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Wenige Leguas von Caracas entfernt und unmittelbar am Meer liegt La Guayra, der Hafenplatz der Hauptstadt, die von den alten Spaniern – wie viele andere Städte Südamerikas – eine Strecke weit in das Land hineingelegt wurde, um nicht ewig den Angriffen umherstreifender und die Küsten absuchender Piraten ausgesetzt zu sein.
Der Platz ist freilich ungünstig genug für einen Hafen gewählt, denn die Schiffe haben dort keine weitere Bequemlichkeit, als ziemlich festen und nicht zu tiefen Untergrund. Sonst sind sie aber in nichts gegen die häufig und oft sehr heftig wehenden Nordwinde geschützt und müssen dann stets so rasch wie möglich ihre Anker heben und von der Küste abzukommen suchen. Auch ihre Fracht sind sie genötigt, in kleinen Lichterfahrzeugen an Land zu schaffen oder von da einzunehmen, und nicht einmal eine sichere Landung für diese besteht.
Wohl hat man einen kleinen steinernen Damm vor dem Zollgebäude hinausgelegt, der vielleicht sechzig bis achtzig Schritt lang, aber nirgends gegen die Dünung des Ozeans geschützt ist. Selbst bei Windstille kann man dort nicht bequem in ein oder aus einem Boot kommen, und bei rauher Witterung wird eine Landung nicht allein gefährlich, sondern manchmal sogar ganz unmöglich. Oft schon sind Menschen dabei ertrunken.
Trotzdem ist La Guayra, als das Tor der Hauptstadt, einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste Hafenplatz Venezuelas. Viele reiche Häuser, mit Zweiggeschäften durch das ganze Land, haben sich dort etabliert, und unter diesen nehmen die Deutschen den ersten Rang ein.
Überhaupt haben die Deutschen in fast allen spanischen Kolonieen den größten Teil des Importhandels in Händen – in manchen sogar beinahe ausschließlich, und doch sind sie ohne politische Vertretung – denn was hatten bis jetzt unsere deutschen Konsuln im Ausland zu bedeuten, und was konnten sie ausrichten – sie mußten sich nur in geschickter Weise durch die ewigen Revolutionen dieser Länder hindurchwinden. Wenn sie dann einen Schaden litten, so suchten sie es in anderer Weise wieder beizubringen; geschützt blieben sie aber gewöhnlich nur durch die Unwissenheit der dortigen Landeskinder, die nicht imstande waren, einen Unterschied zwischen den verschiedenen Flaggen zu machen, und nur ausnahmsweise ein mit einer solchen versehenes Haus plünderten. Deutsche aber fanden nur in dem guten Willen der gerade am Ruder befindlichen Regierung ihren Schutz, und wo sie im Lande mißhandelt oder beraubt wurden, da konnte der Konsul wohl protestieren – wenn er nicht gerade selber mit der Regierung in vorteilhafter Geschäftsverbindung stand – aber weiter auch nichts für sie tun, und die Proteste wurden dann einfach zu den Akten gelegt.
In Venezuela bestand bis zur allerneuesten Zeit der nämliche Zustand, und wenn die Hafenstadt auch gerade nicht im Zentrum der Bewegung lag, so war der Punkt doch schon durch seine Douane oder das Zollamt viel zu wichtig für die Hauptstadt. Gerade von dorther bezog die jeweilige Regierung ihre einzige Einnahme und der Platz war schon in früheren Revolutionen ein paarmal gestürmt und genommen worden. Auch jetzt hielt die Regierung von Caracas dort eine Besatzung, die noch verstärkt wurde, als die Nachricht oder vielmehr erst Gerüchte von dem ausgebrochenen Aufstand in dem östlich liegenden Barcelona Caracas erreichten. Gewißheit mußte allerdings erst der Dampfer bringen, aber der konnte auch jede Stunde eintreffen, denn fällig war er an diesem Tage und kam sonst gewöhnlich mit Sonnenaufgang in Sicht.
Unten in der Nähe der Landung und der Hauptgeschäftsstraße der Stadt lag eines der größeren Geschäfte, das dem –schen Konsul, einem Herrn Behrens, gehörte. Die stille Zeit jetzt wurde übrigens benutzt, um alte Warenvorräte einmal gründlich aufzuräumen, zu säubern und ihnen bestimmte Stellen anzuweisen. Es waren das natürlich nur Importartikel – deutsche Waren, die in den ewigen Unruhen noch keine Käufer gefunden hatten. Jetzt wurden sie nur wieder einmal hervorgesucht, um später vielleicht nach dem Innern transportiert zu werden und frischen Gütern Raum zu geben.
Die jungen Leute waren zum Teil damit beschäftigt und hatten Peons zum Arbeiten, welche die oft schweren Kisten hervorziehen, öffnen, wieder zuschlagen und dann an ihre bestimmten Stellen schaffen mußten. Einzelne der Vorübergehenden traten wohl auch manchmal herein und sahen eine kurze Weile zu, ohne daß von ihnen besonders Notiz genommen wurde. Das waren doch keine Käufer und standen höchstens eine Zeitlang im Wege. Dann gingen sie wieder, wie sie gekommen.
In das Geschäftslokal trat jetzt ein junger Mann – augenscheinlich ein Deutscher, der sich aber gar nicht umsah, sondern nur nach dem »Herrn Konsul« fragte. Er wurde in das Kontor bedeutet, auf das er, mit seinem Hut in der Hand – zuschritt.
»Herr Konsul,« redete er hier auch, in größter Aufregung und selbst seinen Gruß vergessend, den Kaufmann an – »ich komme, Sie um Hilfe zu bitten – um Schutz. – Ich bin königlich bayerischer Untertan.«
»Und was ist Ihnen geschehen, daß Sie Konsulatshilfe anrufen?« fragte der Kaufmann, indem er sich zu ihm wandte, ruhig.
»Mir nichts,« rief der junge Mann, der vielleicht eine größere Teilnahme erwartet haben mochte, – »aber meinem Bruder. Er betrieb im Lande seine Profession, er ist Schneider und wurde, wie ich heute durch einen Brief erfahre, den er mir heimlich geschickt hat, vor vierzehn Tagen von den Gelben aufgegriffen und unter die Soldaten gesteckt.«
»Wie lange ist er schon im Lande?«
»Kaum zwei Jahre – er spricht noch nicht einmal ordentlich Spanisch.«
»Und den haben sie gepreßt?«
»Nein, gepreßt nicht,« sagte der junge Bursche, der den Ausdruck nicht verstand, – »aber mit fortgeschleppt und ihm einen Säbel angehangen und eine Muskete in die Hand gedrückt, und jetzt sitzt er in Victoria, bekommt nichts zu essen als gesalzenes Fleisch und Casavebrot, und muß den ganzen Tag exerzieren oder Posten stehen.«
»Und hat er nicht gesagt, daß er ein Deutscher – ein Fremder wäre?«
»Versteht sich, hat er das, aber sie haben ihn ausgelacht.«
»Wie heißt Ihr Bruder?«
»Kaspar Bollmeier.«
»Aus?«
»Nürnberg.«
»Wann ist das vorgefallen?«
»Vor etwa vierzehn Tagen.«
»Und Sie wissen bestimmt, daß er jetzt in Victoria liegt?«
»Sein Brief kam daher, und dorthin haben sie ihn geschleppt.«
Herr Behrens notierte die betreffenden Punkte auf ein Blatt und legte es dann neben sich hin. Der Deutsche blieb aber noch stehen und schien eine Antwort zu erwarten.
»Haben Sie sonst noch etwas zu bemerken?« fragte der Konsul.
»Ich?« erwiderte der königlich bayerische Untertan erstaunt, »na, machen Sie ihn denn nun nicht frei? So etwas geht ja doch unmöglich an. Wir haben unseren Paß von daheim, alles in Ordnung, wie sich's gehört und gebührt, sind nicht mehr militärpflichtig in Bayern und sollen uns nun hier unter die schwarzen Kerle stecken lassen und am Ende gar noch totgeschossen werden? Das leidet doch unsere Regierung wahrhaftig nicht, und deshalb sind ja doch die Konsuln da.«
»Lieber Freund,« erwiderte der Konsul sehr ruhig, »ereifern Sie sich nicht ganz unnötigerweise. Wir Konsuln hier können doch nur einen solchen ungehörigen Fall zuerst zur Anzeige der betreffenden Behörden bringen. Ist das aber geschehen, dann müssen wir selbstverständlich abwarten, was diese tut.«
»Aber das Königreich Bayern –« rief Herr Bollmeier.
»Tun Sie mir den einzigen Gefallen und werden Sie nicht langweilig. Was verlangen Sie denn von Ihrem Königreich Bayern, wenn nun der Kriegsminister Ihren Bruder, was ich Ihnen noch gar nicht verbürgen kann, jetzt nicht gleich herausgäbe, oder ihm indessen ein Unglück passiert wäre? Soll es sich etwa irgendwo ein halbes Dutzend Kriegsschiffe mieten und hier herausschicken, weil Herr Kaspar Bollmeier ausgewandert und dadurch in Verlegenheit geraten ist? Oder soll ich etwa mit meinen Leuten gegen die venezuelanische Armee marschieren, denn das Königreich Bayern wird wohl schwerlich Truppen hier herüberschicken. Alles, was ich tun kann, ist, daß ich ein Gesuch an den Kriegsminister einreiche und ihn bitte, den widerrechtlich zum Soldaten genommenen Deutschen wieder freizugeben.«
»Und wenn er es nicht tut?«
»Nun – dann bitte, sagen Sie mir einmal selber, was ich in dem Fall machen soll.«
»Ja, aber wo bleibt denn da die Obrigkeit?« rief der arme Teufel ganz verdutzt – »wir haben es doch in unserem Passe gedruckt stehen, daß alle Zivil- und Militärbehörden ersucht werden, uns frei und ungehindert passieren und uns allen nötigen Schutz angedeihen zu lassen, und nun stecken die Militärbehörden einen auch noch ein.«
»Hat sich Ihr Bruder vielleicht bei irgend einem Krawall beteiligt?«
»Ich weiß es nicht,« erwiderte der junge Bursche, »er hat nichts davon geschrieben, aber er ist ein bißchen leicht bei der Hand. In Deutschland hatte er wenigstens oft Krakehl mit der Polizei.«
»Dann wird er aller Wahrscheinlichkeit nach wohl selber Veranlassung gegeben haben, denn sonst kommen sehr selten Klagen über derartige Willkür vor. Wie dem aber auch sei, ich werde die Eingabe machen und Sie können – wohnen Sie hier?«
»Ja.«
»Gut – Sie können dann in etwa vierzehn Tagen wieder einmal vorfragen, ob eine Entscheidung in der Sache gekommen ist?«
»Aber in vierzehn Tagen kann er zehnmal erschossen sein.«
»Lieber Freund, ich habe Ihnen jetzt gesagt, was ich in der Sache tun kann und ohne Zögern tun will. Sind Sie damit nicht zufrieden, so wenden Sie sich selber an den Präsidenten.«
»Sakerment,« rief der Bayer, indem er seinen Filzhut zwischen den Händen zusammenrollte, »wär' ich nur nie in dies verdammte Land gekommen!« Der Kaufmann achtete aber schon nicht mehr auf ihn – er hatte andere Dinge im Kopf, und Josef Bollmeier verließ in einem noch viel größeren Grimm, als er es betreten hatte, das Haus. Sonderbarerweise war aber sein Zorn gerade jetzt weit mehr gegen die Regierung daheim als die von Venezuela gekehrt, und er dachte in dem Augenblicke ganz undruckbare Dinge.
Wie er auf die Straße kam, riefen sich die Arbeiter zu, daß der sehnsüchtig erwartete Dampfer in Sicht komme. Der aber mußte die wichtigsten Neuigkeiten bringen. Bestätigte sich die Nachricht, die gestern schon ein kleiner Küstenfahrer gebracht, daß Barcelona, die große Nachbarprovinz, wirklich im Aufstand sei, so gab das der Revolution allerdings einen ungeheuren Vorschub und es war vorauszusehen, daß sie dann wachsen und um sich greifen würde.
Unterhalb der kleinen Plaza der Stadt und dicht am Seestrand, denn weiter hinauf liefen die Straßen so steil den Hang hinan, daß sich dort kein offener Platz anlegen ließ, stand eine der kleinen Pulperias oder Branntweinläden, in der auch wohl schlechter Wein verabreicht, die aber nur großenteils von den unteren Klassen und vorzugsweise von Negern besucht wurde.
Die »gemischte Rasse« hat überhaupt in allen diesen spanischen Kolonieen, Chile vielleicht ausgenommen, das Übergewicht und gewinnt es mit jedem Tage mehr. Mischlinge von Indianern und Weißen (Mestizen), Indianern und Negern (Sambos), und selbst Weißen und Negern (Mulatten) bemächtigen sich mehr und mehr einflußreicher Stellen, und selbst die reinen Neger nehmen schon jetzt in Venezuela eine bevorzugte Stellung ein, und haben es dabei, wenn sie wirklich noch hie und da zurückgesetzt werden, sicher nicht ihrer eigenen Bescheidenheit zu danken. General Colina, ein ziemlich voller Neger, oder doch wenigstens ein Abkömmling von Mulatte und Neger, war einer der einflußreichsten Generäle im ganzen Falconschen Heer, und der Präsident selber setzte das größte Vertrauen in ihn, wie er sich denn überhaupt in seiner Armee weit mehr auf das »gemischte Blut« zu stützen schien als auf das weiße, und doch war zu den Zwecken, wozu er die Leute brauchte, wenig Unterschied zwischen beiden zu finden.
Hier unten hatte sich aber heute, wie schon gesagt, vorzugsweise das Negerelement versammelt, und zwar galt es die Standeserhöhung eines der ihrigen zu feiern, der an dem nämlichen Morgen sein Dekret als General bekommen und nun dafür die Genossen in Branntwein traktierte.
Samuel Brown, der Sohn eines aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika glücklich entkommenen Negersklaven, war hier in La Guayra geboren worden, aber ein so richtiger Äthiopier, wie nur je einer mit einem Wollkopf und langen Hacken Baumwolle gezupft oder Zuckerrohr abgehauen. Schon als Packträger, welchem Geschäft er von früh auf folgte, zeichnete er sich, als er heranwuchs, durch seine riesige Körperkraft, später in der Revolution als Soldat durch seine Tapferkeit aus und avancierte zum Sergeanten, seine liebsten Gesellschafter blieben aber immer die Leute, mit denen er früher gelebt hatte, die Packträger, die auch noch jetzt gern seine Autorität anerkannten. Und solche Leute benutzte Falcon nicht selten, um sich einen Anhang im Volk zu schaffen.
Samuel Brown war plötzlich durch ein etwas rasches Avancement zum General ernannt worden, und eine lärmendere Gesellschaft hatte vielleicht der Strand nicht gesehen, seit die Wogen des Karibischen Meeres dagegen peitschten und Branntweinbuden ihnen gegenüber errichtet wurden.
Das sang und schrie und plapperte untereinander, und kreischende, jauchzende Töne drangen manchmal aus dem engen Raum, in dem auch Damengesellschaft nicht fehlte, denn des Generals Mutter spielte dabei eine hervorragende Rolle.
Des Generals Mutter war also auch eine wichtige Persönlichkeit, und ein komischeres kleines Frauenzimmer gab es – als Mutter eines Riesen – vielleicht nicht weiter auf der ganzen Welt.
Wenn sie aufrecht stand, reichte sie ihrem Sohn etwa gerade bis an die Herzgrube, aber sie stand nie aufrecht, sie war wie ein kleines perpetuum mobile, das in einem fort auf und nieder hüpfte, bald mit lautem Lachen die Hände auf die Kniee stützte, den Kopf vorschob und in also gebückter Stellung die Umstehenden mit dem alten, verschrumpften Gesicht und den großen Augen so drollig ansah, daß sie alle laut auflachen mußten, bald herüber und bald hinüber hüpfte und keine volle Minute still auf einem Platze stand.
Es ist wahr, sie ging so zerlumpt, wie nur irgend eine aus der Hefe des Volkes solcher Hafenstädte, und wenn es nicht gerade regnete, berührte wohl kaum je ein Tropfen Wasser ihre Haut. Sie trug dabei nur ein altes, braunes, traurig mitgenommenes Kattunkleid, ging natürlich barfuß und hatte ein altes Tuch um den Hals gebunden, das ihr auch zugleich als Schnupftuch diente. Aber sie war stolz auf ihren Sohn, und als die Mutter eines Generals trank sie ihr Glas Grog so gut wie alle übrigen. Außerdem war sie um so komischer, als sie, bei der winzig kleinen und schmächtigen Gestalt, eine der tiefsten Baßstimmen besaß, so daß man wirklich gar nicht begreifen konnte, wie die Stimme aus dem Körper kam.
Die ganze Gesellschaft schien in der heitersten Stimmung zu sein, und Samuel Brown wurde dabei von seinen früheren Kameraden gar nicht mehr anders als »General« tituliert. »General, komm! schenk' noch einmal ein, alter Junge – Caracho! wie lange wird's dauern, so bist du General en Chef, oder gar Kriegsminister, und hast dann all' die übrigen zu kommandieren.«
»Zum Teufel!« rief ein anderer, »jetzt wird's hübsch hier in Venezuela, denn wenn man es so geschwind zu was bringen kann, dann gehe ich auch unter die Soldaten.«
»Und wieviel Gehalt kriegst du?«
»Dreihundert monatlich! versteht sich!« Und ein solches Jubelgeheul antwortete dieser kaltblütig ausgesprochenen Summe, daß ein gerade vor der Tür vorbeischlendernder Hund den Schwanz einkniff und in voller Flucht die Straße hinunterrannte.
»Aber du kriegst es nicht,« rief ein alter Neger, der in der einen Ecke auf einem Faß saß, »dem Francisco haben sie's auch monatelang versprochen, und wenn er Geld haben will, sind die Kassen immer leer.«
»Werden's schon kriegen, Compannero,« erwiderte selbstbewußt der riesige Schwarze. »Der Francisco ist auch nur Capitano und tut das Maul nie auf. Bei mir kämen sie aber an den Unrechten.«
»Wird es schon kriegen, Caballeros,« sagte die kleine Alte, indem sie unter dem Arm ihres Sohnes vortauchte, als ob sie aus einer Versenkung gekommen wäre. »Der kriegt's, darauf können Sie sich verlassen. Hat noch alles gekriegt, was er wollte, und wenn es das schönste Mädchen in La Guayra wäre. Er ist gerade, wie sein Vater selig war.«
Ein wieherndes Gelächter antwortete dem zarten Scherz, aber ein Kanonenschuß draußen unterbrach die Heiterkeit und kündete in diesem Augenblick den einlaufenden Dampfer an. Ein Teil der Gäste strömte hinaus, um zu hören was es dort Neues gäbe.
Indessen wurde drinnen das Gelage fortgesetzt und eine unglaubliche Quantität des scharfen Getränks durch die Kehlen gejagt, bis nach etwa einer halben Stunde die Abtrünnigen zurückkehrten und die Bestätigung des schon seit gestern verbreiteten Gerüchts brachten.
Barcelona, Stadt und Provinz, hatte sich wirklich für die Revolution erklärt, Falcons Beamte ab- und eine neue Regierung eingesetzt. Der Dampfer selber brachte den größten Teil der flüchtigen Beamten mit nach La Guayra. Was aber kümmerte das die halbtrunkene Schar, ja im Gegenteil jubelten sie der Nachricht entgegen, denn es verstand sich ja von selbst, daß die Soldaten nun augenblicklich nach Barcelona eingeschifft wurden und das »Nest« mit Sturm nahmen und plündern durften. Gab es denn einen besseren Präsidenten in der weiten Welt, als Falcon war? Verstand der nicht auch mit dem armen Mann umzugehen und ihn zu erheben, und hatten sie etwa je von Steuern oder Abgaben zu leiden? Nie. Daß er die Godos pflückte, geschah ihnen recht. Die hatten es nicht besser verdient, und wenn sie jetzt wieder Unfrieden im Land anzetteln wollten, so sollten sie sehen, daß man ihnen noch ebensogut und vielleicht besser heimleuchten könne als vor vier Jahren.
Übrigens brachten die Leute auch eine andere Neuigkeit vom Boot herauf. Es war nämlich unterwegs an Bord Streit ausgebrochen und einer der »gelben« Offiziere von einem »blauen« Spion erschossen worden. Natürlich hatten sie den Schuft aber gleich zusammengehauen und in Ketten gelegt und nachher eine Menge wichtiger und verräterischer Papiere bei ihm gefunden. Die Nacht sollte er nach Caracas geschafft und dort gehangen werden.
Der neue General, der sich für die letztere Neuigkeit sehr wenig interessierte, gab jetzt das Zeichen zum Aufbruch, denn er hatte, zugleich mit seinem Patent, Order erhalten, so rasch wie möglich nach Caracas hinaufzukommen, da seine Dienste dort vielleicht gebraucht würden. Zu Fuß aber durfte er natürlich seinen Einzug als General in die Hauptstadt nicht halten – er besaß auch gerade noch Geld genug, um seine Passage in dem Wagen zu bezahlen. Nur, was hier getrunken war, blieb er vorläufig schuldig. Mit dreihundert Pesos monatlich war er aber bald imstande, das wieder abzuzahlen, und sein schon bereitgelegtes Bündel unter den Arm nehmend – der Kopf war ihm doch ein wenig schwer geworden – eine frisch angebrannte Zigarre zwischen den dicken Lippen zerkauend, zog er, von seiner Mutter und dem größten Teil der Freunde begleitet, dem Hotel neben der Wache zu, von dem aus die Diligence pünktlich jeden Tag zweimal von vier kräftigen Maultieren nach Caracas hinaufgezogen wurde.
Er kam aber auch eben im letzten Augenblick an. Der Kutscher hatte schon die Zügel in der Hand zusammengenommen und wollte, des zu späten Passagiers wegen, gar nicht anhalten. Ein paar der Neger warfen sich aber gleich vor die Pferde: Caracho! Er konnte doch nicht etwa einen General zurücklassen, den der Präsident ganz besonders nach Caracas bestellt und notwendig mit ihm zu sprechen hatte? – Samuel taumelte in das Hotel und löste sein Billett, kroch wenige Minuten später in den engen Wagen, in dem er kaum Platz hatte, und fand hier zu seiner Überraschung noch einen anderen Passagier, und zwar eine junge Dame vor. Scheu drückte sich diese wohl in die andere Ecke, und schien nicht übel Lust zu haben, ihren Sitz im Stich zu lassen, denn draußen, rund um die Diligence her, entstand jetzt ein wahres Kriegsgeheul der Abschied nehmenden Schwarzen. Aber dadurch scheuten die Maultiere, und der Kutscher hieb scharf auf sie ein, um diesem heidnischen Lärmen zu entgehen. Die Diligence tat einen Ruck und rasselte im nächsten Augenblick schon mit solcher Gewalt über das erbärmliche Pflaster der Stadt, daß die beiden Passagiere nur Mühe hatten, sich festzuhalten, um nicht mit den Köpfen gegen die eisernen Seitenstäbe geworfen zu werden.
Hinter ihnen drein gellte noch das Jubelgeschrei der trunkenen Bande, die Maultiere jagten, was sie nur laufen konnten, am Strand dahin, und vergebens suchte der Kutscher jetzt sie einzuzügeln. Es war nicht möglich, und er mußte sie eben laufen lassen, wobei auch gerade keine Gefahr war, solange sie nur wenigstens die Straße hielten. Kamen sie dann erst gegen den Berg an, so gingen sie schon von selber wieder langsam.
Der neugebackene General fing indessen an, sich in dem Wagen häuslich einzurichten, und kümmerte sich verwünscht wenig um die durchgehenden Tiere. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er in einer solchen Diligence fuhr, und er glaubte natürlich, daß sie dies Tempo fortwährend einhalten würden; nur das furchtbare Schütteln war ihm unangenehm. Es machte ihn den Kopf noch ärger brummen, und sein rundes Bündel, das er vor sich auf den Rücksitz lehnte, blieb nicht liegen, sondern sprang fortwährend wieder herunter und wäre ihm beinahe einmal aus dem Wagen geflogen. Er hatte deshalb keine andere Wahl, als es zwischen die Kniee zu nehmen und da festzuhalten.
Jetzt warf er einen Blick auf seine Reisegefährtin hinüber und mußte sich gestehen, in seinem Leben – und soviel er von ihr zu sehen vermochte – nie ein schöneres weißes Mädchen getroffen zu haben, denn daß sie mit einigen schwarzen Damen seiner Bekanntschaft nicht konkurrieren konnte, verstand sich von selbst. Sie mochte vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre zählen und hatte einen schneeweißen Teint, der vielleicht durch die schwarze Kleidung und Mantille nur noch mehr gehoben wurde. Die Mantille trug sie aber, nach spanischer Sitte, um den Kopf und das halbe Gesicht geschlagen und hüllte sich so fest dahinein und drückte sich so ängstlich in die Ecke, um nur dem widerlichen Menschen an ihrer Seite recht fern zu bleiben, daß der neue General wohl merken konnte, sie fürchte sich vor ihm. Das wenigstens glaubte er, und doch war es bei dem jungen Geschöpf viel mehr Ekel vor der widerlichen, nach Branntwein duftenden Fleischmasse des halbtrunkenen Negers.
Samuel Brown, sich seiner neuen Würde bewußt, machte allerdings einen Versuch, sie anzureden – er war ein Beschützer aller Damen. Solange die Maultiere aber dies Tempo auf diesem Pflaster einhielten, zeigte sich das unmöglich, denn er brachte beim Sprechen seine eigene Zunge in Gefahr, und das Rasseln der Räder auf den Steinen machte auch einen zu furchtbaren Lärm. Ein paarmal versuchte er wohl, sich aus dem Schlag hinauszulehnen, um dem Kutscher zuzurufen, langsamer zu fahren – sie hielten das hier drinnen nicht aus – aber das ging ebenfalls nicht. Sowie er sich nur etwas überbog, merkte er, daß er das Gleichgewicht verlor, und dem durfte er sich nicht aussetzen. Das Pflaster konnte ja doch nicht ewig dauern.
Und die Maultiere hatten sich noch immer nicht einzügeln lassen, so daß der Kutscher manchmal wirklich besorgt nach den Rädern hinuntersah, ob sie die furchtbaren Stöße auch aushalten würden; um die Passagiere bekümmerte er sich nicht. Aber sie hielten.
Jetzt sausten sie durch das alte La Guayra, daß die Kinder im Weg erschreckt zur Seite sprangen, und die Eseltreiber mit ihren Tieren dem durchgehenden Gespann kaum freie Bahn machen konnten. Rechts und links flogen die Trümmer der alten, zerstörten und dann verlassenen Stadt vorüber, die Ruinen der alten Kirche, auf deren eingestürzten Mauern wieder Bäume wuchsen, die kaum noch erkennbaren Überreste früherer menschlichen Wohnungen – und nun endlich schnitt das Pflaster ab, und es war fast, als ob die scheuen Tiere, da sie doch sahen, daß sie das Fuhrwerk nicht zertrümmern konnten, auch den Versuch dazu aufgegeben hatten. Vor ihnen lag übrigens auch der sich lang aufwindende Gebirgsweg, für den sie ihren Atem sparen mußten und wie sie der Kutscher nur erst einmal wieder in die Hand bekam, brach er ihren Galopp oder Karriere und ließ sie jetzt nur lang austraben, der Höhe entgegen.
Hier schüttelte der Wagen auch nicht mehr so sehr. Der General konnte sein Bündel, das ihm bis jetzt Last genug gemacht hatte, wieder ablegen, um die Hände frei zu bekommen und sich eine frische Zigarre anzuzünden – die alte hatte er lange zerkaut und fortgespuckt, und nur seitwärts warf er manchmal den stieren Blick nach der neben ihm sitzenden Jungfrau.
Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde – und sollte man es für möglich halten daß es auf der weiten Welt zwei so verschiedene menschliche Wesen geben könne als die beiden, die hier der Zufall in einem engen Raum zusammengeworfen hatte und darin auch für kurze Zeit hielt?
Ungleicheres in Aussehen, Farbe, Charakter, ja, in Gefühlen und Empfindungen konnte es nichts geben, und doch gehörten sie beide dem Geschlecht der Menschen an und hatten, menschlicher Lehre nach, auch ein und dasselbe Ziel – und doch wie weit voneinander entfernt lag ihre Bahn.
Das junge Wesen in dem schwarzen Kleid war fein und zart gebaut, die kleine schneeweiße Hand, die sie vorstreckte, um die Mantille etwas fester um sich zu ziehen, sah aus, als ob sie der Neger mit zwei Fingern hätte zerdrücken können, das bleiche, aber engelschöne Antlitz, das bei dem Schütteln für einen Moment vollkommen sichtbar wurde, war edel geformt, aber von einem tiefen Schmerz durchzogen, und in den großen dunkelbraunen, mit langen Wimpern beschatteten Augen lag ein ganzer Himmel von Unschuld.
Neben ihr saß der Neger, breit und aufgedunsen, die großen stieren Augen fast aus ihren Höhlen quellend, die eine riesige, schmutzige Hand mit der helleren Innenfläche auf die Kniee gebreitet, die andere die Zigarre haltend, während er den Rauch des ordinären Blattes wohlgefällig zwischen den Wulstlippen hervorblies. Der Hut – ein alter mißhandelter Filz – saß ihm schräg auf dem Wollkopf, der schmutzige Hemdkragen war ihm auf der einen Seite unter dem Halstuch vorgerutscht. In dem, wer weiß wie lange getragenen Hemde stak aber trotzdem eine unechte Tuchnadel, über der gefleckten und zerrissenen Weste hing eine Bronze-Uhrkette, und selbst die dicken Finger »zierten« zwei solche Ringe mit Glassteinen. – Und wie gemein – wie tierisch war der ganze Ausdruck seines Gesichts –, wie voll Sinnlichkeit und wilder, roher Leidenschaft, in die sich aber trotzdem ein Zug von Gutmütigkeit mischte. Der Koloß kämpfte auch in der Tat eine ganze Weile mit sich selber, ehe er es wagte, seine Nachbarin anzureden. Er fühlte sich als General, ja – aber ein solcher Adel, ein solcher Zauber holder Jungfräulichkeit lag in dem ganzen Wesen des armen unbeschützten Kindes, daß er es empfand – wenn er es sich auch wohl nie eingestanden hätte –, wie hoch, wie unerreichbar hoch sie über seiner Sphäre stehen mußte.
Das Doggenartige in seiner Natur gewann aber doch zuletzt die Überhand. Er qualmte stärker und achtete gar nicht darauf, daß der stinkende, von der Seebrise getroffene Rauch gerade nach seiner Nachbarin hinüberzog. Die Frauen, mit denen er umging, waren es ja gewohnt.
»Ei zum Teufel,« brummte er dabei in den Bart, »sollen wir zwei denn hier so stumm wie ein paar Fische nebeneinander die ganze Strecke im Wagen sitzen und den Mund nicht auftun? Mutter würde mich schön auslachen, wenn ich ihr das nachher erzählte,« und wieder warf er einen halb scheuen, halb trotzigen Blick nach dem jungen Mädchen hinüber, denn er fühlte zugleich, daß es ihm nicht leicht werden würde, eine Unterhaltung anzuknüpfen und in Gang zu halten. – Wie schwer war ihm in der letzten halben Stunde der Kopf geworden, wie furchtbar schwer, und ebenso die Zunge, über die er alle Kontrolle verloren hatte. Das mußte die nichtswürdig starke agua ardiente gewesen sein, die er getrunken hatte.
Solange das Fuhrwerk dabei noch im scharfen Trab blieb, ging es an; der frische Luftzug wie die starke Bewegung taten ihm wohl. Jetzt aber hatten sie den Fuß des Gebirges erreicht, an dem sich der Weg emporzog, die Maultiere fielen an den steileren Stellen in einen langsamen und steten Schritt, und die Sonne brannte wie Feuer auf die Erde nieder. Aber es konnte trotzdem nichts helfen, die Dame mußte jedenfalls erfahren, mit wem sie fuhr, und daß sie sich in anständiger Gesellschaft befand, sie konnte ja sonst das schlimmste von ihm denken.
»Sennorita,« wandte er sich an seine Nachbarin, die aber scheu den Kopf zum Wagenschlag hinaussteckte, obgleich sie dort nichts sehen konnte als den steilen, unmittelbar von der Straße ab emporsteigenden Berghang, »Sennorita sind wohl recht tüchtig durchgeschüttelt auf dem verdammten Pflaster?«
Das junge Mädchen legte die Hand auf den Wagenschlag und bog sich noch ängstlicher ab. – Der Neger glaubte, daß sie ihn nicht gehört habe und schrie etwas lauter.
»Die nichtswürdigen Maultiere liefen wie besessen, als meine Freunde vom Hotel etwas laut wurden. – Waren ein bißchen fidel gewesen, da wir meine Ernennung zum General der Armee feierten.«
Die junge Fremde konnte nicht mehr so tun, als ob sie die Worte nicht vernommen hätte, – sie wären auf hundert Schritt weit hörbar gewesen, und die Ohren dröhnten ihr davon. Sie neigte leise den Kopf und ihre Lippen bewegten sich, aber ein Laut kam nicht darüber, und der halb trunkene Neger fing auf einmal so laut an zu lachen, daß sich der Kutscher draußen nach ihm umdrehte. Das junge Mädchen bebte schüchtern zusammen, aber sie hatte für sich nichts zu fürchten. – Dem neuen General fiel irgend ein heiterer Scherz ein, der bei ihrem letzten Gelage gefallen war, und dabei kam ihm der Zigarrendampf in die Kehle, so daß er heftig zu husten anfing, und hustete, bis der ganze Wagen schüttelte, – dann bekam er den Schlucken, und die Unterhaltung war damit abgebrochen. Den Schlucken suchte er allerdings durch Atemanhalten zu vertreiben, aber sein Gesicht erhielt dadurch etwas furchtbar Stieres – die großen Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, und die Zigarre war ihm ebenfalls dabei ausgegangen. Endlich hatte er es überwunden, aber die Anstrengung war zu groß gewesen – die Hitze tat ebenfalls das ihrige. Er fing an zu gähnen und wurde schläfrig, und ehe weitere zehn Minuten vergangen waren – mit dem albernen Ding an seiner Seite konnte er ja doch keine Unterhaltung führen – schnarchte er laut in seiner Ecke und streckte sich quer durch den ganzen Wagen, daß sich die arme junge Fremde auf den möglichst kleinen Raum zusammendrückte.
Und doch vergaß sie fast ihre trostlose und widerliche Gesellschaft, ihre trüben Gedanken in dem wunderbar schönen Anblick, der sich ihr bot, als sich der Weg von da ab, wo er den äußersten Hang verläßt und in die Schlucht einbiegt, über einen Vorsprung hinwand und ihr beim Umlenken den vollen Anblick des prachtvoll gelegenen und tief unten am Seestrand ausgebreiteten La Guayra bot. – Es war eine herrliche Tropenlandschaft.
Weit aus gen Norden breitete sich das blaue Meer, dessen weiße Brandung man deutlich erkennen konnte, während es dort, wo die Hafenstadt lag, bei seichterem Grunde eine erst dunkle und dann lichte grüne Färbung annahm und scharf die Reede von La Guayra abzeichnete. Innerhalb dieser Abgrenzung ankerten die verschiedenen Fahrzeuge, die aber von hier aus winzig wie schmale Nußschalen aussahen, während rechts die kleine Stadt mit ihren hellen Häusern, bis hoch hinauf an den Bergeshang und in die steilen Schluchten hineingebaut, von reicher, üppiger Vegetation und im flachen Land am Strand hin von breiten Kokospalm-Pflanzungen und Platanaren eingeschlossen war. Und darüber spannte sich der reine blaue Himmel, daran hin zog sich der mächtige Gebirgsrücken, der dichtbewaldet bis in die Kuppen hinein den Nordstürmen des Karibischen Meeres seinen Damm entgegensetzte.
Aber das Bild verschwand, der Wagen lenkte in die Schlucht selber ein, durch die sich der Weg in die Berge hinauf, Caracas entgegen wand, und die Maultiere setzten sich wieder, den schräg nicht sehr steil anlaufenden Pfad hinan, in einen leichten Trab.
Und der Neger schlief, das dicke Kinn auf die Brust gesenkt, die wulstigen Lippen noch mehr und fast unnatürlich vorgepreßt, das widerlichste, ekelhafteste Menschenbild, das sich auf der Welt nur denken ließ. – Ein aufgedunsener Koloß von schwammigem Fleisch und Branntwein, und die Atmosphäre, die er um sich her verbreitete, war erstickend. Aber was konnte das arme Kind tun, das neben ihm im Wagen sah? Sie dankte noch Gott, daß er wenigstens schlief und ihr nicht weiter lästig fiel. Hatte sie denn noch eine Wahl? Sie mußte nach Caracas, so rasch sie die Tiere bringen konnten, und schwerere Sorge lag vor ihr als die Pein, wenige Stunden in der Gesellschaft eines solchen Menschen zu verbringen.
Anderthalb oder zwei Stunden mochten sie so gefahren sein, vielleicht mehr; dem jungen Mädchen kam es wie eine Ewigkeit vor, als sie die Station erreichten, wo die Tiere gewechselt werden mußten, denn ihre Kräfte hätten nicht ausgereicht, den Wagen über den fünftausend Fuß hohen Bergrücken hinüber und dann wieder zweitausend Fuß hinab bis nach der Hauptstadt zu ziehen. Dicht vor der dort befindlichen Schenke fuhr aber der Kutscher so ungeschickt mit dem Hinterrad über einen im Weg liegenden Stein, daß das leichte Fuhrwerk einen scharfen Ruck tat und den schlafenden Neger weckte.
»Caracho!« fluchte er und sah sich erstaunt dabei um – seine Träume hatten ihn wohl mit anderen Bildern umgeben – »wo sind wir denn eigentlich?« Er sah seine Begleiterin an, aber diese zog die Mantille fest um sich her und lehnte sich in ihre Ecke zurück, als ob sie selber schlafen wollte, und leise vor sich hinbrummend: »Hier wird man ja doch wohl etwas zu trinken bekommen,« kletterte er über den Schlag weg aus dem Wagen und schritt auf die dicht daneben befindliche Pulperia zu.
Indessen wurden die Maultiere ausgeschirrt und freigelassen – sie suchten ja auch von selber ihre Krippe – und andere dafür herbeigeführt. Der ganze Aufenthalt dauerte etwa zehn Minuten, und der General hatte sich indessen den Kutscher herbeigeholt, der mit ihm trinken mußte. Sein eigener Durst war aber größer als die wenige Zeit, die man ihm lassen wollte, um ihn zu löschen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich noch eine volle Flasche mit auf den Weg zu nehmen. Die zwei Stunden, die die Fahrt noch dauern sollte, konnte er, wie er erklärte, nicht trocken sitzen.
Und wieder rasselte der Wagen, jetzt mit frischen Kräften, den Berg hinan, die junge Fremde fuhr erschreckt empor, als er zuerst mit einem plötzlichen Ruck gegen einen Stein fuhr, und der General, der gerade die Flasche an die Lippen hob, goß sich einen Teil des Inhalts über die Brust, was seine Toilette nicht verbesserte. Wie er aber sah, daß die Dame sich umschaute, bot er ihr, ohne es der Mühe wert zu halten, sie vorher abzuwischen, sehr artig die Flasche an, die sie aber mit einem kaum bezwingbaren Schauder zurückwies.
»Eine von den Godos,« knurrte der dicke Neger mürrisch vor sich hin, denn er fühlte sich beleidigt, daß er abgewiesen war, und setzte nun einen kräftigen Schluck selber darauf. Und die Gedanken wechselten in seinem Hirn – er wollte sich um das »alberne Ding« gar nicht mehr bekümmern. Er nahm die Flasche, deren Kork er verloren hatte, offen zwischen die Kniee und holte aus der Brusttasche der alten Jacke sein neues Generalspatent, das er selber nicht einmal lesen konnte. Er wußte nur, daß die große Schrift oben hingehöre und die Stelle, wo der Wirt der Pulperia in Caracas den schmutzigen Finger darauf gedrückt und einen großen Fleck hinterlassen hatte, seinen eigenen Namen bedeute. Er wollte den Fleck mit dem nassen Rockärmel abwischen, aber es ging nicht – er machte ihn nur noch ärger und hielt jetzt das Papier, indem er es von der Seite betrachtete, so, daß seine Nachbarin, hätte sie den Blick ein einziges Mal herübergeworfen, es auch hätte lesen können – aber sie tat es nicht, und ärgerlich mit ihr und der ganzen Welt faltete er das Blatt wieder zusammen und schob es in die Tasche zurück.
Jetzt fing er an den Kork zu suchen und fühlte mit den breiten bloßen Füßen auf dem ganzen Boden der Kutsche umher, was seine Nachbarin nur noch mehr ängstigte – aber er fand ihn nicht. Jetzt zündete er sich – die Flasche wieder zwischen den Knieen – eine frische Zigarre an, die leider keine Luft hatte. Das Deckblatt war in der Tasche abgescheuert. Er nahm eine andere, dann wieder einen Zug aus der Flasche, und mit der reineren Luft in den Bergen schien eine heitere Stimmung über ihn zu kommen. Er fing an zu singen. Kriegslieder natürlich, wie sie sich für seinen Stand schickten, und mit so dröhnender Stimme brüllte er sie zu seinem Wagenschlag hinaus und über das Tal hinüber, daß die Maultiere vorn scheu die Ohren spitzten und der Kutscher, der erstaunt zu solcher Musik den Kopf schüttelte, die Tiere auf dem gefährlichen Weg aufmerksam im Zügel halten mußte.
Das mochte er etwa eine Stunde so getrieben haben, und die Flasche war zu drei Vierteilen geleert, da wurde er wieder schläfrig. Schon halb bewußtlos lallte er vor sich hin, die Flasche rutschte ihm zwischen den Knieen heraus, fiel auf den Wagenboden und entleerte sich dort ihres Inhalts, der glücklicherweise gleich durch die Spalten des trockenen Holzes ins Freie lief. Die Zigarre entfiel ihm ebenfalls – sie war schon lange ausgegangen, und als der Wagen durch die Straßen von Caracas rollte und vor dem gewöhnlichen Ausschirrplatz anhielt, schlief er fest. Von ihm fort aber, mit einem aus tiefster Brust herausströmenden Dankgebet, schlüpfte die schlanke Gestalt des Mädchens. Nur ein kleines Bündel, das sie bis dahin auf dem Schoß gehalten, trug sie in der Hand und eilte damit raschen Schrittes, und ohne den Kopf auch nur zurückzuwenden, vorwärts, während die Kellner des Hotels herauskamen und sich den unangenehmen Gast betrachteten, den ihnen die Diligence gebracht hatte.
Das war aber keine Persönlichkeit für ihr Haus. Wie kam überhaupt der trunkene Neger als Passagier in den Wagen? Er starrte von Schmutz und stank nach Fusel. Der Kutscher mochte sehen, wie er ihn aus dem Fuhrwerk brachte. Sie schlugen ihre Tür zu und ließen ihn draußen.
Der Kutscher hatte allerdings mit der ihm obliegenden Arbeit Mühe, aber es gelang ihm doch endlich, den jetzt völlig Trunkenen wenigstens aus dem Wagen zu bringen und ihm sein Bündel unter den Arm zu drücken. Der »General« taumelte damit auch eine kurze Strecke, aber er kam nicht weit. Kopf und Füße waren ihm wie Blei – an einer der Ecken knickte er zusammen und fiel neben dem Trottoir auf die Steine nieder, wo er liegen blieb. Ein kleiner Negerjunge, der ihn da bemerkte, schob ihm das Bündel unter den Kopf, aber er fühlte es gar nicht. Die Vorübergehenden kümmerten sich auch nicht um ihn – wer hätte den schmutzigen, betrunkenen Neger anfassen mögen –, und da die Nacht jetzt einbrach, ließ man ihn eben in der doch jetzt trockenen Straßenrinne seinen Rausch ausschlafen. Das war der Einzug des neugebackenen Generals in der Hauptstadt des Reiches.