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Das Hauptgefängnis von Caracas war ein ziemlich großes und festes Gebäude und in friedlichen Zeiten, bei einer gutmütigen und zu eigentlichen Verbrechen nicht neigenden Bevölkerung, gewöhnlich nur sehr schwach besetzt. Für politische Gefangene aber, und besonders für Leute aus den besseren Klassen schien es nicht eingerichtet – es gab keine Zimmer für Staatsverbrecher. Von den engen, kleinen Zellen konnten sich wenige rühmen, selbst nur einen Stuhl und Tisch zu besitzen, und galten dann schon als Salons, um die sich die wohlhabenderen Gefangenen eifrig bewarben und hohe Preise dafür zahlten. Aber selbst das nahm ein Ende. Unter der mißtrauischen Regierung Falcons, mit einem ganzen Heer heimlicher Denunzianten, füllten sich die Räume in wahrhaft erschreckender Schnelle, und man war zuletzt genötigt, das gewöhnliche »cârcel«, das sonst nur für Nachtstörer und derartige Eintagsfliegen benutzt wurde, mit zu verwenden, um nur alles unterzubringen, was geliefert wurde.
Dies Carcel lag hinter der Hauptwache, in einem ummauerten Raum, d. h. die Mauer selber bildete auch zugleich die Rückwand der einzelnen engen Zellen, die wie in einem Taubenschlag, ohne Fenster und nur mit einer eisenbeschlagenen Tür versehen, ringsumher gebaut waren und so den Hofraum umgaben.
Vorn befand sich das Wachlokal, in dem die Soldaten lagen, und verschiedene Posten gingen vor dem sonst unverschlossenen Torweg immer auf und ab. Hinten war noch ein kleines Gebäude errichtet, – aber auch nur mit einer einzigen Tür nach dem Hof zu – wo ein Beamter gewöhnlich morgens die eingebrachten Gefangenen revidierte und nach der Präfektur führte – sonst zeigte die Aussicht nur die nach oben mit Glasscherben gespickte Mauer oder den mit Soldaten gefüllten Vorraum, und wie es auf dem Hof außerdem aussah, läßt sich eher denken als beschreiben, denn schmutzig sind diese Südamerikaner bis zum äußersten.
Allerdings war nun José, als sie mit ihm die Präfektur erreichten, augenblicklich gemeldet worden, und der eine Polizeidiener, während der Gefangene draußen warten mußte, hineingegangen, um Bericht abzustatten. Der Beamte aber, an den er es tat, schien gar nicht damit zufrieden und sah sogar etwas verlegen dabei aus.
»Hm – gar nichts hat man bei ihm gefunden?«
»Seine Taschen haben wir noch nicht durchsucht, Sennor.«
»Und er hatte keine blaue Kokarde unter dem Hutband versteckt? Ihr wißt das ganz gewiß und habt genau nachgesehen?«
»Ganz genau – es war nichts darunter als das Stückchen Baumwollenzeug hier, was ich zu mir gesteckt habe.«
»Das trug er unter dem Hutband?« fragte der Beamte erstaunt und betrachtete den Lappen mit der größten Aufmerksamkeit.
»Was das heißen soll, weiß ich freilich nicht.«
»Hm, anscheinend nur weißes Baumwollenzeug,« meinte der Beamte wieder, indem er daran roch, und es dann ausgebreitet gegen das Licht hielt, »aber wer weiß, ob nicht mit chemischer Tinte etwas darauf geschrieben steht, und wir werden es jedenfalls untersuchen müssen.«
»Aber was machen wir indessen mit dem jungen Menschen?«
»Sperren ihn ein, die Exzellenz hat es selber befohlen, vielleicht hat er auch noch gravierende Briefschaften bei sich. Nehmt ihm nur alles ab, was er bei sich trägt. Er ist einmal verdächtig, und da darf keine Vorsicht versäumt werden.«
Der Polizeidiener wandte sich ab zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und sagte:
»Wo sollen wir ihn aber unterbringen? – oben ist kein Platz mehr, und im Carcel – er sieht eigentlich ein bißchen zu anständig dazu aus.«
Der Beamte zuckte mit den Achseln. – »Wir können mit solchen Gesellen keine Umstände machen, denn wir haben schon genug. Weshalb betragen sie sich nicht, wie es guten Bürgern ziemt, dann kämen sie nicht in solche Verlegenheit.«
»Der alte Gonzales hat mehr Unzen im Vermögen, als Kaffeebohnen in einen Sack gehen,« erwiderte der Mann.
Der Beamte überlegte einen Augenblick – wenn der alte Gonzales zu ihm kam, ließ sich die Sache vielleicht arrangieren – endlich sagte er:
»Ich will sehen, was sich tun läßt; vorderhand bleibt uns aber nichts anderes übrig, als ihn in eine der Zellen zu stecken. Bis Dunkelwerden findet sich schon Rat, wenn« – setzte er vorsichtig hinzu – »kein weiterer direkter Befehl von oben kommt – laßt ihm eine Zelle allein geben.«
»Soll ich ihm sein Geld auch abnehmen?«
»Wenn er viel bei sich trägt, ja; das ist zu gefährlich, – etwas braucht er, wenn er Lebensmittel haben will.«
»Und jetzt wollen Sie ihn nicht verhören?«
»Ich muß erst nach oben berichten.«
Der Mann wußte genug, und wieder hinaustretend, befahl er seinem Gefährten, zwei Soldaten zu nehmen und den Gefangenen hinüber in das Carcel zu dirigieren. Dort sollte er so lange gehalten werden, bis weitere Befehle kämen, auch eine Zelle allein haben, damit er sich mit niemand anderem verständige, und vorher genau visitiert werden.
José, mit immer noch keiner Ahnung, wohin man ihn bringen wolle, protestierte dagegen und verlangte den Präfekten zu sprechen, denn er sei widerrechtlich verhaftet worden; aber für die Soldaten – rohes, wüstes Gesindel, halb Indianer, halb Neger, – war es eine wahre Wonne, wenn sie einmal den Oberbefehl über einen weißen Mann bekamen. Sie haßten die ganze Rasse und stießen ihren Gefangenen mit wilden Carachos vorwärts. José sah auch bald ein, daß er sich der Gewalt fügen müsse, wenn er sich nicht wirklichen Mißhandlungen aussetzen wollte, und wer hätte ihm nachher dafür irgend welche Genugtuung gegeben? Seine Lage fing an ihm beinahe komisch vorzukommen; was würde die Mutter und die Großmutter sagen, wenn sie es erführen. Als er daran dachte, mußte er wirklich lachen und sagte deshalb zu den Soldaten:
»Bueno, Caballeros vamonos, ich kann dort drüben ebensogut warten wie hier, und ein Glas Wein wird ja auch wohl zu bekommen sein.«
»Si – si!« riefen die Soldaten, als er sich gutwillig fügte und sie Aussicht bekamen, ihm den Wein besorgen zu müssen – »Vamonos – da drüben ist's wunderhübsch.«
Über das »wunderhübsch« hatte nun José allerdings seine Zweifel, denn selbst wenn es die Leute im Ernst meinten, wußte er, daß er ein elendes Unterkommen finden würde. Aber er war auch leichten Herzens, denn da sie die Kokarde nicht bei ihm gefunden hatten – und Briefschaften führte er gar nicht bei sich – konnte ihm ja auch nichts Schlimmes geschehen. Wer wußte etwas von ihm, und daß sie ihn überhaupt verhaftet hatten, war jedenfalls nur eine Brutalität der unteren Beamten, die sich derlei Dinge sehr häufig zuschulden kommen lassen. Was aber war in aller Welt aus der Kokarde geworden? Verloren konnte er sie doch nicht haben? Aber was zerbrach er sich jetzt darüber den Kopf; sicherlich war sie ihm sehr zur rechten Zeit abhanden gekommen, und er beschloß auch fest, sie nie wieder zu tragen, solange er sich noch im Polizeibereich von Caracas aufhielt. Er hatte nie geglaubt, daß man so leicht mit der Polizei in Berührung kommen könne.
Sie erreichten indessen das Carcel, nachdem sich dem Zug rasch ein paar Dutzend Straßenjungen angeschlossen, und der Polizeibeamte wandte sich hier an den Offizier der Wache, um seinen Gefangenen abzuliefern. Der würdigte ihn aber kaum eines Blickes.
»Geht zum Schließer,« sagte er sich abwendend, »was habe ich mit derlei Gesindel zu tun?«
José hatte eine bittere Antwort auf der Zunge, aber er schluckte sie hinunter, denn er schien in der letzten halben Stunde mehr gelernt zu haben, als sonst in einem Jahre. Die Soldateska hatte nun einmal in der ganzen Stadt die Macht in Händen. Recht bekam er doch nirgends gegen einen der Herren, und daß es ihnen die größte Freude machte, einen der Bürger zu ärgern, die sie, und nicht ohne Grund, für ihre Feinde hielten, fühlte er nach allem was er sah, heraus. Weshalb sollte er also diesem Menschen gerade Gelegenheit geben, sich als kleinen Tyrannen zu zeigen. Es konnte ihm nichts nützen und seine augenblickliche Lage nur verschlimmern. – Und unter solcher Regierung glaubte Isabel, daß noch etwas besser werden könne? – Sie war eine gutmütige Schwärmerin, hatte aber keinen Begriff von den jetzigen Zuständen.
Während ihm so die Gedanken herüber und hinüber schossen, betraten sie den inneren, schon vorher beschriebenen Raum des Carcels, und José sah sich hier zum erstenmal etwas erstaunt um, denn diese Umgebung war allerdings nicht einladend, aber hier konnte man ihn ja auch nicht lassen. Und was für Atmosphäre umgab ihn; der junge Mann schauderte zusammen, denn daran war er noch nicht gewöhnt.
Der eine Soldat rief indessen den Schließer herbei, und der Bursche, so schmutzig wie der Platz auf dem er hauste, an einem Fuß eine Alpargate, den anderen Fuß bloß, die Hose bis an die braunen Kniee aufgekrempelt, mit einer Jacke, an der die Fetzen herunterhingen, und kein Hemd auf dem Körper, nur einen Rosenkranz mit einem Kreuz auf der nackten Brust, kam langsam angeschlendert und schlug sich ein Bund Schlüssel, das er in der Hand trug, gegen den Schenkel. Er schüttelte dabei auch fortwährend mit dem Kopf, und als er näher kam, hörte José, wie er sagte:
»Aber hexen kann ich doch nicht oder ihn zu mir ins Bett nehmen. Liegen so schon immer drei darin. Die ganzen Buden sind voll, und wenn Ihr mir nur immer Futter herschickt und mir nicht neue Nester dazu baut, so kann ich's nicht ändern. Setzt ihn oben aufs Dach, was mir dran liegt.«
»Aber er muß vorderhand hier untergebracht werden,« erwiderte der Polizeidiener, der den Gefangenen begleitete: »er hat auch Geld,« flüsterte er ihm dann leise zu, »und wird Euch schon bezahlen.«
»Caracho!« fluchte der Mann mürrisch, »allein soll er sitzen, und hinauslassen kann ich doch keinen von den Burschen, die drinnen sind. Die Carachos möchte ich hören, die mir der alte General nachher dafür über den Kopf wetterte, und einmal hat er mich schon selber in einen solchen verdammten Affenkasten gesteckt, daß mich die Flöhe in der Nacht bald aufgefressen haben. Ne, passiert mir nicht zum zweitenmal.«
»Wen habt Ihr denn da überall stecken?«
»Das soll ich wissen,« knurrte der Schließer, »allein aber keinen. In manchen Kasten sitzen schon drei und vier zusammen, daß sie sich die Nacht kaum ausstrecken können. Recht ist's nicht, und sie müssen mehr Raum schaffen oder lieber eine Partie totschießen, daß wir wieder Platz kriegen.«
»Recht angenehm,« dachte José, ich werde doch um Gottes willen nicht in ein solches Loch hinein sollen?«
»Und keinen habt Ihr allein sitzen?« fragte der Polizeimann.
»Keinen mehr!« antwortete der Schließer mit dem Kopf schüttelnd – »Nummer 37 ausgenommen. Da liegt der Kranke, der den Offizier an Bord totgeschossen hat.«
»Krank? – Was fehlt ihm?«
»O, krank ist er eigentlich nicht, er hat nur bei der Gelegenheit ein paar Säbelhiebe über den Kopf gekriegt und ist noch nicht so recht wieder zu Verstand gekommen.«
»Na, was haben wir dann für Not,« rief der Polizeimann lachend – »dann stecken wir ihn zu dem hinein. Er soll nur mit keinem zusammenkommen, mit dem er sich unterhalten kann, und wenn der da drin noch nicht einmal bei Besinnung ist, so wird die Unterhaltung wohl einsilbig genug ausfallen. Aufgeschlossen, alter Junge, aber vorher, Sennor, muß ich in Ihren Taschen nachsehen, was Sie bei sich haben.«
José mochte anfangs willens gewesen sein, auf das heftigste gegen eine solche Behandlung zu protestieren und den Leuten sogar mit dem Präsidenten zu drohen, in dessen Willen ein derartiger Mißbrauch von Gewalt nicht liegen konnte. Aber, er war aufmerksam auf das Gespräch geworden, denn demnach mußte der junge unglückliche Castilia hier gefangen liegen. Seine eigene Haft konnte ja natürlich nur höchstens ein bis zwei Stunden dauern, und er war dabei vielleicht imstande, Näheres über den Bruder Anas zu erfahren, was unter anderen Umständen nicht möglich gewesen wäre. In ein Abenteuer war er nun doch einmal hineingefallen, und so brachte es vielleicht noch anderen Leuten Nutzen, oder wenigstens Trost.
Erschreckt trat er aber doch einen Schritt zurück, als er das entsetzliche Loch erblickte, das man in diesem Augenblick für ihn öffnete, und unschlüssig zögerte er, ob er es betreten solle – es wurde ihm aber keine lange Wahl gelassen.
»Na? Ist's gefällig?« fragte der Schließer ungeduldig.
»Wartet noch einen Augenblick,« rief der Polizeidiener, »da drinnen ist's ja ganz finster, und ich kann nicht erkennen, was ich finde. Haben Sie Papiere bei sich?«
»Nein, keine –«
»Gar keine? Auch keine Waffen?«
»Nicht das geringste, als hier mein Täschchen mit Visitenkarten.«
»Haben Sie viel Geld?«
»Nein, etwa eine halbe Unze oder etwas mehr.«
»Zeigen Sie einmal!«
José zeigte sein Geld, es war etwa soviel. Der Polizeidiener machte aber nicht viel Umstände und fuhr ihm selber in alle Taschen hinein, ja, untersuchte ihn sogar unter der Weste, ob er keinen Gurt trage, und fühlte ihm überall hinten am Rock herum. José führte aber wirklich nichts bei sich und dankte jetzt Gott dafür, denn es hätte ihn nur in Verlegenheit bringen können.
Das Visitenkartentäschchen, als vollkommen wertlos, denn es enthielt in der Tat nichts als die Karten, ließ ihm der Mann, aber die goldene Uhr nahm er an sich; das Geld zählte er zweimal durch und warf verlangende Blicke danach, aber es ging nicht; er wäre vielleicht in Unannehmlichkeiten gekommen.
»Und was wollen Sie mit der Uhr?«
»Bekommen Sie wieder, wenn Sie frei werden.«
»Ist die Uhr etwas Gesetzwidriges?«
»Sie haben nicht danach zu fragen,« brummte der Polizeidiener ärgerlich, als José das ganze Geld wieder einsteckte, ohne ihm ein Trinkgeld »für seine Mühe« zu geben.
»Seid Ihr fertig?« fragte der Schließer, der geduldig dabei gestanden und zugesehen hatte.
»Ja.«
»Dann marsch hinein, daß wir hier fortkommen.«
»Sie wollten ja Wein haben,« sagte der eine Soldat,
»O, caramba, ja, Amigo, – das war ein guter Gedanke,« rief José – »hier ist ein Peso, holt mir dafür eine Flasche vino seco und ein Glas – das andere für Eure Mühe – aber sobald wie möglich.«
»Gracias, Sennor, soll gleich besorgt werden.«
José schauderte wirklich zusammen, als er über diese Schwelle trat. Es war ein Raum, ganz aus roten Backsteinen aufgeführt und mit ziemlich dicken Mauern, etwa zehn oder zwölf Fuß lang, die darin herrschende Dunkelheit ließ es nicht deutlich erkennen, und höchstens vier Schritt breit. Der Fußboden bestand ebenfalls aus gebrannten, nur etwas größeren Steinen, sonst aber ließ sich keine Bequemlichkeit erkennen, kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett, keine Matte auf der Erde, nichts als der bloße, staubige und schmutzige Stein. Nur auf der linken Seite war eine grobe, schmutzige Matratze ausgebreitet und darauf lag, mit einer rotwollenen Decke überworfen, eine menschliche Gestalt – vielleicht eine menschliche Leiche, denn sie rührte und regte sich nicht.
»So, das hier ist Ihr Quartier,« sagte der Schließer, indem er die Tür noch an dem Schlüssel offen hielt, machen Sie sich's bequem.«
»Aber bester Freund!« rief José erschreckt, »hier ist ja wahrhaftig nicht einmal ein Stuhl, ich kann doch hier nicht solange stehen bleiben?«
»Na,« sagte der Mann grinsend, indem er die Tür zuschlug. »Sie dürfen sich auch auf den Boden legen. Nachher kriegen Sie eine Kuhhaut, das ist Reglement und damit basta,« und José hörte, wie sich die Leute – noch darüber lachend, einen so feinen Vogel einmal in ein solches Bauer zu stecken – entfernten.
Der Raum erschien José, als er ihn zuerst betrat, vollkommen finster, er glaubte wenigstens nicht, daß er die Hand vor Augen sehen könne. Nach und nach gewöhnte sich aber sein Blick an die Umgebung, und er fand jetzt, daß ein herzförmig in die Tür geschnittenes Loch, etwa von der Größe einer mäßigen Orange, doch wenigstens einen Strahl Tageslicht hereinließ, bei dem er zum mindesten imstande war, die Wände zu erkennen.
Er trat an die Öffnung und sah hinaus – es war doch eine Unterhaltung, und er konnte die Schildwache beobachten, die über den Hof langsam auf und ab schritt. Wenn nur sein Bote erst kam. Die Zunge brannte ihm am Gaumen – oder war ihm der Bursche etwa mit dem Gelde durchgegangen? Und was hätte er dagegen machen wollen? – Aber nein, gegen Gefangene sind sie ehrlich; sie würden sich sonst auch für spätere Zeiten den Gewinn abschneiden. Er mochte kaum zehn Minuten so gestanden haben, als der Soldat zurückkehrte. Zu gleicher Zeit schleppte auch der Schließer eine alte, Gott weiß wie oft schon gebrauchte Kuhhaut herbei, und der Schlüssel drehte sich wieder im Schlosse.
»Da, Sennor, ist der Wein,« sagte der Soldat, »das Glas ist vom Schließer, zerbrechen Sie es nicht, sonst müssen Sie es bezahlen – und das andere Geld –« er griff langsam in die Tasche.
»Behalte für dich, Amigo, du hast mir einen Dienst erwiesen, und ich will nichts umsonst haben. – Wie wär's, Schließer, wenn ich auch für Geld und gute Worte einen Stuhl und Tisch bekommen könnte.«
»Tische,« knurrte dieser, »gibt's bei uns gar nicht; mit einem Stuhl wollen wir aber einmal sehen, was sich machen läßt; sie sind freilich rar.«
»Ich kaufe Ihnen den Stuhl ab und lasse ihn dann als Erbteil hier. – Noch eins – ist es wohl möglich, einen Boten an meinen Vater zu senden, damit sie sich zu Hause nicht um mich ängstigen? Ich will ihn gut bezahlen. – Ich verlange nichts umsonst.«
Der Schließer schüttelte mit dem Kopf. »Jetzt noch nicht,« meinte er, »müssen erst Antwort von drüben abwarten. Morgen vielleicht.«
»Morgen?« schrie José entsetzt, denn jetzt kam ihm zum erstenmal der Gedanke, daß er gezwungen werden könnte, in diesem furchtbaren Aufenthalt eine ganze Nacht zuzubringen – aber der Schließer, der die Kuhhaut nur eben in die Tür geschoben hatte, konnte sich nicht mit jedem Gefangenen in ein langes Gespräch einlassen. Er schlug die Tür wieder zu, drehte den Schlüssel um, schob dann oben und unten einen Riegel vor und ging ruhig seinen weiteren Geschäften nach.
José blieb wie versteinert, die Flasche in der rechten, das Glas in der linken Hand, stehen und starrte, als auf das einzig Sichtbare, auf das Loch in der Tür. – Hier eine Nacht zu verbringen – zwischen Verbrechern und Ungeziefer, ohne Bett, ohne Decke, ohne Licht selbst – und nicht einmal imstande, seinen Eltern Nachricht zu geben, – abgeschnitten von der Welt und weshalb? – Weshalb? – Er biß die Zähne fest gegeneinander und wollte wieder vorn an die Öffnung treten, aber es ging nicht. Die alte, steife Kuhhaut versperrte ihm, zusammengeschoben wie sie war, den Weg, und er mußte diese zuerst beseitigen. Das brachte ihn vorderhand auf andere Gedanken. Wo aber indes mit der Flasche hin, daß er sie nicht zerbrach? – Die Richtung nach dem ausgeschnittenen Loche taxierend, bis er sich erst wieder an die Dunkelheit gewohnt hatte, tappte er nach der hinteren Wand zurück, und brauchte dazu nicht weit zu gehen. Dort schob er vorsichtig Flasche und Glas in die eine Ecke, nachdem er erst den Platz mit der Fußspitze untersucht hatte, und ging jetzt daran, die Kuhhaut auszubreiten, indem er sie an der der Matratze entgegengesetzten Mauer in die Höhe zog. Dadurch bekam er Raum genug für sie und zugleich eine Lehne an der Wand, wenn er zu müde wurde und sich setzen mußte.
»Und nun ein Glas Wein; Gott sein Dank, daß ich den wenigstens habe.« Er tappte zu der Flasche zurück, sehr vorsichtig, daß er nicht an sie anstieß, griff sie dann auf – das Glas hatte er darüber gestülpt – und arbeitete sich nun wieder, jetzt schon rascher als vorher und nur mit hohen Schritten, um nicht über die Kuhhaut zu stolpern, nach der Tür zurück. Indem er das Glas gegen die Öffnung und deren Licht hob, war er auch imstande, sich einzuschenken, und dann – setzte er an und leerte das Glas auf einen raschen Zug. Er mußte erst wieder Leben in die Adern bekommen.
Noch stand er und prüfte den Wein auf der Zunge – er war wenigstens gut – als eine leise und matte Stimme plötzlich aus der Dunkelheit hervor sagte: »Wer ist hier?«
José hatte schon die ganze Zeit an den Kranken gedacht und die größte Vorsicht gebraucht, um seine Matratze nicht zu berühren und ihn nicht zu stören, aber noch keine Zeit gehabt, sich mit ihm zu beschäftigen. Erst mußte er mit seinen eigenen Vorbereitungen fertig werden. Jetzt plötzlich mahnte ihn dieser selber – er war also nicht bewußtlos, und ebenso leise antwortete er ihm:
»Ein Freund, Sennor – wie ist Ihnen? – Sind Sie noch krank?«
»Wer ist Ihr Freund?« fragte der Kranke – »ich kann in der Dunkelheit die Züge nicht erkennen.«
»Das glaube ich,« entgegnete José, »ich sehe Ihr Gesicht gar nicht. Sie sind Castilia, nicht wahr? Eloi Castilia?«
»Woher kennen Sie meinen Namen? – Wer sind Sie?«
»José Gonzales – Ihre Schwester Ana ist in unserem Hause.«
»Gott sei Dank!« seufzte der Kranke – »eine schwere Sorge ist mir da vom Herzen. Aber wie in aller Welt kommen Sie hierher?«
»Wenn ich es selber wüßte – aber wie, vor allen Dingen, steht es mit Ihren Wunden? Ihre Schwester weiß gar nicht, daß Sie schwer verwundet sind.«
»Desto besser – aber sprechen Sie leise, oder wir werden wieder getrennt; ich habe gehört, was die Leute vorher da draußen miteinander sprachen. Übrigens sind meine Wunden ganz unbedeutend – kaum Fleischrisse, und nur das Blut hatte mir anfangs die Augen verklebt, weil ich mit auf dem Rücken gebundenen Händen still liegen mußte.«
»Aber der Wärter sagte mir, Sie wären bewußtlos.«
»Ich stellte mich kränker als ich bin. Der Arzt, der mich verband, flüsterte mir es zu es zu tun, oder man würde mir die Matratze wieder nehmen, die ich nur bekommen habe, weil er fest darauf bestanden. – Meine arme, arme Schwester – wie geht es ihr?«
»Sie ist wohl genug und hat auch schon in Ihrem Interesse gehandelt. Sie war selber bei Oleaga, der sie freundlich aufgenommen hat.«
»Wann?« rief Eloi rasch.
»Gleich am ersten Abend, als sie von La Guayra heraufkam.«
»Und hat sie ihn heute mittag wieder gesehen?«
»Das ist mehr, als ich sagen kann. Ich bin heute früh von Hause fortgegangen, habe einen Boten besorgt, um Ihren Eltern Kunde zu geben, und wurde dann auf eine mir bis jetzt noch unbegreifliche Weise auf der Straße und eigentlich ohne jede Veranlassung hierher geschleppt. Ich begreife nur nicht, daß man Sie in dieses Loch geworfen hat, denn der Justizminister hat Ihrer Schwester die freundlichsten Versicherungen gegeben und versprochen, die Sache genau zu untersuchen, wie auch mit Ihnen indes so milde zu verfahren, als es das Gesetz gestattet. Aber traue einer den Versprechungen dieser Schufte. Das nennen sie nun ein mildes Verfahren – es ist eine miserable Bande.«
»Man hat mir alle meine Briefe abgenommen,« fuhr Castilia fort, »und ich fürchte, die schärfste Anklage gegen mich wird daraus erhoben. Von den Briefen wußte der Minister wahrscheinlich gestern abend noch nichts.«
»Alle Wetter, hatten Sie gravierende Sachen bei sich?«
»Briefe von Hauptquartier zu Hauptquartier und Depeschen.«
»Das ist freilich eine verfluchte Geschichte, und wir da draußen sind noch gar nicht so weit organisiert, um mit Erfolg losschlagen zu können. Das ewige Beraten und Geschreibe zögert nur die Sache hinaus und macht diese gelbe Bande immer hartnäckiger und übermütiger. Wer leitet denn die Sache in Barcelona?«
»Monagas.«
»Bah, ein alter Mann, der sich gern reden hört und alle möglichen Friedensversuche machen wird. Indessen ruinieren sie das ganze Land.«
»Und Sie haben nichts verbrochen?«
»Nichts wenigstens, wovon das Lumpengesindel hier eine Ahnung haben kann. Ich bin Offizier in der Revolutionsarmee, aber das wissen hier nur ganz vertraute Freunde, und ebensowenig hatte ich Papiere oder sonst etwas bei mir, das mich kompromittieren konnte. Wie gesagt, sie werden immer übermütiger, und kein ruhiger Bürger ist mehr auf der Straße seiner Freiheit, im Hause seines Vermögens sicher. – Aber Caramba,« unterbrach er sich plötzlich, »ich halte hier fortwährend die Flasche in der Hand, weil mir immer noch so war, als ob Sie verwundet seien. Ein Schluck Wein muß Ihnen ja gut tun.«
»Ich hatte mich schon lange danach gesehnt,« seufzte der Gefangene, »aber die Schufte haben mir ja alles abgenommen, was ich bei mir führte, auch den letzten Centabo, und ohne Geld ist man hier ein verlorener Mensch.«
»Daß ich auch nicht früher daran dachte,« rief José, »aber der Schaden ist leicht zu machen. Hier, Compannero, trinken Sie; der Wein ist nicht schlecht und geht wie Feuer durch die Adern.«
Castilia trank und gab das Glas eben zurück, als draußen wieder der Schlüssel in das Schloß gesteckt und die Riegel zurückgeschoben wurden. José lehnte die Flasche rasch und vorsichtig an die Wand, und sein Gefährte lag wieder still und regungslos wie vorher.
Jetzt öffnete sich die Tür, und der Schließer brachte wirklich einen Stuhl, den er hineinschob, worauf er aber nicht gleich wieder zuschloß. Erst mußte er die Bezahlung dafür erhalten.
»Nun? Ist's so recht –?«
»Vortrefflich lieber Freund,« sagte José, in die Tasche greifend, »aber sagen Sie mir einmal, werde ich denn nicht dem Präfekten vorgeführt? Ich möchte doch gern wissen, was ich verbrochen habe.«
»Werden Sie noch zeitig genug erfahren,« bemerkte der Mann, »hier geht alles nach der Reihe, und dann weiß ich auch gar nichts. Ich habe die Leute hier nur festzuhalten, weiter nichts.«
»Und was ist denn mit dem armen Teufel da? Der scheint schwer krank zu sein. Kommt denn kein Arzt zu ihm?«
»War schon da und kommt morgen wieder.«
»Und wenn er nun indessen stirbt?«
»Dann kann er sich gratulieren,« brummte der Schließer, dem das Geldsuchen ein wenig zu lange dauern mochte, »dann braucht er das Hängen nicht mehr durchzumachen.«
»Das Hängen?« rief José erschreckt, »hat er so Schweres verbrochen?«
»Es ist ein Spion von den Blauen und hat noch außerdem einen von unseren Offizieren totgeschossen. Dem geht's an den Kragen. Sie warten nur, bis sie ihn einmal verhören können. Dios la paga,« sagte er dann, als José ihm ein Stück Geld in die Hand drückte, und schloß im nächsten Augenblick die Tür wieder.
José horchte, ob er nicht an der Tür stehen blieb, und der junge Castilia, sich wieder auf seinem Ellbogen emporrichtend, sagte:
»Ich fürchte, daß der Bursche die Wahrheit spricht, denn ich weiß, daß Falcon meine Familie haßt. Außerdem aber hat er gerade in diesem Augenblick volle Ursache, sie als seine Feinde zu betrachten. Er wird mich sicher nicht schonen, denn die Gelegenheit, sich zu rächen, ist verlockend, und kleine Seelen lassen sich die nie entgehen – ich bin verloren.«
»Und das Volk nennt ihn den ›Großmütigen‹«!«
»Das Volk? Seine Legion von Generalen – er ist nur großmütig mit fremdem Gelde und sonst sogar von einem schmutzigen Geiz.«
»Aber er ist nicht blutgierig.«
»Nein, aber trotzdem ist ihm doch schon manches Opfer gefallen, und das wird sich steigern, je mehr ihn die Revolution einschließt und beängstigt. Bis jetzt hatten wir ja doch nur das Vorspiel einer Empörung, kaum mehr als die Drohung. Mit Barcelona ist sie zur Wirklichkeit geworden, und wenn Falcon den Feind nicht etwa unterschätzt, wird er gezwungen sein, alle Kräfte zusammenzuraffen – und selbst das kann ihm nichts mehr helfen.«
José, dessen Auge sich jetzt so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatte, um wenigstens das Antlitz seines Leidensgefährten zu erkennen, auf das gerade der Strahl aus der Öffnung fiel, sah, daß es bleich und noch mit Blut bedeckt war. – Nur die Augen hatte man ihm ausgewaschen – und Ana, das arme Mädchen – so lieb und hold und schon so unglücklich – wie würde sie das Schicksal des Bruders ergreifen – aber wie es abwenden? Denn auf Gnade war, wie er fürchtete, nicht zu rechnen, und eine Flucht? Wie hätte sie sich ausführen lassen aus diesen Mauern?
Wie ihn aber nur der Gedanke daran durchzuckte, flog sein Blick auch in dem dunklen Raum umher. Nichts ließ sich da freilich erkennen als die düsteren und festen Backsteinmauern, als die eisenbeschlagene Tür, vor der noch außerdem die Posten fortwährend auf und ab gingen, die jede Bewegung gesehen, jedes Geräusch gehört hätten. Und doch konnte er den Gedanken nicht wieder abschütteln.
Dies Gefängnis hier war, wie er recht gut wußte, und sich jetzt auch erinnerte schon gehört zu haben, gar nicht für schwere Verbrecher gebaut. Nur leichte Vergehen wurden hier, und meist mit einer einzigen Nacht, bestraft, Ruhestörer, Trunkene, Herumtreiber, die höchstens ein paar Tage Straßenarbeit zudiktiert bekamen, und in einem solchen Fall natürlich nicht daran dachten, auszubrechen. Nur in jetziger unruhiger Zeit war es, bei Überfüllung des größeren Gefängnisses, notwendig geworden, dieses mit zu benutzen, und wie ihm schien, gebrauchte man vorderhand noch keine weitere Vorsicht, als nur eine Vermehrung der Wachen. Die Rückwand lehnte sich an die Mauer, ja, die Mauer selber bildete sie vielleicht, und sollte es da so entsetzlich schwer sein, hindurchzubrechen? Aber wohin führte die Mauer? Doch wahrscheinlich auf die Straße – aber auch vielleicht in einen anderen Hof, und es blieb die Frage, ob man von dort aus dann auch ins Freie gelangen konnte. Jedenfalls mußte das vor allen Dingen untersucht werden, denn man hätte nachher ja gar nicht gewußt, wo man sich eigentlich befand.
Aber wie war das zu untersuchen? Solange José sich selber in Haft befand, war es nicht möglich, denn es blieb sehr unwahrscheinlich, daß man einen Freund zu ihm gelassen hätte – aber sie konnten ihn ja auch nicht lange zurückhalten, und dann war er fest entschlossen, nicht eher Caracas zu verlassen, bis er nicht wenigstens den Versuch gemacht habe, Anas Bruder zu befreien.
Castilia, der indessen mit keiner Ahnung, welche Pläne seines Leidensgefährten Hirn durchkreuzten, seinen trüben Gedanken gefolgt war, seufzte jetzt leise.
»Meine arme Mutter – wie sie sich um mich grämen wird – und wie glücklich könnten wir doch sein. Welches Unheil hat dieser eine unselige Mensch schon über unser schönes Land gebracht!«
»Haben Sie schon ein Verhör bestanden, Castilia?« fragte José, der nur seinen eigenen Ideen gefolgt war.
Der Gefangene schüttelte mit dem Kopfe. »Ich wurde halb bewußtlos hergebracht,« erwiderte er endlich. »Die entsetzliche Fahrt auf einem Karren, die fast die ganze Nacht währte, hatte mich so furchtbar angegriffen.«
»Sie führten also wirklich gefährliche Schriftstücke bei sich?«
»Die ganze Korrespondenz der neuen provisorischen Regierung an den Generalstab der Revolution in diesem Staat.«
»Dann müssen Sie fliehen,« sagte José entschlossen, »da bleibt kein anderer Ausweg, oder – die Sache nimmt für Sie ein schlimmes Ende.«
»Fliehen, aber wie – aus diesen Mauern? Ich bin außerdem sehr schwach, denn ich habe seit gestern morgen nichts gegessen.«
»Dem wollen wir abhelfen,« erwiderte José rasch, »und Kräfte müssen Sie vor allen Dingen wieder bekommen. Für das andere lassen Sie mich sorgen« – und ohne weiteres seinen Mund an die Öffnung der Tür bringend, rief er den gerade gegenüber befindlichen Posten an:
»Ist nicht einer von euren Soldaten hier, der einen halben Peso verdienen will?«
»Einer,« rief die Schildwache – »die ganze Kompagnie will das, und ich auch – einen Realito können Sie mir immer geben, Sennor, um etwas zu essen zu kaufen,« bemerkte er dann mit etwas unterdrückter Stimme, indem er dicht vor die Tür trat, »habe heute morgen noch nicht einmal gefrühstückt.«
»Alle Wetter, Amigo, das ist stark,« antwortete José »– aber mir geht's ebenso, und vielleicht kann ich uns beiden helfen. Hier nimm die zwei Real für dich, dann besorg' mir einen Burschen, der mir aus dem Hotel etwas zu essen holt. Willst du?«
»Gewiß will ich, Sennor, mit dem größten Vergnügen.«
»Gut – hier sind deine zwei Real, und diese zwei Pesos gibst du dem anderen – einen halben soll er für sich behalten und für das andere mir, – aber aus dem Hotel, verstehst du –? Brot, kaltes Huhn oder Fleisch und eine Schüssel Camotes bringen – gebacken, versteht sich – sie haben davon immer Vorrat, und ich spüre keine Lust hier zu verhungern. – Halt, und hier noch ein halber Peso für mehr Wein – ich bin furchtbar durstig, und in dem Loch hier ist's so dumpf und schwül, und bei dem Verwundeten da wird einem ganz unheimlich zumute.«
»Glaub's schon, Sennor,« meinte der Soldat gutmütig, indem er durch die herzförmige Öffnung das Geld in Empfang nahm, »soll alles richtig besorgt werden, Dios la paga,« – und fort schlenderte er, nach der Hauptwache zu, den Hof der Gefangenen sich selber überlassend. Er wußte ja auch recht gut, daß die Türen alle verschlossen waren, und keiner hinaus konnte; die ganze Hauptwache stand außerdem vor der Tür.
José hatte sich indessen auf den eroberten Stuhl gesetzt und grübelte sich immer mehr in seinen Plan hinein.
»Wissen Sie was, Castilia,« sagte er endlich – »ich habe eine Idee. Ich vermute fast, daß diese Mauer draußen an einer Straße hinläuft; welche, weiß ich freilich jetzt nicht, denn ich habe mich früher nie um die Ortsgelegenheit bekümmert, aber das bekomme ich in derselben Stunde heraus, in der ich frei werde, und dann verlassen Sie sich auf mich.«
»Aber wie soll ich die Mauer durchbrechen?«
»Vor allen Dingen spielen Sie den Todkranken weiter, damit man sich so wenig wie möglich mit Ihnen beschäftigt. Der Arzt scheint zu unserer Partei zu gehören, oder er würde Ihnen sonst nicht den guten Rat gegeben haben, und Lebensmittel wird man Ihnen doch erlauben zu empfangen. Man hat Ihnen, wie Sie sagen, alles Geld genommen – Sie dürfen also jetzt auch keines zeigen, sonst gäbe ich Ihnen gern, was ich noch übrig habe; aber man muß Ihnen doch gestatten, daß Sie verproviantiert werden, und mit den Lebensmitteln schicke ich Ihnen dann Werkzeug, mit dem Sie sich in der Nacht leicht durch die weichen Backsteine durcharbeiten können.«
»Und wenn man den Korb untersucht?«
»Das wird man gewiß,« entgegnete José, »und ich habe auch schon daran gedacht, aber dagegen gibt es ein Mittel. Ich arbeite selber manchmal einfache Sachen in der Schreinerei – ich werde ein Kistchen mit einem doppelten Boden anfertigen und einen Schieber darin, in dem sich ein schwaches Brecheisen verbergen läßt. Den Schieber werden Sie schon finden. Aber das Instrument, wenn Sie es heraus haben, verstecken Sie ja nicht in der Matratze, die man Ihnen jeden Augenblick wieder wegnehmen kann, sondern binden es sich an den Körper fest, bis Sie es gebrauchen.«
»Und wie soll ich erfahren, wann es Zeit ist?«
»Hm – je schneller wir es tun, desto besser,« meinte José nachdenkend, »aber ein Zeichen müssen wir allerdings haben. Fühlen Sie sich kräftig genug, um Ihre Flucht schon jetzt zu unternehmen?«
»Jeden Augenblick, sobald ich nur meinen quälenden Hunger gestillt habe, denn der erschlafft mir die Glieder.«
»Zu essen werden wir bald genug bekommen, und dann denk' ich, machen wir es so: Zuerst muß ich frei sein, das versteht sich von selbst, das aber kann auch nicht lange dauern, denn der Vorwand, unter dem ich verhaftet wurde, ist zu lächerlich, und ich vermute eher, es war ein Versehen der unteren Beamten, das sich natürlich rasch aufklären wird. Sobald ich aber auf freien Fuß komme, rekognosziere ich das Terrain, und wenn ich meine Vorbereitungen getroffen – und ich versäume keine Zeit dabei, darauf können Sie sich verlassen – sende ich Ihnen das Zeichen – bei den Speisen ein kleines Säckchen Salz mit einem roten Band zugebunden. Sowie Sie sich dann ungestört wissen, fangen Sie an zu arbeiten – am besten gleich hinter Ihrer Matratze, unter der Sie anfangs den Schutt verbergen können. Draußen halte ich Ihnen dann die Bahn frei – verlassen Sie sich darauf. Arbeiten Sie nur so geräuschlos als möglich, daß Sie hier nicht entdeckt werden, und überlassen Sie das andere Ihren Freunden – und noch eins. Schicke ich Ihnen das Band als Zeichen, dann fangen Sie abends um zehn Uhr an zu arbeiten – nicht eher – wir müssen sicher gehen, denn führt die Mauer auf die Straße hinaus, wie ich fest glaube, so ist diese noch zu belebt. Die beste Zeit für einen Fluchtversuch ist jedenfalls zwischen zehn und zwölf Uhr.«
Sie wurden wieder gestört – der Bursche kam mit dem Essen zurück und blieb vor der Tür stehen, bis der Schließer herbeigerufen werden konnte. Der kam denn endlich auch und knurrte über die ewige Arbeit, die er mit dem einen lumpigen Gefangenen hatte. Wenn sie ihm alle so viel Mühe machten, da mochte nachher der Teufel Schließer sein – er aber nicht.
Das Essen kam in einer Art von Schachtel, wurde aber, wie es Castilia auch ganz richtig vermutet hatte, genau untersucht, ob es nichts enthalte, was die Gefangenen nicht bekommen dürften. Der schmutzige Bursche brach sogar mit seinen wohl nie gewaschenen Händen das Brot voneinander, nahm die eine Hälfte eines kalten Huhns ebenfalls mit den Fingern auf, und wühlte das Essen mit einem seiner Schlüssel um. Erst, als er sich überzeugt hatte, daß nichts Verdächtiges dabei sei, schob er die Schachtel durch die kaum geöffnete Tür hinein, und schloß und riegelte dann wieder zu.