Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Fünftes Kapitel

Der Prinz Boscénos

Morgens und abends veröffentlichten die Zeitungen, die im Solde der Drakophilen standen, Lobartikel auf Chatillon und überschütteten die Minister der Republik mit Schmach und Schimpf.

Auf den Boulevards von Alka schrie man Chatillons Bild aus. Vorn an den Brücken verkauften die jungen Remusneffen, die Gipsfiguren trugen, Chatillons Büsten.

Allabendlich ritt Chatillon auf seinem weißen Pferd um die Königinnenwiese, den Tummelplatz der Modeherren und Modedamen. Die Drakophilen stellten, wo der Emiral vorbeikam, eine Menge armer Pinguine auf, die zu singen hatten: »Chatillon, den brauchen wir!« Im Bürgertum von Alka entstand darob eine tiefe Bewunderung für den Emiral. Die Handelsfrauen flüsterten: »Er ist schön.« Die Eleganten ließen, wenn er nahte, ihre Autos langsam fahren und warfen ihm Küsse zu, inmitten der Hurras eines verzückten Volkes.

Eines Tags trat er in eine Tabaktrafik. Zwei Pinguine, die Briefe in den Kasten steckten, erkannten Chatillon und schrien aus vollem Halse: »Hoch der Emiral! Nieder mit den Dingerichen!« Alle Passanten blieben vor dem Laden stehen. Chatillon setzte seine Zigarre angesichts einer dichten Menge von Bürgern in Brand, die sinnlos ihre Hüte schwangen und Beifallsrufe ausstießen. Diese Menge wuchs unablässig. Die ganze Stadt geleitete ihren Helden und führte ihn, Hymnen singend, bis zum Pavillon der Admiralität.

Der Emiral hatte einen alten Waffengefährten mit wunderbaren Dienstleistungen, den Unter-Emiral Volcanmoule. Lauter wie Gold und offen wie sein Degen hielt Volcanmoule sich auf seine unbotmäßige Selbständigkeit etwas zugute. Er verkehrte mit den Parteigängern Cruchos und mit den Ministern der Republik und sagte beiden Gruppen die Wahrheit. Herr Bigourd pflegte boshaft zu äußern, er sage einem Teil die Wahrheit, die für den andern bestimmt sei. In der Tat hatte er mehrmals in fataler Weise Geheimnisse ausgeplaudert, und mit Vergnügen sah man an ihm den Freimut eines Soldaten, der von Intrigen nichts verstand. Jeden Morgen begab er sich zu Chatillon, den er mit der herzlichen Rauheit eines Waffenbruders behandelte.

»Nun, alter Vogel, du bist ja populär geworden!« sprach er zu ihm. »Man verkauft deine Visage auf Pfeifenköpfen und Likörflaschen, und jeder Säufer von Alka rülpst in der Gosse deinen Namen ... Chatillon als Pinguinenheld! Chatillon als Verteidiger des Ruhms und der Macht von Pinguinien! ... Wer hätte das für möglich gehalten.«

Und zischend lachte er auf. Dann wechselte er den Ton:

»Scherz beiseite, bist du nicht etwas überrascht, was sie dir andrehn?«

»Nein, gar nicht,« antwortete Chatillon.

Und der ehrliche Volcanmoule ging hinaus und schmetterte die Tür hinter sich zu.

Inzwischen hatte Chatillon, um Vikomtesse Olive zu empfangen, eine kleine Erdgeschoßwohnung im Hofe des Hauses Johannes Talpa-Straße 18 gemietet. Täglich sahen sie sich. Er liebte sie leidenschaftlich. In seinem martialischen und neptunischen Leben hatte er eine Unzahl von Frauen besessen, rote, schwarze, gelbe und weiße, und manche waren sehr schön gewesen. Doch ehe er diese hier kannte, wußte er nicht, was eine Frau ist. Wenn die Vikomtesse Olive ihn ihren Freund, ihren süßen Freund nannte, glaubte er im Himmel zu sein, und ihm schien, als ob Sterne in ihrem Haar sich verfingen.

Mit einiger Verspätung kam sie, legte ihre kleine Tasche auf den Leuchtertisch und sagte andachtsvoll:

»Laß mich bei dir knien.«

Und sie hielt ihm die vom frommen Pater Agaric ihr eingeflößten Reden und unterbrach sie durch Küsse und Seufzer. Sie bat ihn, den einen Offizier zu entfernen, einem anderen ein Kommando zu geben und das Geschwader hierhin oder dorthin zu schicken.

Und zur rechten Zeit rief sie:

»Wie jung du bist, Freund!«

Er machte alles, was sie wollte, denn er war einfältig im Geist, denn er hatte Lust, den Degen des Konnetabel zu tragen und eine reiche Dotation zu gewinnen, denn es mißfiel ihm nicht, ein doppeltes Spiel zu spielen, denn er hatte die unklare Idee, Pinguinien zu retten, denn er war verliebt.

Dieses holde Weib lockte ihn, daß er den Schlupfhafen, in dem Crucho landen sollte, von Truppen entblößte. So war man sicher, daß der Prinz ungehindert in Pinguinien einziehen werde.

Der fromme Agaric brachte Volksversammlungen zustande, um die Erregung zu nähren. Täglich veranstalteten die Drakoniden zwei oder drei in einem der sechsunddreißig Bezirke von Alka und mit Vorliebe im Wohnrevier des niederen Volkes. Man wollte die Gunst der kleinen Leute erobern, die die größte Zahl ausmachen. Zumal am vierten Mai gab man eine sehr schöne Versammlung in der alten Kornhalle, im Herzen einer volksreichen Vorstadt, wo es von Hausfrauen wimmelte, die unten an der Tür saßen, und von Kindern, die im Rinnstein spielten. Es waren zweitausend Personen dort nach der Schätzung der Republikaner, sechstausend nach der Berechnung der Drakophilen. Unter den Anwesenden gewahrte man die Blüte der pinguinischen Gesellschaft, den Prinzen und die Prinzessin Boscénos, den Grafen Cléna, Herrn von La Trumelle, Herrn Bigourd und einige reiche Israelitinnen.

Der Generalissimus des nationalen Heeres war in Uniform gekommen. Man jubelte ihm zu.

Unter Schwierigkeiten wurde das Bureau errichtet. Ein Mann aus dem Volk, ein Arbeiter, jedoch ein gutgesinnter, Herr Rauchin, Sekretär der gelben Syndikate, wurde zum Vorsitz berufen, zwischen den Grafen Cléna und Herrn Michaud, einen Fleischergehilfen.

In mehreren großen Reden wurden der Regierungsform, die Pinguinien sich aus freiem Willen gegeben hatte, die Namen »Kloake« und »Mistgrube« verliehen. Der schöne Theodor, der Präsident, wurde geschont. Weder von Crucho, noch von den Priestern ward gesprochen.

In der Versammlung sollte Diskussion stattfinden. Ein Verteidiger des modernen Staats und der Republik, ein Handarbeiter, meldete sich.

»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende Rauchin, »wir haben freie Diskussion angekündigt. Wir sind unserem Wort getreu; wir sind nicht wie unsere Feinde, wir sind Ehrenmänner. Ich erteile dem Gegenredner das Wort. Gott weiß, was Sie hören werden! Meine Herren, ich bitte Sie, möglichst lange mit dem Ausdruck Ihrer Verachtung, Ihres Ekels und Ihrer Entrüstung zurückzuhalten.«

»Meine Herren,« sagte der Gegenredner.

Sofort wurde er über den Haufen gerannt und von der empörten Menge mit Füßen getreten. Seine unkenntlichen Reste warf man vor die Saaltür.

Noch grollte der Tumult, da stieg der Graf Eléna auf die Tribüne. Dem Geheul folgte Beifallslärm, und als es wieder stille ward, sprach der Redner die folgenden Worte:

»Kameraden, wir werden sehen, ob ihr Blut in den Adern habt. Wir müssen die Dingeriche abwürgen, ihnen Eingeweide und Hirn zerreißen.«

Diese Rede entfesselte einen Beifallsdonner, daß die alte Scheune wackelte und dicker Staub, der von den schmutzigen Mauern und den wurmstichigen Balken aufflog, die Versammlung in beizende, finstere Wolken hüllte.

Man stimmte für eine Tagesordnung, die die Regierung brandmarkte und Chatillon Beifall zollte. Und als die Menge abzog, sang sie den befreienden Hymnus: »Chatillon, den brauchen wir!«

Die alte Halle mündete nur in einen langen, kotigen Gang, der zwischen Omnibusschuppen und Kohlenspeichern eingezwängt war. Die Nacht war mondlos; kalter Nebel fiel herab. Die Polizeiwachen, die in großer Zahl zusammengezogen waren, schlossen in der Höhe der Vorstadt den Gang ab und zwangen die Drakophilen, sich in kleinen Trupps zu zerstreuen. Diesen Befehl hatte der Chef der Polizei gegeben, der die Kunst studierte, die Wucht einer rasenden Volksmenge zu brechen.

Die Drakophilen, die im Gang bleiben mußten, stampften taktgemäß und sangen dazu: »Chatillon, den brauchen wir!« Bald wurden sie über die Stockung, deren Grund sie nicht kannten, erbost und begannen, ihre Vordermänner zu puffen. Die Bewegung pflanzte sich fort und schleuderte die ersten Reihen gegen die breite Brust der Polizisten. Nun hatten diese durchaus keine Wut auf die Drakophilen, und in ihres Herzens Grund liebten sie Chatillon. Aber es ist ein menschlicher Zug, daß man dem Angriff trotzt und Gewalt mit Gewalt erwidert; die Starken bedienen sich ihrer Stärke gern. Deshalb empfingen die Polizisten die Drakophilen mit wuchtigen Tritten ihrer benagelten Stiefel. Rasch ballte sich die Masse zu Klumpen. Drohungen und Schreie mengten sich in den Gesang.

»Mörder! Mörder! .. Chatillon, den brauchen wir! Mörder! Mörder!«

Im dunklen Gang sagten die Vernünftigsten: »Nicht drängeln!« Einer beherrschte durch seinen Wuchs den erregten Haufen. Unter zertretenen Gliedmaßen und eingehauenen Rippen ragte, mit breiten Schultern und starken Lungen, sanft, unerschütterlich, ruhig in der Finsternis der Prinz Boscénos. Voll Nachsicht und Heiterkeit wartete er. Inzwischen wurde der Platz in gemessenen Abständen, zwischen den Polizeiketten, geräumt. Um den Prinzen stießen die Ellbogen weniger fest in des Nachbars Brust. Langsam schöpfte man wieder Atem.

»Sie sehen, wir kommen doch noch hinaus,« sagte der gute Riese mit sanftem Lächeln. »Ruhig Blut und warm ...«

Er nahm aus seinem Etui eine Zigarre, führte sie an seine Lippen und strich ein Zündholz an. Plötzlich sah er bei der Flamme Helligkeit die Prinzessin Anna, seine Frau, in den Armen des Grafen Eléna vorgehen. Wie er das sah, stürzte er sich auf sie und gab ihnen und den Personen unmittelbar daneben mit dem Spazierstock mächtige Hiebe. Nicht ohne Mühe entwaffnete man ihn. Doch von seinem Gegner konnte man ihn nicht trennen. Und während die Prinzessin ohnmächtig von Arm zu Arm gehoben wurde, über die bewegte, neugierige Masse hinweg bis zu ihrem Wagen, kämpften die beiden Männer einen erbitterten Kampf. Der Prinz Boscénos verlor seinen Hut, seinen Kneifer, seine Zigarre, seine Krawatte, seine Brieftasche, die mit intimer und politischer Korrespondenz gespickt war. Er verlor sogar die wundertätigen Medaillen, die ihm der Pater Cornemuse gegeben hatte. Doch seinem Feind versetzte er einen so furchtbaren Stoß, daß der Unglückliche ein Eisengitter sprengte und durch eine Glastür kopfüber in eine Kohlenhandlung fiel.

Vom Kampflärm und vom Geschrei der Leute hergelockt, warfen sich die Polizisten auf den Prinzen, der ihnen rasenden Widerstand leistete. Drei streckte er noch zuckend vor sich nieder, sieben jagte er in die Flucht, mit zerschmetterten Kinnbacken, gespaltener Lippe, mit Nasen, aus denen rote Bäche sich ergossen, mit offenem Schädel, abgerissenem Ohr, ausgerenktem Schlüsselbein, eingehauenen Rippen. Zuletzt jedoch fiel er und ward blutend, entstellt, in zerfetzten Kleidern zur nahen Polizeiwache geschleppt, wo er schäumend und brüllend übernachtete.

Bis zum Tagesanbruch durcheilten Gruppen von Demonstranten die Stadt und sangen: »Chatillon, den brauchen wir!« und zerbrachen die Fensterscheiben in den von den Ministern des Öffentlichen Dings bewohnten Häusern.


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