Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Achtes Kapitel

Neue Folgen

In Ruhe ging die Tagung zu Ende, und auf den Mehrheitsbänken entdeckte das Ministerium kein Symptom des Unheils. Doch sah man aus gewissen Artikeln der großen gemäßigten Blätter, daß die Forderungen der jüdischen und christlichen Kapitalisten täglich anwuchsen, daß der Bank-Patriotismus im Namen der Zivilisation einen Feldzug gegen Nigritien heischte, daß der Stahltrust unsre Küsten zu schützen, unsre Kolonien zu verteidigen drängte und hitzig Panzerschiffe und immer mehr Panzerschiffe verlangte. Kriegsgerüchte liefen um. Solche Gerüchte schwirrten alljährlich auf, so regelmäßig wie die Passatwinde. Ernste Leute beachteten sie nicht, und die Regierung konnte sie sich von selbst zerstreuen lassen, falls sie sich nicht verdichteten und ausdehnten; denn dann hätten sie das Land alarmiert. Die Kapitalisten wollten nur Kolonialkriege; das Volk wollte überhaupt keine Kriege. Es sah es gern, wenn die Regierung Stolz und sogar Anmaßung zeigte. Doch beim geringsten Verdacht, daß ein europäischer Konflikt heranziehe, hätte seine starke Erregung sich schnell der Kammer mitgeteilt. Paul Visire war außer Sorge, nach seiner Ansicht bot die europäische Lage nichts Beunruhigendes dar. Nur das maniakalische Schweigen seines Ministers der auswärtigen Angelegenheiten ärgerte ihn. Dieser Zwerg kam in den Ministerrat mit einer Mappe, die größer war als er und mit Akten vollgepfropft. Er sprach nichts, verweigerte auf alle Fragen die Antwort, sogar auf die, die ihm der hochgeschätzte Präsident der Republik stellte, und schlummerte, von hartnäckiger Arbeit ermüdet, ein paar Augenblicke später in seinem Sessel. Dann sah man über dem grünen Tisch nur seinen kleinen, schwarzen Haarschopf.

Indessen wurde Hippolyt Ceres wieder zum starken Mann. Mit seinem Kollegen Lapersonne ging er häufig zu den Theatermädchen und praßte mit ihnen. Man sah beide nachts inmitten vermummter Weiber, über die sie mit ihrem hohen Wuchs und ihren neuen Zylindern hinwegragten, in die Moderestaurants eintreten, und bald zählten sie zu den sympathischen Gestalten der Boulevards. Sie amüsierten sich; doch sie litten. Auch Fortuné Lapersonne trug seine Wunde unter dem Panzer. Seine Frau, eine junge Modistin, die er einem Marquis entführt hatte, lebte jetzt mit einem Chauffeur. Er konnte sich über ihren Verlust nicht trösten. Oft tauschten die beiden Minister in einem Cabinet particulier unter seilen Dämchen, die lachend Krebse aussogen, einen schmerzlichen Blick und wischten sich eine Träne ab. Hippolyt Ceres war ins Herz getroffen, aber er ließ sich nicht niederwerfen. Er schwur sich zu rächen.

Frau Paul Visire, die durch ihre beklagenswerte Gesundheit bei ihren Eltern zurückgehalten wurde, weit weg in dunkler Provinz, empfing einen anonymen Brief, der des näheren besagte, daß Herr Paul Visire, der ohne einen Heller geheiratet habe, mit einer verheirateten Frau, E.... C.... (bitte zu suchen!) ihre Mitgift, die von Frau Paul Visire nämlich, verzehre. Er schenke dieser Frau Autos zu dreißigtausend Franks, Perlhalsbänder zu achtzigtausend und eile dem Ruin, der Schande, dem Untergang entgegen. Frau Paul Visire las das, bekam einen Nervenanfall und reichte den Brief ihrem Vater.

»Dem werde ich die Ohren waschen, deinem Mann,« sagte Herr Blampignon. »Er ist ein Taugenichts, und. wenn wir ihm das Handwerk nicht legen, bringt er dich noch an den Bettelstab. Das ist mir eins, ob er Ministerpräsident ist. Ich habe keine Angst vor ihm.«

Gleich als er aus dem Zuge gestiegen war, meldete sich Herr Blampignon im Ministerium des Innern und wurde sofort vorgelassen. Wütend kam er ins Arbeitszimmer des Chefs.

»Ich habe mit Ihnen zu reden, Herr!«

Und er schwang den anonymen Brief.

Paul Visire nahm ihn lächelnd auf.

»Willkommen, lieber Papa. Ich wollte Ihnen gerade schreiben .... Ja, um Ihnen Ihre Ernennung zum Rang eines Offiziers der Ehrenlegion zu verkünden. Heute morgen habe ich das Diplom unterzeichnen lassen.«

Herr Blampignon sprach seinem Schwiegersohn seinen tiefen Dank aus und warf den anonymen Brief ins Feuer.

Als er in sein Provinzhaus zurückkehrte, fand er seine Tochter verstimmt und matt.

»Na! ich habe ihn gesehn, deinen Gatten. Er ist ein famoser Mensch. Du verstehst ihn eben nicht zu fesseln.«

Um diese Zeit erfuhr Hippolyt Ceres aus einem kleinen Skandalblatt (die Minister erfahren Staatsangelegenheiten stets aus der Presse), daß der Ministerpräsident jeden Abend bei Fräulein Lysiane von den Folies Dramatiques speise, für deren Reize er sehr entbrannt scheine. Von nun ab spähte Ceres mit düsterer Freude nach seiner Gattin aus. Sie kam jeden Abend zu spät heim, zum Diner oder zum Umzug, mit der Miene glückumfangener Erschlaffung und der Heiterkeit genossener Luft.

Er dachte, sie wisse nichts, und schickte ihr anonyme Warnungen. Sie las sie bei Tisch, vor ihm und blieb müde, lächelnd.

Nun redete er sich ein, daß sie aus diesen zu Ungewissen Nachrichten sich nichts mache, und daß man, um sie zum Argwohn zu locken, ihr genaue Anhaltspunkte geben, sie instand setzen müsse, sich selbst von Pauls Untreue und Verrat zu überzeugen. Er hatte im Ministerium sehr zuverlässige Agenten, die mit geheimen Nachforschungen für die Zwecke der Landesverteidigung beauftragt waren und eben Spione überwachten, die eine feindliche Nachbarmacht sogar im Post- und Telegraphenwesen der Republik unterhielt. Herr Ceres befahl ihnen, ihre Nachforschungen einstweilen abzuschließen und sich zu erkundigen, wann und wie der Herr Minister des Innern Fräulein Lysiane besuche. Die Agenten vollführten ihren Auftrag getreu und eröffneten dem Minister, sie hätten den Herrn Ministerpräsidenten mehrmals mit einer Frau zusammen überrascht, doch das sei nicht Fräulein Lysiane gewesen. Hippolyt Ceres fragte nicht weiter. Er hatte recht. Die Liebschaft von Paul Visire und Lysiane war nur ein durch Paul Visire selbst ersonnenes Alibi, das Eveline befriedigte: denn ihr Ruhm war ihr lästig, und sie seufzte nur nach dem Mysterium der Dunkelheit.

Nicht bloß die Agenten des Postministeriums waren hinter ihnen her. Auch die des Polizeipräfekten und sogar die des Ministeriums des Innern, die sich um ihre Bewachung stritten. Ferner die Agenten mehrerer royalistischer, imperialistischer und klerikaler Detektivbureaus, die von acht bis zehn erpresserischen Druckereien, einige Amateurpolizisten, ein Rudel von Reportern und eine Menge von Photographen. Überall, wo sie ihre irrende Liebe verbargen, in großen und kleinen Hotels, in Stadthäusern und Landhäusern, in Privatwohnungen, Schlössern, Museen, Palästen, Spelunken, tauchte der Schwarm auf, wenn sie kamen. Man bespähte sie auf der Straße, von den umliegenden Häusern, von Bäumen, Mauern, Treppen, Fluren, Dächern, von Nebenstuben und Kaminen. Entsetzt sahen der Minister und seine Freundin rings um ihre Schlafzimmer Schrauben durch Türen und Fensterläden dringen, Bohrer die Wände durchlöchern. Wenigstens hatte man ein Bild von Frau Ceres im Hemd, wie sie sich die Schuhe zuknöpfte, erhalten.

Ungeduldig, gereizt verlor Paul Visire manchmal seine gute Laune, seine zarten Sitten. Wütend kam er in den Ministerrat. Nun übergoß auch er den General Débonnaire mit Schmähungen, ihn, der im Feuer so tapfer war, doch die Zuchtlosigkeit ins Heer einziehen ließ. Auch er hieb mit Sarkasmen auf den hochehrenwerten Admiral Vivier des Murènes ein, dessen Schiffe ohne ersichtlichen Grund aufliefen.

Fortuné Lapersonne hörte ihm spöttisch, mit großen runden Augen zu und brummte in seinen Bart:

»Er hat nicht genug damit, daß er Hippolyt Ceres seine Frau genommen hat. Nun hat er denselben Stich wie er.«

Dieses Gehechel wurde durch die Indiskretion der Minister und durch die Klagen der beiden alten Parteiführer bekannt, die anzeigten, sie würden dem Hanswurst ihre Portefeuilles an den Schädel pfeffern, jedoch nichts dergleichen taten. Auf das Parlament und die Öffentlichkeit brachte es den besten Eindruck hervor. Man sah darin die Zeichen lebhafter Besorgnis um das nationale Heer und die nationale Marine. Überall pflichtete man dem Minister-Präsidenten bei.

Auf die Glückwünsche der Parteigruppen und der hervorragenden Persönlichkeiten antwortete er fest und schlicht:

»Prinzipiensache!«

Und er ließ sieben bis acht Sozialisten einkerkern. Nach Schluß der Tagung reiste Paul Visire, der sehr herunter war, ins Bad. Hippolyt Ceres wollte sein Ministerium nicht verlassen, in dem das Syndikat der Telephonfräuleins lärmend agitierte. Er bestrafte sie mit unerhörter Wucht, denn er war ein Weiberhasser geworden. Sonntags ging er vor die Stadt und angelte, gemeinsam mit seinem Kollegen Lapersonne, auf dem Kopf seinen Zylinder, der, seit er Minister war, nicht mehr von ihm wich. Und beide vergaßen die Fische, klagten über den Wankelmut der Frauen und vermischten ihre Schmerzen.

Noch immer liebte Hippolyt Eveline, noch immer litt er. Doch hatte sich Hoffnung in sein Herz gestohlen. Er hielt sie von ihrem Liebhaber getrennt, dachte, sie wiedergewinnen zu können, bemühte sich nach Vermögen darum, entfaltete sein ganzes Geschick, zeigte sich aufrichtig, höflich, gefühlvoll, ergeben, sogar verschwiegen. Sein Herz lehrte ihn den Zartsinn. Er sagte der Treulosen reizende und rührende Sachen, und um sie zu ergreifen, gestand er ihr alles, was er erlitten habe.

Er preßte sich den Hosengurt um den Bauch zu und sprach zu ihr:

»Sieh mal, ich bin mager geworden.« Und er verhieß ihr alles, was, wie ihm schien, einer Frau schmeicheln konnte, Landpartien, Hüte, Pretiosen.

Zuweilen glaubte er, sie erbarme sich seiner. Sie zeigte ihm kein frech-glückliches Antlitz mehr. Da Paul ihr entrückt war, trug sie sanfte Traurigkeit zur Schau. Doch sobald er eine Bewegung machte, sie wiederzuerobern, entzog sie sich ihm, wild und finster, von ihrer Sünde wie von goldenem Gürtel umgeben.

Er wurde nicht müde, erniedrigte sich, flehte, daß es sie hätte jammern müssen.

Eines Tags ging er zu Lapersonne und sagte, Tränen in den Augen:

»Sprich du mit ihr!«

Lapersonne winkte ab, da er seine Vermittlung für nutzlos hielt, doch erteilte er seinem Freunde Ratschläge.

»Laß sie glauben, du verschmähtest sie, du liebtest eine andere. Dann ist sie dir wieder gehorsam.«

Hippolyt versuchte es damit und ließ die Blätter melden, er sei in einemfort bei Fräulein Guinaud von der Oper. Er kam spät oder gar nicht heim. Vor Eveline gab er sich den Anschein unhemmbarer Freude. Beim Diner nahm er einen parfümierten Brief aus seiner Tasche und stellte sich, als lese er ihn mit Wonne, als küsse er traumhaft unsichtbare Buchstaben. Nichts geschah. Eveline merkte dieses Gebaren überhaupt nicht. Sie war für ihre Umgebung unempfindlich. Ihre Lethargie fiel nur von ihr ab, wenn sie von ihrem Gatten ein paar Goldstücke verlangte. Und wenn er sie nicht gab, schleuderte sie ihm einen Blick voll Ekels zu, bereit, ihm die Schmach vorzuwerfen, die sie angesichts der ganzen Welt auf ihn häufte. Seit sie liebte, verschwendete sie Summen für ihre Toilette. Sie brauchte Geld, und nur ihr Mann war dazu da, es ihr zu verschaffen; sie war treu. Er verlor die Geduld, er brauste auf, er bedrohte sie mit seinem Revolver. Eines Tags sagte er vor ihr zu Frau Clarence:

»Mein Kompliment, gnädige Frau. Sie haben Ihre Tochter wie eine Dirne erzogen.«

»Nimm mich mit, Mama!« schrie Eveline. »Ich lasse mich scheiden.«

Er liebte sie heißer als je.

Da er in seiner eifersüchtigen Wut, nicht ohne Wahrscheinlichkeit, argwöhnte, daß sie Briefe abschicke und bekomme, schwur er sich, sie abzufangen, richtete er das schwarze Kabinett wieder ein, verwirrte er die Privatkorrespondenz, hielt er Börsenorders an, vereitelte er Liebesbegegnungen, ruinierte er Geldhäuser, durchschnitt er Leidenschaften, verursachte er Selbstmorde. Die unabhängige Presse sammelte die Klagen des Publikums und stützte sie voll Empörung. Zur Rechtfertigung dieser willkürlichen Maßregeln sprach die ministerielle Presse in halben Worten von Komplotten, von öffentlicher Gefahr und ließ an eine monarchische Verschwörung glauben. Weniger gut unterrichtete Blätter machten genauere Angaben, meldeten die Beschlagnahme von fünfzigtausend Gewehren und die Landung des Prinzen Crucho. Die Aufregung im Lande stieg; die republikanischen Organe forderten, unverzüglich müsse die Kammer berufen werden. Paul Visire reiste nach Paris zurück, entbot seine Kollegen, hielt einen bedeutsamen Ministerrat ab und gab auf Grund seines Nachrichtendienstes zu wissen, daß tatsächlich ein Komplott gegen die Volksvertretung angezettelt worden sei, daß der Ministerpräsident die Fäden in der Hand habe, und daß eine gerichtliche Untersuchung schwebe.

Unverzüglich befahl er die Verhaftung von dreißig Sozialisten. Und während das ganze Land ihm als seinem Retter zujubelte, führte er, indem er der Wachsamkeit seiner sechshundert Agenten ein Schnippchen schlug, Eveline heimlich in ein kleines Hotel beim Nordbahnhof, und dort blieben sie bis zur Nacht. Als sie weg waren, sah das Stubenmädchen, das die Wäsche wechselte, sieben kleine Kreuze, die mit einer Haarnadel über dem Kissen in die Wand des Alkovens gekratzt waren.

Das war alles, was Hippolyt Ceres als Preis seiner Mühen erfuhr.


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