
Dafür gelangten aber jetzt Nachrichten aus dem Osten selbst bis hierher. Die Revolutionsarmee erfuhr bestimmt, daß die Kunde von Monagas' Anrücken mit einem bedeutenden Heer kein Märchen sei, und Rojas sah ein, daß er, wenn er noch überhaupt eine Rolle in dieser Revolution spielen wolle, handeln müsse, um dem gefährlich werdenden Nebenbuhler den Rang abzulaufen. Der Weg von Barcelona war zu Land ein weiter; mit so vielen Menschen konnte Monagas nur kleine Tagemärsche machen, denn er mußte eine Masse von Gepäck und Munition mit sich führen; die Regenzeit hatte ebenfalls eingesetzt, und die Wege in den Gebirgen sowie in den Ebenen fingen an grundlos zu werden. Es konnten vielleicht noch Wochen darüber vergehen, bis er vor Caracas eintraf, und diese Zeit gedachte Rojas nach besten Kräften zu benutzen.
Jetzt kam plötzlich der Befehl zum Ausmarsch. Die überall verteilten Trupps wurden zusammengezogen und zu Kompagnieen oder, wie man sagte, Divisionen geordnet. Sie bekamen ihre bestimmten Führer und zogen sich nun auf der Straße gen Osten hin, um sich mit den bei Kagua und in der Nachbarschaft liegenden Schwärmen zu vereinigen. Von denen hatte aber Alvarado schon den größten Teil vorgeschoben und sich dann gleich darauf, wie wir gesehen, nach Las Ajuntas, in der Nähe von Caracas, gewandt.
Der Befehl zum Abmarsch war auch an der Lagune gegeben, und mit der Abendkühle sollten sich die Truppen in Bewegung setzen. Rojas selber war schon voraus, und Castilia versprach ihm sogleich nachzufolgen, wenn er von der Einnahme der Hauptstadt sichere Kunde erhalte. Er hatte selber dort viele, bis jetzt versäumte Geschäfte zu ordnen, durfte aber nicht wagen, Caracas zu betreten, solange Falcon und seine Beamten noch dort herrschten, denn er wußte recht gut, daß er in demselben Augenblick, wo man ihn erkannte, auch verhaftet wäre. Freilich war das Dekret, das Arvelo erlassen hatte, und das allen politischen Gefangenen die Freiheit gab, noch nicht wieder aufgehoben, aber die jetzt dort regierende Militärbehörde kümmerte sich wenig genug darum. In den Gefängnissen häuften sich schon wieder teils wirklich gravierte, teils nur verdächtige oder der Regierung anscheinend gefährliche Personen, und erwarteten jetzt mit Sehnsucht den Angriff auf die Stadt der so lange damit zögernden Befreier.
Oberst Bermuda hatte den Befehl bekommen, die letzten Nachzügler zu sammeln, und mit ihnen dann in Eilmärschen den Vorangegangenen zu folgen. Jetzt bereitete sich auch Eloi Castilia vor, den Reconquistadoren seine Dienste anzubieten, aber er mochte nicht unter Bermuda dienen und auch nicht die Hacienda verlassen, bis dieser selber abgezogen sei. Er traute ihm nicht und glaubte volle Ursache dafür zu haben, und doch schien es fast, als ob Bermuda gerade auf seine Abreise gewartet hätte. Schon seit zwei Tagen waren keine Leute mehr eingetroffen und Bermuda konnte getrost seine Aufgabe als erfüllt ansehen, und sich dem Haupttrupp wieder anzuschließen suchen; aber trotzdem verschob er den Aufbruch solange als nur irgend möglich. Jetzt ging es nicht länger, er mußte fort, wenn er sich nicht den Vorwürfen seines Generals aussetzen wollte, und die Leute bekamen die Order zu marschieren. Unter dem Befehl eines jüngeren Offiziers rückten sie aus, und nur der Oberst selber war noch zurückgeblieben, um auf die Einladung des alten Castilia die letzte Mittagsmahlzeit mit ihm zu verzehren.
Der alte Castilia wußte gar nichts von dem Brief, den der Oberst hinter Teja hergesandt hatte, denn auf des Freundes Bitte verschwieg es Eloi selbst seinem Vater, weil er genau wußte, daß dieser den Buben dann auch nicht länger im Hause geduldet hätte.
Rosa war mit Ana unten im Garten und in der Laube mit einer Arbeit beschäftigt gewesen, und Bermuda hatte nach seinem Pferd gesehen, das schon gesattelt im Hofe stand. Es war alles daran in Ordnung und nichts fehlte, und trotzdem konnte er nicht fertig damit werden. Aber sein Blick flog auch immer wieder nach der Laube hinüber, und ein triumphierendes Lächeln zuckte plötzlich über seine Züge, als er sah, daß Ana den Pfad herüberkam und nach dem Hause zuging, während Rosa allein zurückblieb. Ohne jetzt auch nur einen Augenblick zu zögern, denn der günstige Moment kehrte vielleicht nie wieder, bog er in das kleine Dickicht von Rosen, unter den Palmen hin, ein, und stand wenige Minuten später vor der erschreckt oder wenigstens überrascht zu ihm aufschauenden Rosa am Eingang der Laube. Sie hatte sich aber bald gefaßt, und lächelnd auf einen Sitz deutend, sagte sie:
»Nicht wahr, Sie werden ungeduldig, Herr Oberst? Das Essen wird übrigens in sehr kurzer Zeit fertig sein. Ana ist selber eben hinaufgegangen, um zu sehen, weshalb die Leute gerade heute so lange zögern.«
»Sennorita,« sagte Bermuda, und sein Gesicht hatte eine eigentümliche Färbung angenommen, »verzeihen Sie mir, wenn ich mit Ihnen, und noch dazu ohne Vorbereitung, in einer Angelegenheit sprechen möchte, die mir, bei meinem Abschied von hier, schwer auf der Seele liegt.«
»In einer Angelegenheit?« sagte Rosa, verwirrt zu ihm aufsehend, »mich wollen Sie sprechen?«
»Ich gehe von hier,« fuhr der Oberst fort, ohne die Frage weiter zu beachten, »von hier, wo ich so viele glückliche Tage verlebt habe. Die Pflicht ruft mich und das Vaterland – aber ich kann nicht fort, ohne mich gegen Sie, Sennorita – Sie, die gerade dieses Glück hervorgerufen hat, ausgesprochen zu haben.«
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Oberst,« erwiderte Rosa, sich von ihrem Sitz erhebend. Sie wurde dabei totenbleich und ihr scheuer Blick flog umher, als ob sie einen Ausgang suche, aber dort gerade stand der Offizier und nur der kleine schmale Tisch trennte ihn noch von ihr.
»Ich will offen und ehrlich sprechen,« rief Bermuda, indem er bis zu dem Tisch herantrat und ihre Hand zu ergreifen suchte, die sie ihm aber entzog. »Rosa, ich liebe Sie recht von Herzen; wollen Sie, wenn wir diesen Krieg beendet haben, mein Weib werden? Ich bin reich,« fuhr er lebendiger fort, als er sah, daß sie ihn wie mit furchtbarer Scheu anblickte, »in dem Tal der Guayra –«
Ein Schritt auf dem Kies, dicht hinter der Laube, wurde hörbar; die Blätter raschelten, und als der Oberst den Kopf danach wandte, stand Eloi, seine Brieftasche in der Hand, fast neben ihm am Eingang.
Er sah ebenso bleich und erregt aus wie seine Schwester, aber kein Zug in seinem Antlitz verriet, was in seinem Herzen vorging. Nur sein Auge funkelte von einem unnatürlichen Glanz, und ohne ein Wort zu sagen, während der Oberst erstaunt zu ihm aufsah, öffnete er die Brieftasche und nahm ein Papier heraus.
»Sennor Castilia,« sagte Bermuda, dem dies Schweigen peinlich wurde, »ich habe es gewagt, hier bei Ihrer Schwester –«
»Sie haben es gewagt?« erwiderte Eloi kalt, indem ein unheimliches Lächeln um seine Lippen zuckte, »und kennen Sie diesen Brief?«
Der Oberst warf erstaunt einen Blick darauf, aber zugleich wurde sein Gesicht erdfahl, und entsetzt starrte er von dem Blatt hinauf in die Augen des ihm Gegenüberstehenden. Dieser aber wandte sich ruhig von ihm ab. »Komm, Rosa,« sagte er, bot der Schwester, die nicht wußte, was das alles bedeute, den Arm und verließ dann mit ihr, ohne von dem Oberst weitere Notiz zu nehmen, die Laube.
»Liebst du den Menschen?« fragte Eloi leise, als sie sich auf kurze Strecke entfernt hatten.
»Nein, Eloi, nein!« rief das junge Mädchen, »er war wohl immer freundlich mit uns und gut, doch ich weiß nicht, ich konnte eine Furcht und Scheu vor ihm nie bezwingen. Aber was hattest du mit ihm? Was steht in dem Papier? Er erschrak so sichtbar –«
»Laß das jetzt, mein Herz, und nur so viel kann ich dir versichern, daß du den Oberst Bermuda schwerlich auf dieser Hacienda wirst wiedersehen.«
»Aber ich komme heute nicht zu Tische, Eloi,« bat Rosa, »bitte, laß mich fort, entschuldige mich. Ich kann ihm jetzt nicht gleich wieder begegnen.«
Eloi lächelte. Er nahm seine Schwester am Arm und deutete auf die Allee der Einfahrt hin. Klappernde Hufschläge wurden dort laut, und als Rosa den Kopf dahin wandte, sah sie wie Bermuda eben, ohne selbst von ihren Eltern Abschied zu nehmen, in vollem Karriere die Allee entlang und der Einfahrt zusprengte.
»Was soll das nur bedeuten?« rief Rosa, die sich natürlich ein so außergwöhnliches Benehmen gar nicht erklären konnte, »was kann den Menschen so rasch forttreiben?«
»Sein Gewissen,« antwortete. Eloi, »sieh, wie es ihn hetzt. Aber komm, mein Herz, laß uns den schönen Tag nicht mit einem Gedanken mehr an den Burschen trüben. Es ist fort und bleibt fort, und das wäre auch wohl alles, was wir von ihm verlangen; nicht etwa Dank, der nur für etwas entrichtet werden konnte, das nicht einmal ihm, sondern allein der Sache galt.«
»Aber was stand auf dem Papier, Eloi?«
»Wenn du hübsch artig bist,« sagte lächelnd der Bruder, »so sollst du es nach Tische lesen, denn das Mittagessen wollen wir uns nicht damit verderben. Jetzt liegt auch kein Grund mehr vor es unter uns geheim zu halten.«
»So glaubst du nicht, daß er zum Essen zurückkommen wird?«
Eloi schüttelte lachend den Kopf. »Nein, mein Schatz,« sagte er, »so rasch ihn sein Pferd trägt, bringt er Leguas zwischen uns. Und nun komm, da oben ertönt die Glocke, und wir dürfen die Eltern nicht länger warten lassen.«
Die Spannung der Einwohner von Caracas war am Morgen des 6. Mai auf das höchste gestiegen, denn tausend wilde Gerüchte durchkreuzten die Stadt, und es schien unmöglich, darunter herauszufinden was wahr und was erdichtet oder wenigstens übertrieben sei.
Falcon ist geflohen! war das Wichtigste. Allerdings versuchte man umsonst die Bestätigung in seiner Wohnung zu hören. Die Dienerschaft behauptete, daß er daheim, aber unwohl sei, und Bruzual leugnete selbst im Ministerrat noch die Tatsache, erklärte wenigstens, daß ihm nichts davon bekannt sei, und er müsse es doch als Designado zuerst erfahren. Aber es ist mit solchen politischen Geheimnissen nur zu häufig ein wunderliches Ding; sie liegen förmlich in der Luft und kommen über die Menschen wie spirituelle Ahnungen – keiner weiß woher.
Bestimmter lauteten die Berichte über Rojas und Monagas. Daß Las Ajuntas besetzt sei, hatte Colina gestern zu seinem Schaden erfahren, und es kostete der Regierung etwa fünfhundert Mann; daß aber das alte Schloß ganz dicht bei Caracas ebenfalls besetzt sei, das erzählte der »Totengräber« jedem, der es wissen wollte. Der Mann war heute morgen von den Kirchhöfen auf seinem gewöhnlichen Wege nach Hause gegangen, denn er wohnte vor der Stadt draußen und gar nicht weit von dem alten Schloß entfernt. Dort nun hatte er eine Menge Menschen gesehen und, darauf zugehend, auch bald die blauen Bänder an den Hüten von Leuten erkannt, die emsig beschäftigt waren Schanzen aufzuwerfen, und das schon sehr feste Schloß noch schwerer zugänglich zu machen.
So viel stand also fest, daß die Reconquistadoren wirklich Ernst machten der Stadt auf den Leib zu rücken, und daß man selbst beim Oberkommando einen plötzlichen Angriff fürchtete, bewies die Verteilung der Mannschaft, die man jetzt ganz von der Plaza wegnahm und in die Vorstädte derart verlegte, daß sie nach jeder Richtung hin einen Angriff abwehren konnte. Aber was sollte das nützen? Die Garnison der Hauptstadt war allerdings noch stark genug, um im Zentrum der Stadt einer ihr selbst an Zahl überlegenen Armee kräftig die Spitze bieten und den Besitz ihr streitig machen zu können, aber sie reichte unter keiner Bedingung hin, die weit ausgedehnte Stadt an ihren Außenmauern zu verteidigen: und dennoch schien das die Absicht Bruzuals zu sein, der sogar die Kanonen in das Regierungsgebäude schaffen und dort richten ließ, um wenigstens im schlimmsten Fall einen Stützpunkt zu haben, auf den er sich zurückziehen konnte.
Aber auch an übertriebenen Berichten fehlte es nicht. So hieß es Morgens, daß die halbe Garnison in der Nacht zu den Blauen übergegangen sei und Bruzual sich mit dem Rest nach La Guayra flüchten und dort einschiffen wolle – wohin? wußte freilich niemand zu sagen. Erst als die Truppen wie gewöhnlich, und anscheinend vollzählig aufmarschierten, widerlegte sich die Sache selber, und man glaubte zuletzt nicht einmal, daß eine einzelne Patrouille desertiert sei.
Bruzual wußte in der Tat an dem nämlichen Morgen noch nichts von Falcons Flucht, ja, glaubte sicher, der Präsident würde wenigstens einen Versuch machen, um den Schein zu retten, und die beabsichtigte Expedition gegen das Schloß führen, das man rasch zu nehmen hoffte. Falcon hatte nicht daran gedacht, sondern einfach das Feld geräumt, ohne nachzugeben, nur um vor allen Dingen seine Schätze und seine eigene Person zu retten. Aus dem Staat mochte werden was da wollte.
Bruzual übernahm, als am Nachmittag Falcons Flucht nicht mehr verheimlicht werden konnte, als Alleinherrscher, ohne Kammer oder Vizepräsidenten, die Regierung. Während er aber etwa um drei Uhr nachmittags ein Korps (und zwar diesmal nicht unter dem Neger Colina, sondern unter General Guzmann) beorderte, um mit sechshundert Mann das alte Schloß von den Feinden zu säubern, unterhielt er einen sehr eifrigen Depeschenwechsel nach Westen hin, und Boten kamen und gingen. Es hieß sogar, daß er, da Falcon die Sache im Stich gelassen habe, mit Rojas in Unterhandlung getreten sei, um den ganzen Streit vielleicht noch in Frieden beizulegen und Blutvergießen zu vermeiden. Bei dieser Verhandlung war ihm aber natürlich das Streifkorps im alten Schlosse sehr unangenehm, da es so aussah, als ob es einen Druck auf ihn ausgeübt habe, und das mußte deshalb vor allen Dingen beseitigt werden.
Kaum eine halbe Stunde von Caracas oder vielmehr von dem Zentrum der Stadt entfernt, denn die Vorstadt reicht jetzt fast in einzelnen Häusern schon so weit, liegt eine alte prächtige Ruine, ein ehemaliges Schloß irgend eines spanischen Vizekönigs.
Es muß einmal ein prächtiges Gebäude gewesen sein, das auch dem Glanz der alten spanischen Herrschaft entsprach, welche Bauwerke entstehen ließ, die jetzt noch in ihren Trümmern alles neuere, von der lässigen Nachkommenschaft Gegründete, überragen. Eine breite Steintreppe hatte hinaufgeführt, hohe mächtige Räume dehnten sich nach beiden Seiten aus, und vor dem Schloß hatte man eine riesige viereckige Zisterne, wie ein Bassin, ausgemauert. Kamen dann die Regen, so trieben zwei, aus den Gebirgen kommende Bodenrinnen ihr Wasser dort gerade hinein und füllten sie bis zum Rande, und bis tief in den Sommer noch hielt das Wasser sich darin.
Das Schloß selber lag etwa dreihundert Schritt von der Straße ab, nach dem Fuß der Silla zu, auf einer niederen Anhöhe, die aber das ganze Tal wie auch die Hauptstadt überschaute, und die Aussicht von dort, mit den hohen, bewaldeten und frischen Bergen im Hintergrund, war in der Tat entzückend. Und was für Gärten mochten früher daneben gelegen haben, die selbst in der trockensten Jahreszeit mit Hilfe der Zisterne bewässert werden konnten: Gärten mit Palmen und Bananen, mit prachtvollen Ananaspflanzungen, mit Granatbäumen und Blütenbüschen, mit Rosen- und Orangenhecken und schattigen Kaffeedickichten. Jetzt war der Platz kahl und verlassen. Dem rohen Volk genügte es nicht, die Macht ihrer bisherigen Herren zu brechen, nein, es mußte auch zerstören was ihnen gehört hatte, und seine Wut an toten Gegenständen auslassen. Der Boden sogar wurde verwüstet, auf dem die Herrscher gewohnt hatten, und Feuer und Axt wüteten in den Palästen und Gärten.
Die starken Mauern allein widerstanden der Zerstörungslust der Plünderer, und nicht etwa, weil diese noch ein Andenken an die vergangene Zeit erhalten wollten, sondern einzig und allein, weil es Arbeit gekostet hätte, sie niederzureißen, und damit war den Leuten nicht gedient.
Jetzt ragten deshalb nur noch die alten Mauern aus gebräuntem Granit hoch und düster empor – in den Sälen aber, in denen sich sonst geputzte Herren und Damen fröhlich bewegt, oder auf der Veranda draußen über den blütenduftenden Garten hin die wunderbare Aussicht genossen hatten, wucherten kleine Schößlinge empor oder kroch giftiges Gewürm, und die Fledermaus schlug ihren Wohnsitz in den leeren Fensterhöhlen auf.
So war es dort wenigstens noch vor wenigen Tagen gewesen, doch wie verwandelte sich das Ganze in der kurzen Zeit. Die noch stehengebliebenen Mauern des alten Bauwerks, wie eine Festung betrachtend, hatte sich ein Schwarm der Reconquistadoren hineingeworfen, und in den wenigen Tagen das improvisierte Fort auch noch soviel als möglich stärker befestigt.
Das Schloß selber eignete sich seiner ganzen Lage nach vortrefflich zu einer kleinen Festung, denn nur wenige, noch dazu schmale Türen führten in das Innere, während die Fenster (nachdem der Fußboden verfault, oder von späteren Nachzüglern der Spanier als Brennholz verbrannt war) hoch genug standen, um die darin befindlichen Personen gegen die Kugeln der Belagerer zu decken.
An den natürlichen Bergrinnen waren noch kleine Schanzen aufgeworfen, von denen aus die darin Befindlichen die Angreifer beschießen oder doch bedrohen konnten, und durch die Zisterne gedeckt, die fast die Breite des Schlosses einnahm und nicht überschritten oder durchklettert werden konnte, brauchten sie auch in der Tat fast nur die beiden Flanken gegen einen Angriff zu wahren.
Die Besatzung bestand allerdings nur aus ein paar Hundert Mann und hatte überhaupt gar keine Order, sich dort um jeden Preis zu behaupten. Nur beunruhigen sollte sie den Feind und ihn glauben machen, sie wollten von dieser Seite einen Angriff auf die Stadt unterstützen. Als aber am Nachmittag ausgesandte Kundschafter meldeten, von Caracas aus rücke eine starke Truppe gegen sie an, beschloß der Kommandant des Schlosses, ein junger Bursche von kaum dreiundzwanzig Jahren, ihnen trotzdem standzuhalten. Sie wußten ja alle, mit wie blutigen Köpfen Colina und die Seinen von Las Ajuntas heimgeschickt waren; lange durften sich die Gelben hier draußen auch nicht aufhalten, keineswegs bis in die Nacht hinein, und sie sollten mit einem Worte nicht sagen können, daß die Blauen vor ihnen gelaufen wären.
Die Verteidigungsmaßregeln wurden auch ganz vorzüglich getroffen, und zwar nicht allein durch den Offizier, denn die Leute wußten damit selber ausgezeichnet umzugehen. Es gehörte das mit zu einem Guerillakrieg, den jeder einzelne verstand, und jeder Platz, jeder Punkt wurde auf das sorgfältigste benutzt, wo sie, ohne sich selber bloßzustellen, ihre Waffen auf den anrückenden Feind abfeuern konnten. Das alte Gebäude selber, die aufgeworfenen Schanzen, die natürlichen Unebenheiten des Bodens gaben ihnen dazu hinreichenden Schutz, und so lebendig der Platz noch kurz vorher von durcheinanderwogenden Menschen geschwärmt hatte, so still und fast tot lag er jetzt, als die Feinde in einer starken Kolonne in Sicht kamen und im Sturmschritt von der Straße abbogen, um das alte Schloß gerade in der Front anzugreifen. Der Offizier, der das Korps kommandierte, hatte die Zisterne gar nicht beachtet oder ihre Existenz vielleicht ganz vergessen, und erst als er vom Schloß aus die erste Salve bekam, merkte er seinen Irrtum und suchte ihn zu verbessern.
Er ließ seine Kolonne in zwei Abteilungen, die eine rechts, die andere links abschwenken und von der rechten den rechten, von der linken den linken Flügel weiter ausbreiten, um das alte Gebäude von den Seiten und von hinten zugleich anzugreifen. Aber die Verteidiger brauchten, um diesem neuen Ansturm zu begegnen, nur im Innern ihre Plätze zu wechseln, während die Regierungstruppen den durch den Regen aufgerissenen Hang gar nicht so leicht zu passieren fanden, um ihre Operationen rasch und unmittelbar zu beginnen. Wo sich dann eine kleine Truppe von ihnen zusammenblicken ließ, fielen die Schüsse aus dem improvisierten Fort auf sie, und wenn die Venezuelaner auch keine besonderen Schützen sind, und ebensowenig tüchtige Gewehre, besonders gar keine Büchsen hatten, so richteten die auf die Haufen gezielten Kugeln doch nicht selten Schaden an. Die Regierungstruppen zählten wenigstens schon viele Tote und Verwundete, ehe von den Blauen auch nur ein Mann getroffen wurde.
Darüber war fast eine volle Stunde vergangen. Jetzt schmetterten die Trompeten und wirbelten die Trommeln den Sturmmarsch zu einem allgemeinen Angriff gegen das Schloß.
Der Venezuelaner ist, seinem Charakter nach, faul und lässig, und schon wegen des warmen Klimas bequem, aber man kann ihm nicht nachsagen, daß er feige sei, und wenn seine Leidenschaften erregt sind, wirft er sich – wie wir das bei vielen der südlichen Völker finden, mit kecker Todesverachtung der Gefahr entgegen. Den Regierungstruppen war das um so höher anzurechnen, denn für die Sache, die sie in diesem Augenblick verteidigten, hatten sie keine Sympathie. Aber der Mensch ist ein wunderliches Geschöpf, besonders der Soldat, der, wenn einmal in eine bestimmte Jacke gesteckt, so sehr er sie auch sonst gehaßt haben mag, sich selbst für die Jacke, und damit für die Sache begeistert, und zuletzt selber eine Ehre darein setzt, nicht zu unterliegen.
Die gelben Truppen schlugen sich vortrefflich. Sie drangen selbst unter dem heftigen Feuer der Belagerten tollkühn gegen die wenigen möglichen Eingänge vor, und suchten sie mit dem Bajonett zu forcieren. Auch die zahlreichen Offiziere, die sie hatten, kämpften mit wirklicher Todesverachtung, und schon zweimal abgeschlagen, bereitete man einen dritten Ansturm vor. Sie hatten auch gerade durch die Türen im Innern schon vielen Schaden angerichtet, und den Reconquistadoren an Zahl überlegen, ersetzten sie außerdem an Ausdauer, was der Feind durch das Terrain voraus hatte.
Die Angreifer waren wieder versammelt, die Toten und Verwundeten, soviel es anging, beiseite gebracht, als ein Reiter den schmalen Pfad von der Straße heraufsprengte und dabei ein weißes Tuch um den Kopf schwenkte.
Was bedeutete das? Die Führer der Regierungstruppen zögerten. Sie hätten gern das Schloß genommen, trotzdem es hartnäckig verteidigt wurde, aber sie mußten erst hören, was der Bote brachte, und die kurze Rast tat ihren Truppen gut. Der Reiter kam näher.
»Wo ist der kommandierende General?«
»Dort drüben steht er. Was bringt Ihr?«
»Waffenstillstand! – Es wird über den Friedensschluß beraten. Es soll kein Gewehr mehr abgefeuert werden.«
Die Soldaten waren eben warm geworden und hatten die erste Kugelscheu überwunden, sollten sie sich jetzt wieder zurückziehen und nur ihre Toten und Verwundeten mitnehmen? Es wäre fast eine Niederlage gewesen, wie sie Colina gestern erlitten hatte, und den gelben Offizieren wollte das nicht in den Kopf – aber es half nichts. Die Order war zu bestimmt gegeben und von Bruzual wie Mig. Ant. Rojas gleichzeitig unterzeichnet; sie konnten den Unterschriften und Befehlen der beiden Heerführer nicht gut widerstreben. Der Abgesandte ritt, sein Tuch noch immer in der Luft schwenkend, auf einen der Eingänge des alten Schlosses zu. Ein junger Offizier trat heraus, nahm ihm das Papier ab und trug es ins Innere.
»Da kommen die Unseren!« tönte es von einer der Mauern nieder. Einer der Soldaten war hinaufgeklettert und hatte dort eine geschlossene Kolonne von Reconquistadoren entdeckt, die, durch das Schießen angelockt, quer über den Hügel zum Entsatz der Belagerten kamen. Die Regierungstruppen wären gar nicht imstande gewesen, diesem neuen Feind die Stirn zu bieten; jetzt sammelten sie sich unter ihren Führern, und der Befehl wurde gegeben, die Toten auf- und bis zu den nächsten Häusern mitzunehmen. Dort wurden sie hingelegt und es den dort Wohnenden überlassen, sie zu beerdigen.
Außer sich waren aber die Blauen über den Befehl. Sie hatten gesehen, daß der Feind nicht imstande war, sie aus ihrer Veste hinauszuwerfen, ja, als die Freunde heranrückten, konnten sie selber einen Ausfall machen, und mit Wut hätten sie sich auf die verhaßten Angreifer geworfen. Was war Rojas eingefallen, um noch Unterhandlungen mit einem Feind zu pflegen, der nur in dem Hinausziehen des Kampfes seine Rettung sah? Sollten sie etwa abwarten, bis die noch im Inneren verstreuten Truppen herbeigerufen werden konnten, um den Kampf von neuem in die Länge zu ziehen?
Die Blauen verließen ihre Befestigungen weder als Sieger noch als Besiegte, aber höchst unzufrieden mit den Befehlen ihres Oberen, und harte Worte fielen, als von Rojas gesprochen wurde.
An der Sache ließ sich aber vorderhand nichts mehr ändern. Der abgeschickte Friedensbote war, als er seine Botschaft ausgerichtet hatte, mit verhängten Zügeln dem nahenden Verstärkungskorps der Blauen entgegengeritten, die, als sie den Feind weichen sahen, mit Jubelgeschrei heranstürmen und ihn noch überholen wollten, ehe er die schützenden Mauern der Stadt erreichte. Auch dort hemmte der Abgesandte die Bewegung. Es war Waffenstillstand, und kein Schuß durfte mehr abgefeuert werden, bis die Führer beschlossen hatten, daß der Kampf von neuem beginnen sollte.