Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Achtes Buch: Die Zukunft
Die Geschichte ohne Ende

Τη̃ ‛Ελλάδι πενίη μὲν αιε κότε σύντροφός εστι, αρετὴ δὲ έπακτός εστι, από τε σοφίης κατεργασμένη καὶ νόμου ισχυρου̃
Herodot, Geschichte, VII, CII

Ihr sehet also nicht, daß es Engel waren.
Das Schreckensbuch

Bqsfttfusftptusbjut-bmbvuqsjufeftspijtfueftf nqfsfv-stbqsftbxpjspspdmbnfuspjtgpjttbmjcfs ufmbgsbodftft utpvnjubeftdpnqbhojftgjobodjf sfsftrvjetqptfoueftsjdifttfevqbztfuqbsmfnpzfo evofqfsttbdifuffeijsjhfoumqj ojpo
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Wir stehen am Anfang einer Chemie, die sich mit den Veränderungen befaßt, die von einem Körper bewirkt werden, die eine Quantität konzentrierter Energie enthält, wie wir sie ähnlich noch nicht zur Verfügung gehabt haben.
Sir William Ramsay

§1

Nie fand man die Häuser hoch genug. Man baute sie unablässig höher, man baute solche mit dreißig bis vierzig Stockwerken, in denen sich Bureaus, Magazine, Bankkontore, Gesellschaftsniederlassungen aufeinander schichteten. Und immer tiefer höhlte man den Boden zu Kellern und Tunnels aus.

Fünfzehn Millionen Menschen arbeiteten in der Riesenstadt, beim Schein der Leuchttürme, die Tag und Nacht ihre Feuer ergossen. Kein Himmelslicht durchdrang den Fabrikqualm, der über der Stadt lagerte. Doch zuweilen sah man eine rote, strahlenlose Sonnenscheibe an einem schwarzen Firmament dahingleiten, das von Eisenbrücken durchfurcht war, von denen Ruß und Kohlenstaub herabfiel. Es war von allen Städten der Welt die Stadt mit der größten Industrie, die reichste Stadt. Ihre Organisation schien vollkommen. Nichts hatte sie mehr von den aristokratischen oder demokratischen Vergangenheitsformen der Gesellschaft. Alles war den Interessen des Trusts untergeordnet. In diesem Milieu entstand das, was die Anthropologen den Typus des Milliardärs nennen. Dies waren Menschen mit hartem Willen und gebrechlichem Körper, voll großer Macht zu geistigen Kombinationen. Sie leisteten eine lange Bureauarbeit. Doch ihre Sensibilität war ererbten Störungen ausgesetzt, die mit dem Alter zunahmen.

Wie alle wahren Aristokraten, wie die Patrizier des republikanischen Roms, wie die altenglischen Lords trugen diese Machthaber große Sittenstrenge zur Schau. Man sah die Asketen des Reichtums. Zu den Trustversammlungen erschienen sie mit kahlen Gesichtern, hohlen Wangen, tiefliegenden Augen, gerunzelten Stirnen. Ihr Leib war dürrer, ihre Haut war gelber, ihre Lippen waren trockener, ihr Blick flammender als bei den alten spanischen Mönchen. Mit unauslöschlicher Glut weihten sich die Milliardäre dem strengen Dienst der Banken und der Industrie. Mehrere verweigerten sich jede Freude, jedes Vergnügen, jede Ruhe, verzehrten ihr klägliches Leben in einem Zimmer ohne Luft und Licht, mit elektrischen Apparaten als einzigem Mobiliar, aßen Eier und Milch und schliefen auf einem Gurtbett. Ohne andere Beschäftigung, als daß sie mit dem Finger auf einen Nickelknopf drückten, häuften diese Mystiker Schätze, von denen sie nicht einmal die äußeren Spuren sahen, und errangen die eitle Möglichkeit, Gelüste zu befriedigen, die sie nie empfinden würden.

Der Kult des Reichtums schuf sich auch Märtyrer. Einer von diesen Milliardären, der weltbekannte Samuel Vor, wollte lieber sterben, als ein Titelchen von seinem Eigentum abtreten. Einer seiner Arbeiter, das Opfer eines Arbeitsunfalls, sah, daß man ihm jeden Schadenersatz verweigerte. Er machte seine Rechte vor Gericht geltend, wurde jedoch durch die unübersteiglichen Schwierigkeiten des Prozeßverfahrens abgeschreckt, geriet in grausame Not und verzweifelte. Durch List und Kühnheit gelang es ihm, seinem Arbeitgeber den Revolver vor den Mund zu halten. Er drohte ihn zu erschießen, wenn er ihn nicht unterstützte. Samuel Vor gab nichts und ließ sich des Prinzips wegen töten.

Das Beispiel, das von oben kommt, wird nachgeahmt. Die wenig Kapital besaßen (es waren natürlich die meisten) kopierten die Ideen und die Sitten der Milliardäre, um mit ihnen verwechselt zu werden. Alle Leidenschaften, die dem Wachstum oder der Erhaltung des Besitzes schaden, galten als entehrend. Man verzieh weder Weichlichkeit, noch Trägheit, noch den Hang zu selbstlosen Studien, noch die Liebe zur Kunst, am wenigsten aber die Freigebigkeit; Mitleid wurde als gefährliche Schwäche verdammt. Während man jede wollüstige Neigung mißbilligte, entschuldigte man die Gewaltsamkeit eines brutal gestillten Appetits. In der Tat schien die Gewalt den Sitten weniger schädlich, da sie wohl eine der Formen sozialer Energie offenbarte. Fest ruhte der Staat auf zwei großen öffentlichen Tugenden: der Achtung vor dem Reichen und der Verachtung des Armen. Die schwachen Seelen, die Menschenleid noch verwirrte, hatten keine andre Zuflucht als eine Heuchelei, die man nicht tadeln konnte, da sie zur Ordnung und zur Solidität der Einrichtungen beitrug.

So widmeten sich bei den Reichen alle der Gesellschaft oder gebürdeten sich doch so; alle gaben ein Beispiel, wenn auch nicht alle es befolgten. Etliche fühlten die Strenge der Standesvorschriften grausam auf sich lasten; doch sie fügten sich aus Stolz oder Pflichtbewußtsein. Etliche versuchten, insgeheim der Kaste für einen Moment zu entrinnen. Einer von ihnen, Eduard Martin, der Präsident des Eisentrusts, verkleidete sich mitunter als Armer, ging um Brot betteln und ließ sich von den Passanten rauh abfertigen. Als er eines Tags auf einer Brücke die Hand ausstreckte, kam er mit einem echten Bettler in Zank und erwürgte ihn, von neidischer Wut gepackt.

Da sie alle ihre Intelligenz auf die Geschäfte verwandten, suchten sie die Vergnügungen des Geistes nicht. Das Theater, das ehedem bei ihnen sehr in Blüte gestanden hatte, war jetzt auf die Pantomime und auf komische Tänze beschränkt. Sogar bei Stücken mit Weibern war es leer. Der Geschmack für die schönen Formen, die glänzenden Toiletten hatte sich verloren. Man zog die Purzelbäume der Clowns und die Negermusik vor und begeisterte sich nur noch dafür, Diamanten am Hals von Figurantinnen und im Triumph getragene Goldbarren über die Bühne wandeln zu sehen.

Die reichen Damen waren so wie die Männer gebunden, in Ehrbarkeit zu leben. Gemäß einem Zug, der allen Zivilisationen gemeinsam ist, stellte das öffentliche Empfinden sie als Symbole hin. Sie sollten durch ihre strenge Pracht die Größe des Vermögens und seine Unantastbarkeit versinnlichen. Man hatte die alten Bräuche der Galanterie reformiert; den weltmännischen Geliebten schickte man jetzt verstohlen kraftvolle Masseure oder irgendeinen Kammerdiener nach. Indes gab es nur selten Skandale. Eine Reise ins Ausland verhehlte sie fast sämtlich, und die Trustprinzessinnen blieben der Gegenstand allgemeiner Hochachtung.

Die Reichen bildeten nur eine kleine Minderheit, doch ihre Mitarbeiter, die sich aus dem ganzen Volk zusammensetzten, waren ihnen völlig sicher oder völlig untertan. Sie bildeten zwei Klassen, die Klasse der Handels- und Bankangestellten und die Klasse der Fabrikarbeiter. Die ersten leisteten eine riesige Arbeit und bekamen große Gehälter. Einige von ihnen brachten es so weit, daß sie Etablissements begründen konnten. Die beständige Vermehrung des öffentlichen Reichtums und die Beweglichkeit der Privatvermögen berechtigten die Intelligentesten oder die Kühnsten zu allen Hoffnungen. Gewiß hätte man in der unendlichen Masse der Angestellten, Ingenieure oder Buchhalter, wenn man wollte, eine bestimmte Anzahl von Unzufriedenen oder Verärgerten entdeckt. Doch bis in den Geist ihrer Gegner hatte diese so mächtige Gesellschaft ihre starke Zucht eingegraben. Die Anarchisten sogar zeigten sich emsig und regelmäßig. Die Arbeiter, die in den Fabriken in der Nähe der Stadt schafften, waren in tiefem leiblichem und geistigem Verfall. Sie verwirklichten den von der Anthropologie festgelegten Typus des Armen. Obwohl die bei ihnen vorhandene Entwicklung gewisser Muskeln, die aus der besonderen Art ihrer Tätigkeit herzuleiten war, über ihre Kräfte täuschen konnte, wiesen sie die sicheren Zeichen krankhafter Schwäche auf. Ihr Wuchs war niedrig, ihr Kopf klein, ihre Brust eng. Sie unterschieden sich von den wohlhabenden Klassen noch durch eine Menge physiologischer Anomalien, zumal durch die häufige Asymmetrie des Kopfes oder der Gliedmaßen. Und sie waren zu allmählicher, fortschreitender Entartung erkoren. Denn die stärksten von ihnen machte der Staat zu Soldaten, deren Gesundheit den um die Kasernen lauernden Dirnen und Kneipwirten nicht lange widerstand. Die Proletarier zeigten sich immer schwachsinniger. Die fortschreitende Verarmung ihrer geistigen Fähigkeiten war nicht allein ihrer Lebensart zuzuschreiben, sondern, auch einer von ihren Arbeitgebern vorgenommenen methodischen Zuchtwahl. Diese fürchteten die Arbeiter mit zu hellem Kopf, weil sie mehr imstande wären, das Werk der Rache zu formulieren, zu der die Proletarier ein Recht hatten. Sie strebten sie auf jede erdenkliche Weise zu entfernen und stellten mit Vorliebe unwissende, dumme Arbeiter an, die unfähig waren, ihre Rechte zu schützen, nur eben klug genug, um ihren Arbeitsteil zu schaffen, den vervollkommnete Maschinen in äußerstem Grade erleichterten.

So wußten die Proletarier zur Besserung ihres Schicksals nichts zu unternehmen. Kaum konnten sie durch Streiks ihren Lohntarif halten. Und selbst dieses Mittel versagte schon hier und dort. Die Unterbrechung der Produktion, die bei kapitalistischem Regime notwendig stattfindet, verursachte so große Arbeitslosigkeit, daß in mehreren Industriezweigen, sobald ein Streik erklärt wurde, die Arbeitslosen an Stelle der Streikenden eintraten. Zuletzt blieben diese beklagenswerten Erzeuger in finstre Apathie versenkt, die nichts mehr aufheiterte, nichts erzürnte. Sie waren für die Gesellschaft unentbehrliche, gut angepaßte Instrumente.

Kurz, dieser Gesellschaftszustand schien auf den besten Grundlagen zu ruhen, die man je gesehen hatte, zum mindesten bei der Menschheit, denn mit der Gesellschaft der Bienen und Ameisen läßt sich an Festigkeit nichts vergleichen. Nichts ließ den Einsturz eines Regimes ahnen, das auf die stärksten Pfeiler der menschlichen Natur gebaut war, auf Stolz und Gier. Doch entdeckten Beobachter mit Urteilskraft mehrfachen Grund zur Sorge. Der sicherste, obschon nicht der deutlichste Grund war ökonomischer Art und bestand in der stets wachsenden Überproduktion, die lange, grausame Zeiten der Arbeitslosigkeit nach sich zog. Dann erkannten die Arbeitgeber ihren Nutzen darin, daß sie die Arbeitermacht brechen konnten, indem sie die Arbeitslosen gegen die Arbeitenden aufboten. Eine noch empfindlichere Gefahr lag im physiologischen Zustand fast der gesamten Bevölkerung. »Die Gesundheit der Armen ist, wie sie sein kann,« sagten die Hygieniker, »doch die der Reichen läßt zu wünschen übrig.« Die Ursachen zu finden war nicht schwer. In der Stadt fehlte es an dem zum Leben notwendigen Sauerstoff. Man atmete künstliche Luft. Die Nahrungsmitteltrusts, die die verwegensten chemischen Synthesen fertig brachten, erzeugten künstliche Weine, künstliches Fleisch, künstliche Milch, künstliches Obst und Gemüse. Die Diät, zu der sie zwangen, rief in Magen und Hirn Störungen hervor. Die Milliardäre waren mit achtzehn Jahren kahlköpfig. Etliche verrieten zuweilen eine gefährliche Geistesschwäche. Krank, unruhig, gaben sie riesige Summen für unwissende Hexenmeister aus, und plötzlich sah man in der Stadt das medizinische oder theologische Glück irgendeines schändlichen Badedieners emporschießen, der Therapeut oder Prophet geworden war. Die Zahl der Irren wuchs unaufhörlich. In der Welt der Reichen vervielfachten sich die Selbstmorde, und viele waren von grausigen, bizarren Umständen begleitet, die von unsäglicher Perversion der Intelligenz und des Empfindens zeugten. Noch ein anderes, verhängnisvolles Symptom betäubte die Masse. Hinfort war die Katastrophe periodisch, regelmäßig. Sie ließ sich in Voranschlag bringen und nahm in den Statistiken einen größeren Raum ein. Täglich platzten Maschinen, flogen Häuser in die Luft, stürzten von Waren berstende Züge auf einen Boulevard, rissen ganze Häuser nieder, zerschmetterten mehrere hundert Passanten und zermalmten, durch den gespaltenen Boden sausend, zwei oder drei Stockwerke mit Ateliers oder Docks, in denen zahlreiche Schiffsmannschaft sich mühte.

§2

Im südwestlichen Teil der Stadt dehnte sich auf einer Höhe, die ihren alten Namen Fort des heiligen Michael bewahrt hatte, ein Square, wo noch alte Bäume ihre saftlosen Arme über den Rasen reckten. Auf dem Nordabhang hatten Landschaftsingenieure eine Kaskade, Grotten, einen Gießbach, einen See und Inseln angelegt. Auf dieser Seite sah man die ganze Stadt mit ihren Straßen, ihren Boulevards, ihren Plätzen, mit der Menge ihrer Hauser und Dome, mit ihren Luftbahnen, ihren von Schweigen bedeckten und durch die Entfernung wie verzauberten Menschenmassen. Dieser Square war die gesündeste Gegend der Hauptstadt. Dort verschleierte der Qualm den Himmel nicht, und man führte die Kinder hin zum Spielen. Im Sommer erholten sich etliche Angestellte aus den Bureaus und Laboratorien der Gegend nach ihrem Frühstück hier einen Moment, ohne die feierliche Einsamkeit des Ortes zu stören.

So ließ sich eines Junitages, gegen Mittag, eine Telegraphistin, Karoline Meslier, auf einer Bank am äußersten Ende der Nordterrasse nieder. Um ihre Augen mit etwas Grün zu laben, wandte sie der Stadt den Rücken zu. Braun, mit rotgelben Augen, stark und still, schien Karoline fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Jahre alt. Unmittelbar darauf nahm ein Gehilfe aus dem Elektrizitätstrust, Georges Clair, neben ihr Platz. Er war blond, schmal, behend und hatte frauenhaft feine Züge. Er war nicht älter als sie, sondern schien jünger. Sie trafen einander hier fast täglich, hegten gegenseitige Sympathie, und es freute sie, miteinander zu plaudern. Doch war in ihrer Unterhaltung nie Zärtlichkeit, Innigkeit, Vertraulichkeit. Karoline hätte, obwohl es ihr früher widerfahren war, daß sie Vertrauen bereuen mußte, vielleicht mehr Hingabe gezeigt. Doch Georges Clair war in seinen Ausdrücken wie in seinen Gebaren immer sehr zurückhaltend. Er verlieh dem Gespräch stets rein geistigen Charakter und blieb bei allgemeinen Ideen, wobei er sich jedoch mit dem herbsten Freimut über alle Dinge äußerte.

Er besprach mit ihr gern die Organisation der Gesellschaft und die Bedingungen der Arbeit.

»Der Reichtum,« sagte er, »ist eins der Mittel, um glücklicher zu leben; sie haben den einzigen Zweck des Daseins daraus gemacht.«

Und dieser Zustand schien ihnen ungeheuerlich.

Sie kamen beständig auf etliche wissenschaftliche Themen zurück, worüber sie Bescheid wußten.

An jenem Tage bemerkten sie einiges über die Entwicklung der Chemie.

»Von dem Augenblick an,« sagte Clair, »wo man das Radium sich in Helium verwandeln sah, hat man aufgehört, die Unveränderlichkeit der einfachen Körper zu behaupten. So wurden alle jene alten Gesetze von den einfachen Beziehungen und von der Erhaltung der Materie beseitigt.« »Doch,« sagte sie, »es gibt chemische Gesetze.«

Denn da sie ein Weib war, hatte sie das Glaubensbedürfnis in sich.

Nachlässig fuhr er fort:

»Jetzt, wo man sich Radium in hinreichender Quantität verschaffen kann, besitzt die Wissenschaft unvergleichliche Mittel der Analyse. Schon heute sieht man in den sogenannten einfachen Körpern zusammengesetzte Körper von größtem Reichtum, und in der Materie entdeckt man Energien, die im Verhältnis zu ihrer Kleinheit zu wachsen scheinen.«

Während sie plauderten, streuten sie den Vögeln Brosamen. Kinder spielten um sie her.

Clair ging auf ein anderes Thema über und sagte:

»Dieser Hügel war in der jüngsten Diluvial- und Alluvialperiode von wilden Pferden bewohnt. Im vergangenen Jahr hat man, als die Wasserleitungen gegraben wurden, eine dichte Schicht von Hemionenknochen gefunden.«

Sie begehrte zu wissen, ob sich in jener fernen Epoche der Mensch schon gezeigt habe.

Er sagte ihr, daß der Mensch die Hemionen jagte, bevor er sie zu zähmen versuchte.

»Der Mensch,« setzte er hinzu, »war zuerst Jäger, dann wurde er Hirt, Ackerbauer, Gewerbetreibender... Und diese verschiedenen Zivilisationen folgten einander in so dichtem Zeitraum, daß der Geist sich keinen Begriff davon machen kann.«

Er zog seine Uhr heraus. Karoline fragte ihn, ob man schon ins Bureau zurückkehren müsse.

Er antwortete, nein, es sei kaum halb ein Uhr.

Vor ihrer Bank buk ein kleines Mädchen Sandpasteten. Ein kleiner Junge von sieben bis acht Jahren hüpfte an ihnen vorüber. Indes seine Mutter auf einer nahen Bank nähte, spielte er allein das weglaufende Pferdchen. Und mit der Einbildungskraft, deren die Kinder fähig sind, stellte er sich vor, er sei zugleich das Pferd, die Verfolger und die Leute, die mit Schrecken entflohen. Wie toll lief er dahin und schrie: »Halt, hu, hu! Jetzt kommt das wilde Pferd; es geht durch.«

Karoline fragte:

»Glauben Sie, daß die Menschen einst glücklich gewesen sind?«

Ihr Gefährte antwortete:

»Als sie jünger waren, litten sie weniger. Sie machten es wie der kleine Junge; sie spielten. Sie spielten Kunst, Tugend, Laster, Heroismus, Glauben, Wollust. Sie hatten Illusionen, die sie ergötzten. Sie machten Lärm; sie amüsierten sich. Jetzt aber ...«

Er unterbrach sich und blickte von neuem auf seine Uhr.

Das Kind, das um sie herumlief, stolperte mit dem Fuß gegen den Eimer des kleinen Mädchens und fiel lang hin über den Kies. Einen Moment blieb es unbeweglich ausgestreckt, dann erhob es sich auf seinen Handflächen. Seine Stirn schwoll an, sein Mund verbreiterte sich, und plötzlich schluchzte es los. Die Mutter eilte herzu, doch Karoline hatte es von der Erde hochgenommen und trocknete ihm mit ihrem Taschentuch die Augen. Das Kind schluchzte noch immer. Clair nahm es in seinen Arm:

»Na, weine nicht, Kleiner. Ich werde dir eine Geschichte erzählen.

Ein Fischer warf sein Netz ins Meer und zog ein verschlossenes Kupfertöpfchen heraus. Er öffnete es mit seinem Messer. Ein Rauch quoll hervor, der bis zu den Wolken stieg, und dieser Rauch wurde dicht und nahm die Gestalt eines Riesen an, der so stark nieste, so stark, daß die ganze Welt in Staub aufging ...«

Clair hielt inne, lachte ein bitteres Lachen, und plötzlich gab er das Kind seiner Mutter zurück. Dann zog er von neuem seine Uhr und blickte, die Knie auf der Bank, die Ellbogen an der Lehne, zur Stadt.

Soweit man sehen konnte, wogte das Meer der Häuser in ihrer winzigen Riesenhaftigkeit.

Karoline wandte den Blick nach derselben Seite.

»Wie schön das Wetter ist!« sagte sie. »Die Sonne strahlt und wandelt den Qualm der Ferne zu Gold. Es ist doch die traurigste Erscheinung der Zivilisation, daß sie uns des Tageslichts beraubt.«

Er antwortete nicht. Sein Blick war starr auf einen Punkt der Stadt geheftet.

Nach einigen Sekunden des Schweigens sahen sie im Abstand von etwa drei Kilometern, jenseits des Flusses, im reichsten Quartier, eine Art tragischen Nebels sich hochwälzen. Einen Moment später drang das Getöse einer Entladung bis zu ihnen hin, während ein riesiger Rauchbaum in den reinen Himmel wuchs. Und allmählich füllte sich die Luft mit kaum hörbarem Summen, das aus dem Geheul von etlichen tausend Menschen zusammenquoll. Schreie wurden in nächster Nähe laut, auf dem Square.

»Was fliegt da in die Luft?«

Groß war die Bestürzung. Denn obwohl die Katastrophen häufig waren, hatte man nie eine Explosion von solcher Wucht gesehen, und jeder merkte, daß eine furchtbare Neuheit entstanden war. Man versuchte, den Ort des Unglücks zu bestimmen. Man nannte Quartiere, Straßen, verschiedene Gebäude, Klubs, Theater, Magazine. Die topographischen Auskünfte wurden genauer, man erlangte Gewißheit.

»Der Stahltrust ist in die Luft geflogen.«

Clair steckte seine Uhr wieder in die Tasche.

Gespannt sah Karoline ihn an, und ihre Augen füllten sich mit bewunderndem Staunen.

Endlich flüsterte sie ihm ins Ohr:

»Sie haben es gewußt? Sie haben es erwartet? ... Sie haben ...«

Sehr ruhig antwortete er:

»Diese Stadt muß zugrunde gehn.«

In sanfter Träumerei erwiderte sie:

»Das meine ich auch.«

Und still kehrten beide zu ihrer Arbeit zurück.

§3

Seit jenem Tag folgten die anarchistischen Attentate einander eine Woche lang ohne Pause. Zahlreich waren die Opfer, und fast sämtlich gehörten sie zu den armen Klassen. Die Verbrechen wurden von der Öffentlichkeit mit Entrüstung aufgenommen. Am heftigsten brach diese unter den Hausangestellten los, den Hoteliers, den kleinen Beamten und bei den Resten des Kleinhandels, die die Trusts gelassen hatten. In den am meisten bevölkerten Quartieren hörte man die Frauen ungebräuchliche Todesmartern für die Dynamitschmeißer verlangen. (So nannte man sie mit einem alten Namen, der schlecht für sie paßte, denn für diese unbekannten Chemiker war das Dynamit eine harmlose Materie, mit der man allenfalls Ameisenhaufen zerstören konnte, und Nitroglyzerin mit einer Lunte von Merkurfulminat explodieren zu lassen, schien ihnen ein kindischer Zeitvertreib.) Die Geschäfte hörten plötzlich auf, und die am wenigsten Reichen fühlten sich zuerst getroffen. Sie sprachen davon, die Anarchisten selbst zu richten. Die Fabrikarbeiter jedoch blieben der Gewaltaktion gegenüber feindlich oder gleichgültig. Wegen des schleppenden Geschäftsganges drohte ihnen eine nahe Arbeitslosigkeit oder sogar eine Aussperrung, die alle Werkstätten umfaßte. Sie sollten dem Bund der Syndikate Bescheid geben, der als das mächtigste Mittel auf die Arbeitgeber zu wirken und als wirksamste Hilfe gegen die Revolutionäre den Generalstreik vorschlug. Alle Gewerkschaften mit Ausnahme der Vergolder weigerten sich, die Arbeit niederzulegen. Die Polizei nahm zahlreiche Verhaftungen vor. Truppen, die aus allen Bezirken des nationalen Staatenbundes herbeigerufen wurden, bewachten die Häuser des Trusts, die Hotels der Milliardäre, die öffentlichen Etablissements, die Banken und die großen Magazine. Vierzehn Tage vergingen ohne eine einzige Explosion. Man schloß daraus, die Dynamitschmeißer, wahrscheinlich nur eine Handvoll, vielleicht noch weniger, seien alle getötet, gefangen, versteckt oder entflohen. Das Vertrauen kehrte wieder; zuerst schöpften die Ärmsten Mut. Zwei- bis dreihunderttausend Soldaten, die in den bevölkerten Quartieren lagen, brachten den Handel in Schwung. Man rief: »Hoch die Armee!«

Die Reichen, die sich weniger schnell erregt hatten, wollten sich langsamer wieder beruhigen. An der Börse jedoch streute die Haussegruppe optimistische Nachrichten aus und bremste die Baisse durch mächtigen Druck; die Geschäfte kamen wieder in Gang. Die Zeitungen mit großer Auflage halfen der Bewegung nach. Mit patriotischer Beredsamkeit zeigten sie, wie das unantastbare Kapital dem Überfall etlicher feiger Verbrecher Hohn lache, und wie der öffentliche Reichtum trotz eitler Drohungen in ungetrübtem Aufstieg fortfahre. Sie waren ehrlich und fanden ihren Gewinn dabei. Man vergaß die Attentate, man leugnete sie. Bei den Sonntagsrennen waren die Tribünen mit Frauen geschmückt, an denen schwere Lasten von Perlen und Diamanten hingen. Froh nahm man wahr, daß die Kapitalisten nicht gelitten hatten. Am Wiegeplatz jubelte man den Milliardären zu.

Am nächsten Tag flogen der Südbahnhof, der Petroleumtrust und die herrliche Kirche, die auf Rechnung von Thomas Morcellet gebaut war, in die Luft. Dreißig Häuser verbrannten; in den Docks zeigte sich der Beginn einer Feuersbrunst. Die Feuerwehr betätigte wunderbare Aufopferung und Unerschrockenheit. Mit automatischer Präzision handhabten die Leute ihre langen, eisernen Leitern, und bis zum dreißigsten Stockwerk stiegen sie, um die Unglücklichen den Flammen zu entreißen. Emsig verrichteten die Soldaten den Ordnungsdienst; sie bekamen eine doppelte Ration Kaffee. Doch diese neuen Katastrophen entfesselten die Panik. Tausende von Personen wollten mit ihrem Geld sofort abfahren. Sie drängten sich in den großen Kreditinstituten, die drei Tage lang zahlten, dann jedoch unter dem Grollen des Aufruhrs ihre Schalter schlossen. Eine Menge Flüchtlinge, die unter ihrem Gepäck zusammenbrachen, belagerte die Bahnhöfe und erstürmte die Züge. Viele, die eiligst mit Vorräten an Lebensmitteln in die Keller flüchten wollten, stürzten über die von bajonettbewaffneten Soldaten umringten Kram- und Eßwarenläden her. Die öffentliche Gewalt zeigte Energie. Neue Verhaftungen wurden vorgenommen, Tausende von Verhaftungsbefehlen gegen Verdächtige erlassen.

In den drei nächsten Wochen geschah kein Unglück. Das Gerücht lief um, man habe im Saal der Oper, im Keller des Stadthauses und an einer Säule der Börse Bomben gefunden. Doch bald erfuhr man, daß es von Spaßvögeln oder Irrsinnigen niedergelegte Konservenbüchsen waren. Einer der Angeschuldigten erklärte, als der Untersuchungsrichter ihn ausfragte, er sei der Haupturheber der Explosionen, die allen seinen Genossen das Leben gekostet hätten. Dieses von den Zeitungen mitgeteilte Geständnis trug zur Beschwichtigung der Öffentlichkeit bei. Erst gegen Ende der Untersuchung merkten die Behörden, daß sie einen Simulanten vor sich hatten, der jeglichem Attentat fern stand.

Die von den Gerichten ernannten Sachverständigen entdeckten kein Bruchteil, das ihnen gestattet hätte, die zum Zerstörungswerk verwandte Maschine zu ergänzen. Nach ihren Mutmaßungen rührte der neue Explosivstoff von dem Gas her, das im Radium frei wird. Und man war der Ansicht, elektrische, durch einen Oszillator von besonderem Typ erzeugte Wellen, die sich durch den Raum fortpflanzten, verursachten die Entladung. Doch selbst die geschicktesten Chemiker konnten nichts Genaues und Gewisses sagen. Eines Tags endlich fanden zwei Polizisten, als sie vor dem Hotel Meyer vorbeigingen, auf dem Trottoir bei einem Kellerloch ein Ei aus weißem Metall, das an der Spitze mit einer Kapsel versehen war. Vorsichtig hoben sie es auf und brachten es nach ihres Chefs Geheiß ins städtische Laboratorium. Kaum hatten die Sachverständigen sich zur Prüfung versammelt, da platzte das Ei und riß Amphitheater und Kuppel ein. Alle Sachverständigen kamen um, mit ihnen der Artilleriegeneral Collin und der berühmte Professor Tigre.

Die kapitalistische Gesellschaft ließ sich durch dieses neue Unheil nicht niederschlagen. Die großen Kreditinstitute öffneten ihre Schalter wieder und kündigten an, sie würden ihre Zahlungen teils in Gold, teils in Staatspapieren leisten. Die Wertbörse und die Warenbörse beschlossen, trotz dem völligen Stillstand der Transaktionen, ihre Sitzungen nicht zu unterbrechen.

Inzwischen war die Untersuchung gegen die ersten Angeklagten abgeschlossen. Vielleicht wären die wider sie aufgebrachten Schuldbeweise bei anderer Zeitlage unzureichend erschienen; der Eifer der Behörden und die öffentliche Entrüstung halfen nach. Am Abend vor dem für die Debatten festgesetzten Tag flog der Justizpalast in die Luft. Achthundert Personen, darunter sehr viele Richter und Advokaten, kamen um. Die rasende Menge brach in die Kerker ein und lynchte die Gefangenen. Die zur Wiederherstellung der Ordnung ausgeschickte Truppe wurde mit Steinwürfen und Revolverschüssen empfangen; mehrere Offiziere wurden vom Pferd herabgerissen und mit Füßen getreten. Die Soldaten feuerten; es gab zahlreiche Opfer. Zuletzt konnte die öffentliche Gewalt wieder Ruhe stiften. Am nächsten Tag flog die Bank in die Luft.

Von nun ab sah man Unerhörtes. Die Fabrikarbeiter, die den Streik abgelehnt hatten, stürzten in Massen über die Stadt her und setzten die Häuser in Brand. Ganze Regimenter vereinigten sich unter Führung ihrer Offiziere mit den sengenden Arbeitern, marschierten, revolutionäre Lieder singend, mit ihnen durch die Stadt und holten aus den Docks Tonnen voll Petroleum, um sie ins Feuer zu gießen. Die Explosionen setzten keine Stunde aus. Eines Morgens erhob sich plötzlich ein ungeheurer, drei Kilometer hoher Baum, das Spukbild eines Palmbaumes, über dem Platz des riesigen Telegraphengebäudes, das mit einem Schlage vernichtet war. Indes die eine Hälfte der Stadt in Flammen loderte, ging in der andern das Leben seinen regelmäßigen Gang fort. Morgens hörte man in den Wagen der Milchhändler die Blechkannen klappern. Auf einer verlassenen Prachtstraße zerkaute ein alter Chausseewärter, der vor einer Mauer saß, langsam Bissen Brot mit etwas Fleisch. Die Trustpräsidenten blieben sämtlich auf ihren Posten. Etliche erfüllten ihre Pflicht mit heroischer Einfachheit. Raphaël Bor, der Sohn des Märtyrer-Milliardärs, flog in die Luft, als er die Versammlung des Zuckertrusts leitete. Man veranstaltete für ihn ein großartiges Leichenbegängnis. Zehnmal mußte der Zug über Trümmerfelder klettern oder auf Bohlen die gespaltenen Chausseen durchqueren.

Die gewöhnlichen Hilfsbataillone der Reichen, Kommis, Angestellte, Makler, Agenten bewahrten ihnen unerschütterliche Treue. Am Verfalltag gingen die überlebenden Boten der von der Katastrophe betroffenen Bank durch eingerissene Straßen in die rauchenden Straßen, und mehrere ließen sich, um ihr Inkasso auszuführen, von den Flammen verzehren.

Dennoch durfte man sich keinen Illusionen hingeben; der unsichtbare Feind war Herr der Stadt. Jetzt krachte überall der Lärm der Explosionen, fortschwingend wie die Stille, kaum wahrnehmbar und voll unüberwindlichen Grauens. Da die Beleuchtungsapparate zerstört waren, blieb die Stadt die ganze Nacht hindurch in Dunkel getaucht, und Gewalttaten von unerhörter Scheußlichkeit wurden begangen. Nur die weniger geprüften, bevölkerten Quartiere verteidigten sich noch. Freiwillige Ordnungsmannschaften zogen als Patrouillen umher. Sie erschossen die Diebe, und an jeder Straßenecke stieß man auf einen Körper, der in einer Blutlache kauerte, mit gebogenen Knien, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, mit einem Taschentuch auf dem Antlitz und einem Schild auf dem Bauch.

Es wurde unmöglich, die Trümmer abzuräumen und die Toten zu begraben. Bald verbreiteten die Leichen unerträglichen Gestank. Seuchen wüteten, die unzählige Todesfälle verursachten und die Überlebenden in Schwäche und Stumpfheit zurückließen. Der Hunger raffte fast alles weg, was noch da war. Hunderteinundvierzig Tage nach dem ersten Attentat, als sechs Armeekorps mit Feldartillerie und Festungsartillerie kamen, weilten Karoline und Clair nachts im ärmsten Viertel der Stadt, dem einzigen, das noch stand, jetzt aber von Flammen und Rauch umzingelt war, auf dem Dach eines hohen Hauses, hielten sich bei der Hand und spähten. Freudengesänge stiegen von der Straße empor, wo die Menge, die verrückt geworden war, tanzte.

»Morgen wird es aus sein,« sprach der Mann, »und es ist besser so.«

Das junge Weib, dessen Haar aufgegangen war, dessen Gesicht vom Widerschein der Feuersbrunst strahlte, betrachtete mit frommer Freude den Feuerring, der sich um sie zusammenzog.

»Es ist besser so,« sprach auch sie.

Und sie stürzte sich in die Arme des Zerstörers und küßte ihn liebestrunken.

§4

Auch die anderen Bundesstädte litten unter Wirren und Gewalt, dann trat die Ordnung wieder in Kraft. Die Einrichtungen wurden reformiert. In den Sitten vollzogen sich große Änderungen. Doch das Land erholte sich nie ganz vom Verlust seiner Hauptstadt und fand den alten Wohlstand nicht mehr. Handel und Industrie verkamen. Die Zivilisation gab diese Gegenden preis, die sie lange vor allen sonst bevorzugt hatte. Sie wurden unfruchtbar und der Gesundheit schädlich. Das Gebiet, das so viele Millionen Menschen ernährt hatte, war nur noch eine Wüstenei. Auf dem hügligen Fort des heiligen Michael fraßen wilde Pferde das fette Gras ab.

Die Tage zerrannen wie die Wellen der Brunnen, und die Jahrhunderte sickerten wie das Wasser an den Zacken des Tropfsteins. Jäger kamen und jagten die Bären auf den Hügeln, die die verschollene Stadt deckten. Hirten führten dort ihre Herden zur Weide. Ackerer setzten ihren Pflug an. Gärtner bauten in eingezäunten Feldern Salat und pfropften Birnbäume. Sie waren nicht reich. Sie wußten nichts von Kunst. Ein fußhoher, alter Weinstock und Rosensträucher bespannen die Mauer ihrer Hütte. Ein Ziegenfell schützte ihre gebräunten Glieder. Ihre Frauen kleideten sich in Wolle, die sie selbst gewoben hatten. Die Ziegenhirten kneteten aus Ton kleine Figuren von Menschen und Tieren oder sagten Gesänge her vom jungen Mädchen, das dem Geliebten in den Wald folgt, und von den Ziegen, die weiden, indes die Fichte rauscht und der Bach murmelt. Der Herr wurde über die Mistkäfer erbost, die seine Feigen beknabberten. Er ersann Fallen, um den dickgeschwänzten Fuchs von seinen Hühnern fernzuhalten, goß seinen Nachbarn Wein ein und sprach:

»Trinkt! Die Grillen haben mir die Lese nicht vergällt. Als sie kamen, waren die Weinstöcke schon dürr.«

Dann, im Lauf der Zeit, wurden die mit Hab und Gut angefüllten Dörfer, die kornschweren Felder von einfallenden Barbaren geplündert und verheert. Mehrmals bekam das Land andere Herren. Die Eroberer türmten auf den Hügeln Schlösser auf. Der Anbau vervielfältigte sich. Mühlen, Schmieden, Gerbereien, Webereien wurden in Betrieb gesetzt. Durch Wälder und Sümpfe wurden Wege gebahnt. Die Dörfer wurden große Flecken, vereinigten sich und bildeten eine Stadt, die sich mit tiefen Gräben und hohen Mauern umfriedete. Später, als sie die Hauptstadt eines großen Staates war, fand sie sich durch die hinfort nutzlosen Wälle eingeengt und machte grüne Promenaden daraus.

Sie bereicherte sich und wuchs ins Maßlose. Nie fand man die Häuser hoch genug. Man baute sie unablässig höher, man baute solche mit dreißig bis vierzig Stockwerken, in denen sich Bureaus, Magazine, Bankkontore, Gesellschaftsniederlassungen aufeinanderschichteten. Und immer tiefer höhlte man den Boden zu Kellern und Tunnels aus. Fünfzehn Millionen Menschen arbeiteten in der Riesenstadt.


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