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In der Ferienzeit lud der Ministerpräsident Herrn und Frau Ceres ein, zwei Wochen im Gebirge zu verleben, in einem Schlößchen, das er für den Sommer gemietet hatte, und das er allein bewohnte. Die wahrhaft beklagenswerte Gesundheit der Frau Paul Visire erlaubte ihr nicht, ihren Gatten zu begleiten; sie blieb mit ihren Eltern weit weg in der Nordprovinz.
Das Schloß hatte der Geliebten eines der letzten Könige von Alka gehört. Im Salon standen noch die alten Möbel, und auch das Sofa der Favoritin nahm seinen Platz noch ein. Die Gegend war reizend; ein hübsches blaues Flüßchen, die Aiselle, floß unter dem Hügel dahin, auf dem das Schlößchen ragte. Hippolyt Ceres war ein Freund des Angelsports. Wenn er sich dieser eintönigen Beschäftigung widmete, fand er seine besten parlamentarischen Kombinationen und seine glücklichsten rednerischen Einfälle. In der Aiselle wimmelte es von Forellen. Er angelte von morgens bis abends, in einem Boot, das der Ministerpräsident ihm willfährig zur Verfügung gestellt hatte. Indes schlenderten Eveline und Paul Visire manchmal zusammen durch den Garten, manchmal plauderten sie ein wenig im Salon. Eveline kannte zwar seine verführerische Gewalt über die Frauen, aber sie hatte ihm zu Gefallen bisher nur hin und wieder eine oberflächliche Koketterie ohne tiefe Absicht und festen Plan aufgewandt. Er war Fachmann und wußte, daß sie hübsch war. Kammer und Oper vergönnten ihm keine Muße; doch im Schlößchen bekamen Evelinens flachsgraue Augen und ihre runde Taille für ihn höheren Wert. Eines Tags, als Hippolyt Ceres im Flusse angelte, ließ er sie neben sich aufs Sofa der Favoritin sich setzen. Durch die Spalten der Vorhänge, die eines glühenden Tages Hitze und Helligkeit von Eveline abwehrten, zückte die Sonne lange, goldene Strahlen wie Pfeile eines verborgenen Liebesgottes auf sie. Unter dem weißen Musselin waren ihre ganzen Formen zu erraten, üppig zugleich und schlank, anmutig und jung. Sie hatte eine feuchte, kühle Haut und duftete nach Heu. Paul Visire tat, wie die Gelegenheit es wollte. Sie ergab sich dem Spiel des Zufalls und der Gesellschaft. Sie hatte geglaubt, es sei nichts oder nicht der Rede wert; sie hatte sich geirrt.
»Es war einmal,« sagt die berühmte deutsche Ballade, »auf dem Markt des Städtchens, der Sonne zu, an der Mauer mit den Glyzinenranken ein niedlicher, kornblumenblauer, lächelnder, ruhiger Briefkasten.
Tag für Tag kamen zu ihm in ihren groben Schuhen kleine Krämer, reiche Gutspächter, Bürger, der Steuereinnehmer, die Gendarmen. Und sie steckten Geschäftsbriefe hinein, Rechnungen, Zahlungsbefehle, Steuermahnungen, Gerichtsprotokolle, Stellungsbefehle; das Kästchen blieb lächelnd und ruhig.
Vergnügt oder sorgenvoll kamen Taglöhner und Bauernknechte, Mägde und Ammen, Schreiber, Hausfrauen mit ihren Kindlein auf dem Arm. Und sie steckten Geburtsanzeigen hinein, Vermählungsanzeigen, Todesanzeigen, Brautschaftsbriefe, Ehestandsbriefe, Briefe von Müttern an ihre Söhne, von Söhnen an ihre Mütter; das Kästchen blieb lächelnd und ruhig.
Im Dämmerschein schlichen junge Burschen und junge Mädchen verstohlen herzu und steckten Liebesbriefe hinein, bald naß von Tränen, daß die Tinte zerrann, bald mit einem runden Kreischen, das die Stelle des Kusses anzeigen sollte, und alle sehr lang; das Kästchen blieb lächelnd und ruhig.
Die reichen Kaufleute kamen selbst, aus Vorsicht, zur Stunde der Abholung. Und sie steckten Wertbriefe hinein, Briefe mit fünf roten Siegeln, voll von Banknoten oder Schecks auf die großen Geldhäuser des Reiches; das Kästchen blieb lächelnd und ruhig.
Doch eines Tags nahte Kaspar, den es nie gesehen, mit dem es nichts zu schaffen hatte, und steckte ein Briefchen hinein, von dem man nur weiß, daß es gefaltet war wie ein Hütchen. Und sofort fiel das niedliche Briefkästchen in Ohnmacht. Seitdem ist es nicht mehr zu halten. Es rennt über Straßen, Felder, durch die Wälder, mit Efeu umwunden, mit Rosen umkränzt. Immerzu läuft es über Berg und Tal. Der Flurschütz hat es im Korn ertappt, in Kaspars Armen, wie es ihn gerade auf den Mund küßte.«
Paul Visire war nun wieder völlig Herr seines Geistes. Eveline blieb in süßlichem Erstaunen auf dem Sofa der Favoritin hingestreckt.
Der ehrwürdige Pater Douillard, der hervorragende Kenner der Moraltheologie, der im Verfall der Kirche ihre Grundsätze wahrte, hat mit Fug der Doktrin der Kirchenväter gemäß gelehrt, daß, wenn eine Frau eine große Sünde begeht, indem sie sich für Geld hingibt, sie noch schwerer sündigt, indem sie es umsonst tut. Denn im ersten Fall handelt sie, um ihr Leben zu fristen, und ist zuweilen, zwar nicht entschuldbar, doch noch der göttlichen Verzeihung und Gnade wert, da Gott ja den Selbstmord verbietet und nicht will, daß seine Geschöpfe, seine Tempel, sich selbst zerstören. Übrigens bleibt sie, wenn sie sich hingibt um zu leben, demütig und hat kein Vergnügen daran, was die Sünde verringert. Eine Frau aber, die sich mit Wollust umsonst hingibt, frohlockt in ihrem Fall. Der Hochmut und die Wonne, mit denen sie ihr Verbrechen belädt, mehren dessen tödliches Gewicht.
Das Beispiel der Frau Hippolyt Ceres sollte die Tiefe dieser moralischen Wahrheiten an den Tag legen. Sie spürte, daß sie Sinne hatte; bis dahin hatte sie es nicht geahnt. Es bedurfte nur einer Sekunde, um ihr zu dieser Entdeckung zu helfen, ihre Seele zu wandeln, ihr Leben umzustürzen. Zuerst schuf es ihr einen Rausch, daß sie sich nun kennengelernt hatte. Das γνω̃θι σεαυτὸν der antiken Philosophie ist eine Vorschrift, deren Ausführung im Sittlichen kein Vergnügen bereitet, denn von der Erkenntnis seiner Seele hat man nichts. Anders steht es um das Fleisch, wo uns Quellen der Wollust geoffenbart werden können. Sofort widmete sie ihrem Offenbarer eine Dankbarkeit, die der Wohltat entsprach, und sie wähnte, der allein, der die himmlischen Abgründe aufgedeckt habe, besitze den Schlüssel dazu. War es kein Irrtum, und konnte sie nicht andere finden, die auch den goldenen Schlüssel hatten? Das zu entscheiden ist schwer. Professor Haddock behandelte, als die Beziehung ruchbar wurde (was, wie wir sehen werden, bald geschah) die Frage in einer wissenschaftlichen Spezialrevue nach der experimentellen Methode und zog den Schluß, daß die Aussicht für Frau E...., einen Herrn V.... genau gleichen Wert wiederzufinden, der Proportion 3,05 zu 975,008 gemäß sei. Das besagte natürlich eine Unmöglichkeit. Sicherlich war sie sich dessen instinktiv bewußt, denn sie klammerte sich rückhaltlos an ihn.
Ich habe diese Ereignisse samt allen Nebenumständen berichtet, die, wie mir scheint, sich der Aufmerksamkeit nachdenklicher, philosophischer Geister verlohnen. Das Sofa der Favoritin ist der erhabenen Geschichte würdig. Dort wurden die Geschicke eines großen Volkes bestimmt. Mehr noch, es vollzog sich dort ein Akt, dessen weitere Wirkung die freundlichen wie die feindlichen Nationen und die ganze Menschheit treffen sollte. Zu oft entgehen derartige Ereignisse, obwohl sie unendlich folgenreich sind, den oberflächlichen Geistern, den leichten Seelen, die gedankenlos sich der Geschichtsschreibung unterfangen. Daher bleiben die geheimen Triebfedern der Begebnisse uns verborgen, der Fall der Reiche, der Übergang der Herrschaften setzen uns in Staunen und sind uns unfaßlich, weil wir den kaum sichtbaren Punkt nicht entdeckt, die heimliche Stelle nicht entblößt haben, die, wenn sie in Bewegung kam, alles erschüttert, alles gestürzt hat.
Der Verfasser dieser großen Geschichte kennt besser als sonst jemand seine Fehler, seine Unzulänglichkeit. Doch er darf von sich zeugen, daß er stets das Maß, den Ernst, die Strenge beobachtet hat, die in der Erzählung von Staatsaffären schicklich sind, und daß er nie des gewichtigen Anstands vergaß, der sich ziemt, wenn man menschliche Handlungen darlegt.