Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Zehntes Kapitel

Der Drache von Alka (Fortsetzung)

Die Tage rannen dahin, und auf der Insel erhob sich keine Jungfrau, das Ungetüm zu bekämpfen. Und der Greis Maël saß auf einer Bank des Holzklosters, im Schatten eines alten Feigenbaumes, in Gesellschaft eines von Frömmigkeit durchglühten Mönches namens Regimental, und fragte sich unruhvoll und traurig, weshalb sich in Alka nicht eine einzige Jungfrau fände, die das Tier zu überwinden mächtig sei.

Er seufzte, und der Bruder Regimental tat desgleichen. Da ging der junge Samuel durch den Garten, und der Greis Maël rief ihn und sprach zu ihm:

»Mein Sohn, ich habe wiederum Mittel überdacht, den Drachen zu vernichten, der die Blüte unsrer Jugend frißt, unserer Herden und unserer Ernten. Hier scheint die Geschichte der Drachen des Sankt Riok und des Sankt Pol von Leon mir besonders lehrreich. Der Drache von Sankt Riok war sechs Klafter lang. Seines Kopfes Form schwankte zwischen der des Hahnes und der des Basilisken, sein Leib war halb der eines Ochsen, halb der einer Schlange; er verwüstete die Ufer des Elorn, zu des Königs Kristokus Zeit. Sankt Riok, ein zweijähriger Knabe, führte das Ungetüm am Halsband bis zum Meer, worinnen es sich freiwillig ertränkte. Der Drache des Sankt Pol war sechzig Fuß lang und nicht minder furchtbar. Der selige Apostel von Leon fesselte ihn mit seiner Stola und ließ ihn von einem sehr keuschen jungen Herrn leiten. Diese Beispiele erhärten, daß vor Gottes Augen eine männliche Jungfrau ebenso angenehm ist wie eine weibliche. Der Himmel macht keinen Unterschied. Deshalb wollen wir, mein Sohn, wenn du mir darin vertraust, zu zweit uns zum Gestade der Schatten begeben. Und wenn wir an die Höhle des Drachen kommen, wollen wir das Ungetüm mit lauter Stimme rufen, und wenn es naht, binde ich ihm meine Stola um den Hals, und du sollst es am Gängelband bis zum Meer lenken, wo es zweifellos sich ertränken wird.«

Auf diese Rede des Greises senkte Samuel das Haupt und antwortete nicht.

»Mir scheint, du zögerst, mein Sohn,« sprach Maël.

Der Bruder Regimental nahm, seiner Gewohnheit zuwider, ohne befragt zu sein, das Wort.

»Man sollte wenigstens zögern,« bemerkte er. »Sankt Riok war nur zwei Jahre alt, da er den Drachen überwand. Wer sagt Euch, daß er neun bis zehn Jahre später noch dasselbe vollbracht hätte? Bedenkt, mein Vater, der Drache, der unsere Insel verheert, hat den kleinen Elo und vier bis fünf junge Burschen außer ihm gefressen. Der Bruder Samuel ist nicht eitel genug, um sich mit neunzehn Jahren unschuldiger zu wähnen denn diese mit vierzehn und einem halben.«

»Weh!« fügte der Mönch dem ächzend hinzu. »Wer kann sich rühmen, in dieser Welt keusch zu sein, wo alles uns ein Beispiel und Vorbild der Liebe gibt, wo alles in der Natur, Tiere und Pflanzen, uns die wollüstigen Umarmungen zeigt und verrät? Die Tiere sind hitzig, sich nach ihrem Wunsch zu gatten. Doch die verschiedenen Hymen der Vierfüßler, der Vögel, der Fische, der Kriechtiere sind bei weitem nicht so üppig wie der Bäume Vermählungen. Die ungeheuerlichsten Schamlosigkeiten, die die Heiden in ihren Fabeln erdichtet haben, sie werden durch die schlichteste Feldblume übertroffen, und kenntet Ihr die Hurerei der Lilien und der Rosen, so würdet Ihr diese Kelche der Unzucht, diese Gefäße des Ärgernisses von den Altären reißen.«

»Sprecht nicht so, Bruder Regimental,« entgegnete der Greis Maël. »Da sie dem Naturgesetz gehorchen, sind Tiere und Pflanzen stets unschuldig. Sie haben keine Seele zu erretten. Der Mensch indes ...?«

»Recht habt Ihr,« erwiderte der Bruder Regimental. »Das ist ein anderer Leisten. Aber schickt den jungen Samuel nicht zum Drachen; der Drache würde ihn fressen. Seit fünf Jahren ist Samuel nicht mehr imstand, die Scheusale durch seine Unschuld zu verblüffen. Im Kometenjahr hat der Teufel, ihn zu verderben, eines Tages ihm eine Milchmagd über den Weg gesandt, die ihren Kittel schürzte, um eine Furt zu durchwaten. Samuel geriet in Versuchung; doch er rang sie nieder. Der unermüdliche Teufel sandte ihm das Bild der jungen Magd im Traum. Der Schatten wirkte, was dem Leib nicht gelungen war: Samuel fiel. Als er erwachte, netzte er sein entweihtes Lager mit seinen Zähren. Weh! Die Reue hat ihm seine Unschuld nicht zurückgegeben.«

Als Samuel diesen Bericht hörte, fragte er sich, wie sein Geheimnis enthüllt werden konnte, denn er wußte nicht, daß der Teufel die Erscheinung des Bruders Regimental geliehen hatte, um die Mönche von Alka in ihren Herzen zu verwirren.

Und der Greis Maël grübelte und fragte sich mit Schaudern:

»Wer befreit uns von des Drachen Zahn? Wer behütet uns vor seinem Odem? Wer rettet uns vor seinem Blick?«

Doch die Einwohner von Alka begannen wieder Mut zu fassen. Die Ackerer aus den Domben und die Ochsenhirten von Belmont schwuren, sie taugten gegen ein wildes Tier mehr als ein Mädchen, und klopften sich auf die Armmuskeln und schrien: »Komm her, Drache!« Viele Männer und Frauen hatten ihn gesehen. Über seine Gestalt und sein Gesicht waren sie nicht eins, doch alle sagten sie jetzt aus, daß er nicht so groß wäre, als man gemeint hatte, und sein Wuchs nicht viel höher als der eines Menschen. Man veranstaltete eine überlegte Abwehr. In der Dämmerung standen Wächter am Eingang zu den Dörfern, bereit, den Waffenruf auszustoßen. Mit Heugabeln und Sicheln gerüstete Rotten schützten nachts die Hürden, in die das Vieh gesperrt war. Einmal sogar überraschten mutige Ackersleute im Dorfe Anis das Ungetüm, wie er über Morios Mauer sprang. Mit Flegeln, Sicheln und Heugabeln liefen sie drauflos, und es kam sehr ins Gedränge. Einer, ein kräftiger, sehr geschickter Mann, dachte es schon mit seiner Gabel gestochen zu haben. Doch er glitt in einer Lache aus und ließ es entschlüpfen. Die anderen hätten es sicher eingeholt, hätten sie sich nicht damit aufgehalten, daß sie die Kaninchen und Hühner fingen, die er auf seiner Flucht hinfallen ließ.

Die Ackerer erklärten dem Dorfältesten, das Scheusal dünke sie von etwas menschlichem Wuchs und Umfang, bis auf Kopf und Schwanz, die fürwahr ganz schrecklich anzuschauen seien.


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