Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Sechstes Kapitel

Der Sturz des Emirals

In dieser Nacht hatte die Bewegung der Drakophilen ihren Gipfel erreicht. Die Monarchisten zweifelten nicht mehr an ihrem Triumph. Ihre Führer sandten dem Prinzen Crucho auf dem Wege der drahtlosen Telegraphie ihre Glückwünsche. Die Damen stickten ihm Schärpen und Pantoffeln. Herr von Plume hatte das grüne Pferd gefunden.

Der fromme Agaric teilte die allgemeine Erwartung. Indes suchte er dem Prätendenten noch Parteigänger zu werben. »Wir müssen,« sagte er, »die Unterschicht gewinnen.«

Zu diesem Zwecke knüpfte er mit drei Arbeitersyndikaten an.

In jener Zeit lebten die Handarbeiter nicht mehr, wie zur Zeit der Drakoniden, unter dem Innungswesen. Sie waren frei, aber sie hatten keinen sicheren Verdienst. Nachdem sie lange voneinander gesondert gewesen waren, ohne Hilfe und Stütze, hatten sie Syndikate gebildet. Die Kassen dieser Syndikate waren leer, da die Syndikatsmitglieder ihre Beiträge nicht zu zahlen pflegten. Es gab Syndikate mit dreißigtausend Mitgliedern; es gab welche mit tausend, mit fünfhundert, mit zweihundert. Mehrere hatten nur zwei bis drei Mitglieder und sogar etwas weniger noch. Aber da die Listen nicht veröffentlicht wurden, war es schwer, die großen Syndikate von den kleinen zu unterscheiden.

Nachdem er sehr krumme und dunkle Wege beschritten hatte, kam der fromme Agaric in einem Saal der Mühle zum Zaster mit den Genossen Dagobert, Tronc und Ballafille zusammen, den Sekretären dreier Berufesyndikate, deren erstes vierzehn, deren zweites vierundzwanzig Mitglieder, deren drittes aber nur ein einziges zählte. Bei dieser Unterredung entfaltete Agaric das größte Geschick.

»Meine Herren,« sprach er, »Sie und ich haben in vieler Hinsicht nicht dieselben politischen und sozialen Ideen. Doch über gewisse Punkte können wir uns verständigen. Wir haben einen gemeinsamen Feind. Die Regierung beutet Sie aus und treibt mit Ihnen Schindluder. Helfen Sie uns, sie zu stürzen. Wir liefern Ihnen nach Möglichkeit die Mittel. Und obendrein können Sie auf unsere Dankbarkeit rechnen.«

»Jawoll,« sprach Dagobert. »Her mit dem Zaster!«

Der ehrwürdige Pater setzte einen Beutel, den ihm der Schnapsbrenner aus dem Kaninchenwald mit Tränen in den Augen eingehändigt hatte.

»Topp,« riefen die drei Genossen.

So wurde der feierliche Vertrag besiegelt.

Sobald der Mönch weg war, voller Freude, die Unterschicht für seine Sache gewonnen zu haben, pfiffen Dagobert, Tronc und Balafille ihren Frauen, Amalie, Regine und Mathilde, die auf der Straße lauerten, bis das Signal gegeben würde. Und alle sechs faßten sich bei den Händen, tanzten um den Beutel und sangen dabei:

»Nun hab' ich Geld im Sack!
Du, Chatillon kriegst einen Dreck.
Hu! hu! das Pfaffenpack!«

Und sie bestellten eine Bowle mit Glühwein.

Abends zogen sie alle sechs von Kaschemme zu Kaschemme und stimmten ihr neues Lied an. Es gefiel, denn die Kriminalpolizei berichtete, daß täglich mehr Arbeiter in den Vorstädten sangen:

»Nun hab' ich Geld im Sack!
Du, Chatillon, kriegst nichts davon.
Hu! hu! das Pfaffenpack!«

Die Agitation der Drakophilen hatte sich auf die Provinz nicht übertragen. Der fromme Agaric suchte die Ursache, ohne sie entdecken zu können. Da offenbarte der Greis Cornemuse sie ihm.

»Ich habe den Beweis,« seufzte der Mönch aus dem Kaninchenwald, »daß der Schatzmeister der Drakophilen, der Herzog von Ampoule, mit den Fonds, die er für die Propaganda bekommen hatte, sich in Marsuinien Grundstücke gekauft hat.«

Der Partei fehlt Geld. Der Prinz Boscénos hatte seine Brieftasche bei einer Prügelei verloren und mußte zu peinlichen Auskunftsmitteln greifen, die seinem stürmischen Charakter widerstrebten. Die Vikomtesse Olive war höchst kostspielig. Cornemuse riet, die Monatsrente der Dame herabzusetzen.

»Sie nutzt uns sehr,« wandte der fromme Agaric ein.

»Zweifellos,« entgegnete Cornemuse. »Doch indem sie uns ruiniert, schadet sie uns.«

Ein Schisma zersplitterte die Drakophilen. Uneinigkeit herrschte bei ihren Beratungen. Die einen wünschten, der Politik des Herrn Bigourd und des frommen Agaric getreu solle man bis zum Ende so tun, als wolle man die Republik erneuern. Die anderen waren der langen Zurückhaltung müde und entschlossen, dem Drachenkamm zuzujubeln. Sie schworen, unter diesem Zeichen würden sie siegen.

Diese zweite Gruppe wies auf den Nutzen der klaren Situationen und die Unmöglichkeit, sich noch weiter zu verstellen. In der Tat begann das Publikum zu sehen, worauf die Agitation zielte, und daß die Parteigänger des Emirals das Gemeinwesen bis zu den Fundamenten hinab zerstören wollten.

Das Gerücht ward laut, der Prinz solle im Schlupfhafen landen und auf grünem Pferd in Alka einreiten.

Dieses Raunen begeisterte die fanatischen Mönche, entzückte die armen Edelleute, befriedigte die reichen jüdischen Damen und weckte Hoffnung in den Herzen der Kleinkrämer. Doch wenige von ihnen hatten Lust, solche Wohltaten mit einer sozialen Katastrophe und einem Zusammenbruch des öffentlichen Kredits zu erkaufen. Und noch kleiner war die Zahl derer, die bei der Sache ihr Geld, ihre Ruhe, ihre Freiheit oder nur eine Stunde ihres Vergnügens aufs Spiel gesetzt hätten. Dagegen hielten die Arbeiter sich wie stets bereit, der Republik einen Arbeitstag zu opfern; ein dumpfer Widerstand ging durch die Vorstädte.

»Das Volk ist mit uns,« sagte der fromme Agaric.

An den Toren der Werkstätten indes heulten Männer, Frauen, Kinder einstimmig das Lied:

»Raus, raus, Chatillon!
Hu, hu! das Pfaffenpack!«

Die Regierung zeigte jene Schwäche, Unentschiedenheit, Weichlichkeit, Sorglosigkeit, die man bei allen Regierungen findet, und die sie stets nur aufgeben, um in Willkür und Gewalt zu verfallen. Kurz, sie wußte nichts, wollte nichts, konnte nichts. Der schöne Theodor blieb drinnen in seinem Präsidentenpalais, blind, stumm, trüb, enorm, unsichtbar, in seinen Stolz verpackt wie in ein Daunenkissen.

Der Graf Olive riet, einen letzten Appell zu Beisteuern zu erlassen und, indes Alka noch gärte, einen großen Anschlag zu versuchen.

Eine Exekutivabteilung, die sich selbst gewählt hatte, beschloß, die Deputiertenkammer aufzuheben, und sann der Verwirklichung dieses Gedankens nach. Die Sache wurde für den 28. Juli bestimmt. Strahlend ging an diesem Tage über der Stadt die Sonne auf. Vor dem Palais der gesetzgebenden Versammlung gingen die Hausfrauen mit ihren Körben vorbei, die Straßenhändler schrien Pfirsiche, Birnen und Trauben aus, die Droschkengäule hatten die Mäuler im Futtersack und kauten ihren Hafer. Niemandem schwante etwas; nicht als wäre das Geheimnis gewahrt worden, doch die Nachricht hatte nur Unglauben erweckt. Niemand glaubte an eine Revolution; dem konnte man entnehmen, daß niemand eine wünschte. Gegen zwei Uhr schritten Deputierte, sehr selten und unbemerkt, durch die kleine Tür des Palais. Um drei Uhr bildeten sich Gruppen schlechtgekleideter Menschen. Um dreieinhalb Uhr ergossen sich schwarze Massen, die aus den umliegenden Straßen kamen, über den Revolutionsplatz. Bald war der weite Raum durch einen Ozean von Filzhüten überschwemmt, und der Demonstrantenhaufe, den beständig Neugierige vermehrten, zog über die Brücke und prallte mit seiner dunklen Flut gegen die Mauern der Abgeordnetenburg. Geschrei, Murren, Gesang stieg zum heiteren Himmel. »Chatillon, den brauchen wir! Nieder mit den Deputierten! Nieder mit der Republik! Tod den Dingerichen!« Das heilige Bataillon der Drakophilen, das vom Prinzen Boscénos geführt wurde, stimmte das erhabene Preislied an:

»Heil dir im Thronesglanz,
Crucho, des Vaterlands
Hoffnung von Kindheit an,
Hoffnung und Zier.«

Nur Schweigen antwortete hinter den Mauern. Durch dieses Schweigen und den Umstand, daß keine Polizei da war, wurde die Menge zugleich ermutigt und erschreckt. Plötzlich schrie eine furchtbare Stimme:

»Sturm!«

Und man sah, wie die Riesengestalt des Prinzen Boscénos auf der mit Eisenspitzen und eisernen Artischocken bewaffneten Mauer ragte. Hinter ihm stürzten seine Gefährten vor, und der Haufe folgte. Die einen hieben gegen die Mauer, um sie zu durchlöchern, andere waren bestrebt, die Artischocken aus dem Mörtel loszumachen und die Spitzen wegzureißen. Hier und da hatte diese Schutzwehr nachgegeben. Schon saßen Eindringlinge auf dem abgedeckten Giebel. Der Prinz Boscénos schwang eine ungeheure grüne Fahne. Plötzlich wankte die Menge, und ein gedehnter Schreckensschrei entfuhr ihr. Die Polizeiwache und die republikanischen Karabiner drangen durch sämtliche Tore des Palais auf einmal hervor und traten unter der Mauer, die sofort von Belagerern frei wurde, in Kolonne an. Nach einer langen Minute der Spannung hörte man Waffengeklirr, die Polizeiwache zielte, das Bajonett an der Flinte, gegen den Haufen. Im nächsten Moment herrschte auf dem verödeten, mit Stöcken und Hüten besäten Platz unheilvolle Stille. Noch zweimal versuchten die Drakophilen, sich wieder zusammenzurotten, zweimal stieß man sie zurück. Die Meuterer waren besiegt. Aber der Prinz Boscénos stand hoch auf der Mauer des Feindesschlosses und stemmte, die Fahne in der Hand, sich gegen den Ansturm einer ganzen Brigade. Er rannte alle, die sich ihm näherten, um. Endlich fiel er, geschüttelt, entwurzelt, auf eine der eisernen Artischocken und blieb dort aufgespießt. Und immer noch umklammerte er die Standarte der Drakoniden.

Am folgenden Tag beschlossen die Minister der Republik und die Parlamentsmitglieder energische Maßnahmen. Diesmal bemühte sich der schöne Präsident umsonst, der Frage nach der Verantwortlichkeit auszuweichen. Die Regierung erwog die Absetzung Chatillons von Rang und Würden und seine Stellung vor den Staatsgerichtshof als Aufwiegler, Feind des öffentlichen Wohls, Verräter usw.

Bei dieser Nachricht verhehlten die alten Waffenkameraden des Emirals, die ihn noch am Abend zuvor mit ihren Schmeicheleien belästigt hatten, ihre Freude nicht. Chatillon jedoch blieb im Bürgertum von Alka volkstümlich, und noch hörte man auf den Boulevards den befreienden Gesang ertönen: »Chatillon, den brauchen wir!«

Die Minister waren in Verlegenheit. Sie wollten Chatillon vor den Staatsgerichtshof stellen. Doch sie wußten nichts; sie waren in jene gänzliche Unwissenheit versenkt, die denen vorbehalten ist, die Menschen regieren. Sie fanden, daß sie außerstande waren, Beschuldigungen von irgendwelchem Gewicht gegen Chatillon zu erheben. Sie lieferten der Anklage nur die lächerlichen Lügen ihrer Spione. Chatillons Teilnahme am Komplott, seine Beziehungen zum Prinzen Crucho blieben das Geheimnis der dreißigtausend Drakophilen. Minister und Deputierte hegten Argwohn und sogar Gewißheit; aber sie hatten keine Beweise. Der Anwalt der Republik sagte zum Justizminister: »Ich brauche sehr wenig, um politische Strafprozesse einzuleiten, aber hier habe ich gar nichts; und das ist nicht genug.« Die Sache rückte nicht voran. Die Feinde des Dings triumphierten.

Am 18. September morgens lief durch die Stadt Alka die Nachricht, Chatillon sei entflohen. Überall war man erregt und verblüfft. Man zweifelte, man konnte nicht verstehen.

Folgendes hatte sich zugetragen:

Eines Tags war der brave Unter-Emiral Volcanmoule zufällig im Kabinett des Herrn Barbotan, des Ministers des Innern, und sagte mit gewohntem Freimut:

»Herr Barbotan, mir scheint, Ihre Kollegen haben ein Brett vor der Stirn. Man sieht, sie haben nicht zur See kommandiert. Dieser Esel, der Chatillon, jagt ihnen verteufelte Angst ein.«

Zum Zeichen, daß er dies bestreite, durchschnitt der Minister mit seinem Papiermesser die Luft, der Länge des Zimmers nach.

»Na, leugnen Sie das doch nicht,« erwiderte Volcanmoule. »Sie wissen nicht, wie Sie sich den Chatillon vom Halse schaffen sollen. Sie wagen nicht, ihn vor den Staatsgerichtshof zu stellen, weil Sie nicht gewiß sind, daß Sie ihn hinreichend verdächtig machen. Bigourd wird ihn verteidigen, und Bigourd ist ein gerissener Advokat ... Sie haben recht, Herr Barbotan, Sie haben recht. Der Prozeß wäre gefährlich ...«

»Ach, lieber Freund,« sprach der Minister leichten Tons, »wenn Sie wüßten, wie ruhig wir sind ... Ich bekomme von meinen Präfekten die erfreulichsten Meldungen. Der gesunde Menschenverstand der Pinguine wird über die Intrigen eines aufrührerischen Soldaten richten. Können Sie überhaupt annehmen, ein großes Volk, ein kluges, arbeitsames Volk, das den freien Einrichtungen zugetan ist ...«

Volcanmoule unterbrach ihn durch einen tiefen Seufzer:

»Ach, hätte ich Zeit, ich würde Sie schon aus der Patsche ziehen. Ich würde meinen Chatillon knacken wie eine Nuß. Im Nu würde ich Ihnen den nach Marsuinien schicken!«

Der Minister spitzte das Ohr.

»Das würde nicht lange dauern,« fuhr der Seemann fort. »Ich brauche nur den Finger zu rühren, und der Kerl ist weg ... Jetzt habe ich andere Sorgen ... Im Bakkarat habe ich scheußliches Pech gehabt. Ich brauche eine Stange Gold. Die Ehre über alles, zum Teufel!«

Einen Moment betrachteten der Minister und der Unter-Emiral sich schweigend. Dann sagte Barbotan mit seines Amtes Hoheit:

»Unter-Emiral Volcanmoule, befreien Sie uns von einem rebellischen Soldaten. Sie werden Pinguinien einen großen Dienst erweisen, und der Minister des Innern wird Ihnen die Mittel verbürgen, Ihre Spielschulden zu bezahlen.«

Noch am selben Abend ging Volcanmoule zu Chatillon und schaute ihn mit schmerzlichem und geheimnisreichem Ausdruck lange an.

»Warum machst du denn so ein Gesicht?« fragte der Emiral unruhig.

Da sagte Volcanmoule in männlicher Betrübnis zu ihm:

»Mein alter Kriegskamerad, alles ist entdeckt. Seit einer halben Stunde weiß die Regierung alles.«

Bei diesen Worten brach Chatillon vernichtet zusammen.

Volcanmoule fuhr fort:

»Jeden Augenblick kannst du verhaftet werden. Ich rate dir, pack' dich.«

Er zog seine Uhr:

»Du hast keine Minute zu verlieren.«

»Ich kann doch noch mal zur Vikomtesse Olive?«

»Das wäre Wahnsinn,« sagte Volcanmoule, reichte ihm einen Paß und eine blaue Brille und wünschte ihm Mut.

»Ich werde schon Mut haben,« sprach Chatillon.

»Adieu! Bruderherz!«

»Adieu! Hab Dank! Du hast mir das Leben gerettet.«

»Verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«

Eine Viertelstunde drauf hatte der tapfre Emiral die Stadt Alka verlassen.

Nachts schiffte er sich im Schlupfhafen auf einem alten Kutter ein und segelte nach Marsuinien. Doch acht Seemeilen von der Küste wurde er von einem Aviso aufgegriffen, der ohne Signallaternen fuhr, unter der Flagge der Königin der Schwarzen Inseln. Seit langem war diese Königin in schicksalsvoller Liebe zu Chatillon entbrannt.


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